S. Paletschek: Die permanente Erfindung

Titel
Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik


Autor(en)
Paletschek, Sylvia
Reihe
Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 53
Erschienen
Stuttgart 2001: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
608 S.
Preis
€ 100.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Prof. Dr. Gangolf Hübinger, Vergleichende Kulturgeschichte, Kulturwissenschaftliche Fakultät der Europa-Universität Frankfurt/O.

Die klassische Universität, sie ist schon lange nicht mehr. Aber sie sei auch niemals das gewesen, was ihr die Universitätsgeschichtsschreibung regelmäßig zugeschrieben hat. Mit Humboldtrhetorik, Preußenzentrierung und dem bildungspolitischen Dauerbrenner „Idee der Universität“ aufzuräumen, ist Sylvia Paletschek in ihrer Tübinger Habilitationsschrift angetreten. Humboldt mit seinen vermeintlichen Gründungsideen des forschenden Lernens und der ganzheitlichen Wissensbildung sei das ganze 19. Jahrhundert hindurch zumindest in Württemberg unerwähnt geblieben. Erst die um 1900 einsetzende Krisenreflexion der Geisteswissenschaften habe ihn nutzbar gemacht und so das Reformbild einer Universität erfunden. „Traditionskonstruktionen“, und seien sie noch so philosophisch begründet wie die berühmte Ringvorlesung zur 600-Jahrfeier der Universität Heidelberg mit Hans Georg Gadamer 1, verdeckten allesamt die „Realgestalt“ dieser tertiären Bildungs- und Ausbildungsinstitution und seien deshalb durch eine sozialhistorische Erhebung der tatsächlichen Universitätsstