A. Lauser u.a. (Hrsg.): Migration und religiöse Dynamik

Titel
Migration und religiöse Dynamik. Ethnologische Religionsforschung im transnationalen Kontext


Herausgeber
Lauser, Andrea; Cordula Weissköppel
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
€ 26,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rafaela Eulberg, Religionswissenschaftliches Seminar, Universität Luzern

Die wechselseitigen Beziehungen zwischen transnationalen Kontexten und religiösen Dynamiken wurden lange Zeit sowohl von Seiten der Sozialwissenschaften als auch von der Religionswissenschaft vernachlässigt. Die erst genannte Disziplin hat zwar die Transnationalismus-Forschung hervorgebracht, jedoch dabei in der Vergangenheit meist Bezüge zum Faktor „Religion“ außer Acht gelassen. Religionswissenschaftliche Forschungen wiederum haben Migrationsprozesse und transnationale Dynamiken lange nicht den Blick genommen. Umfangreiche empirische Studien zum Wechselverhältnis „Religion –Transnationalismus“ lagen kaum vor. In den letzten Jahren hat sich dies jedoch – besonders durch ethnologische und sozialwissenschaftliche Arbeiten – geändert. (Leider wurde dieser Forschungstrend innerhalb der Religionswissenschaft bisher wenig aufgenommen.) „Interessanterweise spielt Religion", so schreiben die Herausgeberinnen in der Einleitung zum vorliegenden Band, "im transnationalen Forschungsparadigma zunehmend eine exemplarische Rolle, weil insbesondere an Diaspora-Gruppen gezeigt werden konnte und kann, welche Kontinuität (nicht nur) religiöse Herkunftsidentitäten entfalten können …“ (S. 7).

Forschungen deutschsprachiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Themenfeld stellt nun der von Andrea Lauser, Professorin für Ethnologie an der Universität Göttingen, und der Kulturwissenschafterin Dr. Cordula Weißköppel herausgegebene Sammelband „Migration und religiöse Dynamik. Ethnologische Religionsforschung im transnationalen Kontext“ vor. Basierend auf den Postulaten der Transnationalen Studien1 beleuchtet das Buch die Bedeutung von Religion für Migrantinnen und Migranten: Zehn Autorinnen und Autoren, aus den Bereichen der Ethnologie und Kulturwissenschaft präsentieren ihre auf der Basis von empirisch breit angelegter ethnologischer Religionsforschung entstanden wissenschaftlichen Ergebnisse. Gemeinsam ist den Beiträgen des Bandes ein akteurzentrierter Ansatz. Sie beinhalten alle eine zusammenfassende Präsentation der empirischen Ergebnisse und deren Einbettung in den Theorierahmen der Transnationalen Studien, was die Texte untereinander anschlussfähig macht. Obgleich die Beiträge unterschiedliche religiöse und kulturelle Kontexte thematisieren, sind sie durchweg auch für Leserinnen und Leser ohne fundierte Kenntnisse des jeweiligen regionalen Hintergrundes interessant, da sie stets exemplarisch den Theorierahmen untermauern und nicht als reine Regionalstudien zu verstehen sind. Die Texte sind sprachlich gut formuliert. Besonders lobenswert ist die Verwendung gender-fairer Sprache in den meisten Beiträgen.

Einleitend stellen die Herausgeberinnen einen Überblick über den Faktor Religion in der Migrations- und Transnationalismusforschung zusammen. Sie plädieren für eine ethnographische Mikro- und Kontextanalyse und legen den Fokus auf das prozessuale Religions-Handeln und die Bedeutung und Funktion von Religion im transnationalen Kontext. Dieser aktionszentrierte und tendenziell strukturfunktionalistische Ansatz, der Religion in erster Linie als „religioning“ 2 versteht, kann von Vertreterinnen und Vertretern anderer religionswissenschaftlicher Forschungsansätze zu Recht kritisiert werden. Im Rahmen des ethnographisch angelegten Buchprojekts wird der gewählte Ansatz jedoch von den Herausgeberinnen sinnvoll begründet.

Der Sammelband folgt zwei Leitfragen. Der erste Teil widmet sich der Frage nach den Formen religiösen Handelns zwischen Transnationalismus und Integration, der zweite religiösen Ritualen und Performanz im transnationalen Kontext. (Im Folgenden können die Inhalte der einzelnen Beiträge nur kurz zusammenfassend dargestellt werden.)

Die ersten vier Beiträge über christliche Migrantinnen und Migranten zeigen, welche Potentiale der christliche Transnationalismus für Menschen in fremd-kultureller Umgebung entfalten kann, wenn er zu Status- und Ressourcengewinn beiträgt. Im ersten Beitrag stellt Boris Nieswand zunächst in einem kurzen Überblick über die wissenschaftlich relevanten Theorien das Assimilations- und Integrationsparadigma und den später durch eine Perspektivenverschiebung entstandenen Transnationalismusansatz vor. Auf der Grundlage seiner Studien zu migranten-initiierten charismatischen Gemeinden in Berlin plädiert er abschließend für einen methodologischen anstelle eines empirischen Transnationalismus: „Unter methodologischem Transnationalismus soll ein formaler analytischer Rahmen zur empirischen Beobachtung von Prozessen multipler und simultaner Inklusion, Exklusion und Nicht-Inklusion von Migranten in verschiedene sozial-räumliche Kontexte und Institutionen innerhalb der Weltgesellschaft verstanden werden.“ (S. 47)

Christiane Falge thematisiert die Diaspora der sudanesischen Nuer in den USA. Sie weist besonders auf die Statusaufwertung hin, die sich durch die Zugehörigkeit zur lutherischen Kirche für die Migrantinnen und Migranten in den USA ergibt. Er ermöglicht es, dass die sudanesischen Christinnen und Christen in der öffentlichen Meinung tendenziell der christlich-amerikanischen Mittelklasse zugerechnet werden und die Wahrnehmung ihrer Hautfarbe und ihres afrikanischen Backgrounds in den Hintergrund tritt. (Der Einheitlichkeit halber wäre es wünschenswert gewesen, wenn auch dieser Text, wie alle anderen des Bandes, auf Deutsch erschienen wäre.) Der Beitrag der Herausgeberin Cordula Weißköppel beschäftigt sich ebenfalls mit der sudanesischen Diaspora: Sie thematisiert das transnationale Handeln von sudanesischen Kriegsflüchtlingen in einer protestantischen Kirchengemeinde in Berlin und ihre Handlungsstrategien innerhalb sozialer Netzwerke der Gemeinde. Dabei problematisiert sie den Begriff der Diaspora und legt dar, warum sie der Definition von Steven Vertovec folgt (S. 80). Innerhalb der sudanesischen community macht Cordula Weißköppel vier zentrale Formen der Vernetzungen aus, die sich nach parteipolitischer Zugehörigkeit, parteilich ungebundenem politischem Engagement, kulturellen Interessenbünden und religiöser Zugehörigkeit richten. Anschaulich belegt sie anhand der transnationalen Biographie des sudanesischen Migranten „Patrick“ transnationale Handlungsstrategien und den Status der Migrantinnen und Migranten zwischen Deterritorialisierung und Relokationalisierung.

Heike Drotbohm stellt in ihrem Beitrag „Die Madonna, ihre Hautfarbe und ihr Kleid“ die Markierung von migranteninternen Differenzlinien innerhalb der haitianischen Mission der katholischen Kirche in Montreal vor. Hier wird ein Bespiel für die Heterogenität vieler Diaspora-Gruppen gegeben. Die Autorin zeigt auf, dass Religion mitunter bedeutendes Instrumentarium für die „Artikulation von kultureller sowie sozialer und klassenspezifischer Differenz“ (S. 120) ist.

Der Beitrag zu „Santería in Deutschland“ stellt im ersten Teil des Bandes den einzigen Text dar, welcher sich nicht mit einer im Christentum beheimateten Religiosität beschäftigt. Lioba Rossbach de Olmos zeigt auf, wie Orisha-Priester auch im Exil ihren rituellen Pflichten nachkommen, diese religiöse Praxis gleichzeitig aber auch Teil ihres Lebens als professionelle Musiker im Weltmusik-Segment ist. Rossbach stellt in Frage, ob im Fall dieser afrokubanischen Religiosität von einer transkulturellen Praxis gesprochen werden kann, da die Verbindung zur Heimattradition zu stark ist. Jedoch betont sie die transnationalen Vereinbarkeitsleistungen der Musiker, die ihre religiösen Identitäten innerhalb der globalisierten Popkultur leben.

Der zweite Teil des Buches thematisiert wie religiöse Praxen über die Situierung im transnationalen Feld Aufschluss geben können: Die Herausgeberin Andrea Lauser widmet sich in ihrem eigenen Beitrag einem transnationalen Forschungsfeld, welches eines ihrer Arbeitsschwerpunkte darstellt. Ahnenverehrung und Todesritualen, als Ausdruck religiöser Vorstellungen Vietnams, werden innerhalb des transnationalen Feld untersucht. Andrea Lauser macht deutlich, dass ritueller Transnationalismus ein Prozess ist, dessen symbolische Bedeutungen stetig im Wandel begriffen sind.

Zwei Beiträge widmen sich im zweiten Teil des Buches explizit christlichen Praktiken innerhalb des transnationalen Feldes: Claudia Liebelt stellt anhand ihres Dissertationsprojekts zu philippinischen Pflegekräften in Israel heraus, dass die Philippinas ihre Arbeit im „Heiligen Land“ nicht nur als Station ihrer Wirtschaftsmigration begreifen, sondern auch als spirituellen Aufenthalt, der sie zurück auf den Philippinen zu religiösen Spezialistinnen machen kann. Pilgerausflüge innerhalb Israels sind zum einen rituell-religiöse Verpflichtungen und zum anderen Sozial- und Gemeinschaftserlebnisse der unterpriviligierten Migrantinnen. Bettina Horn-Udeze weißt in ihrem Text zur Bedeutung der pfingstlerischen Wiedergeburt im Kontext nigerianischer Migration auf Teneriffa ganz besonders auf das Leben der Migranten zwischen „agency“ and „patiency“ hin: Religiöses Identitätsmanagement erfolgt zwischen aktiver Strategiebildung und passivem Erdulden. Die Praxis des „born-again“-Rituals wird als biographischer Neubeginn und öffentliche Sichtbarmachung der moralischen Integrität verstanden.

In seinem Beitrag „Folklore und Passion: Marokkanische Hochzeiten und transnationale Öffentlichkeit“ beschreibt Martin Zillinger die Praktiken muslimischer `Aissawa-Sufis. Ihre Rituale während Hochzeitsfesten dienen der Versicherung nationaler marokkanischer Identität auch im transnationalen Raum. Diese Inszenierung nationaler Identität, der Moroccanness, dient der Revitalisierung von Netzwerken im Heimatland und in der Diaspora. So dienen beispielsweise Kameraaufnahmen der Verifikation von Authentizität innerhalb der transnationalen Netzwerke.

Maya Nadig wendet sich im letzten Beitrag des Bandes den Ritualen der Danzantes Aztecas in Mexiko zu. Dass dieser teilweise kritikwürdige Beitrag das Buch abschließt, trüb ein wenig die positive Bewertung des innovativen Sammelbandes. Unklar bleibt, wieso diese „indianische Tradition“ den „Charakter von inter- bzw. transnationalen Netzwerken“ aufweisen soll (S. 249). Die teilweise unscharfe Verwendung von Begriffen und die spekulativen Betrachtungen machen einzelne Analysen schwer nachvollziehbar. Hierzu ein Zitat aus dem Absatz zu „Das Sexuelle im Tanz“: „Das komplex rituelle Arrangement selbst wirkt einerseits wie eine erregende, stimulierende Mutter, die aber gleichzeitig das richtige Maß zu halten weiß und die als verinnerlichte und symbolisierte Instanz den Prozess begleitet ... “ (S. 267). Der gewählte ethnopsychoanalytische Ansatz der Autorin fällt innerhalb des Sammelbandes aus dem Rahmen.

Charakteristisch für das gesamte Werk ist die Verwendung des Konzepts „agency“, die selbstbestimmte Handlungsfähigkeit der Migrantinnen und Migranten. Die meisten Beiträge operieren in ihren Analysen mit diesem Terminus. Dies entspricht der Zielrichtung des Bandes, welche das komplexe Geflecht der Handlungspotentiale der Exilanten in seiner Ambivalenz aufzeigen will. Neben dem Begriff des transnationalen Handels macht der Sammelband – parallel zum Terminus „agency“– auch den Begriff der „patiency“ stark: Damit sollen auch die Erfahrungen des Leidens und des Abwartens in den Analysen sichtbar gemacht werden.3 Sehr gut gelungen ist das Aufzeigen der Heterogenität vieler Diaspora-Gruppen: Es kann in den meisten Fällen nicht von einheitlichen Diaspora-Kommunitäten gesprochen werden; differenzierte Analysen sind notwendig.

Im begrenzten Rahmen eines Sammelbandes diesen Umfangs wurden jene religiösen Traditionen in den Fokus gerückt, die als solche bereits als transnationale Organisationen konzipiert sind (im Sinne eines transnationalism from above, wie Cordula Weißköppel ihn bezeichnet, S. 78). Meist wurden christliche Traditionen unter Migrantinnen und Migranten berücksichtigt: mehr als die Hälfte der Beiträge bewegt sich innerhalb des christlichen Spektrums. Weniger differenziert wurde leider auf migrierte religiöse Traditionen eingegangen, die im Exilland keine Anbindungen an Organisationsformen einer transnationalen Institution finden können – wie beispielsweise Hindu-Traditionen im Westen. Eine Erweiterung der Perspektive in diese Richtung wäre wünschenswert gewesen. Als positiv hervorzuheben ist die exakte und wohlüberlegte Verwendung des Begriffsinstrumentariums in den meisten Beiträgen. So weist beispielsweise Cordula Weißköppel darauf hin, dass sie den Begriff „Ressource“, obgleich er umstritten ist, als hilfreiches Analyseinstrumentarium verwendet und als treffender als den Bourdieu’schen Begriff des „Kapital“ ansieht (S. 92). Anregend ist auch der innovative Gebrauch wissenschaftlicher Neologismen wie beispielsweise des Terminus „illegalisiert“ anstatt „illegal“ (S. 174).

Es ist den Herausgeberinnen hoch anzurechnen, mit der Zusammenstellung der Beiträge des Bandes nicht nur eine transnationale Forschungsperspektive, die auch den Faktor Religion berücksichtigt, stark zu machen, sondern auch Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern die Möglichkeit gegeben zu haben, ihre bemerkenswerten Forschungen einem breiten Publikum präsentieren zu können. Der Band ist richtungweisend für zukünftige Studien in diesem Bereich.

Anmerkungen:
1 Peggy Levitt / Sanjeev Khangram, The Transnational Studies Reader: Intersections and Innovations. New York 2008.
2 Malory Nye, Religion is Religioning? Anthropology and the Cultural Study of Religion, in: Scottish Journal of Religious Studies 20/2 (2000), S. 193-234.
3 Burkhard Schnepel, „In sleep a king...“: the politics of dreaming in a cross-cultural perspective, in: Paideuma 51 (2005), S. 209-220.

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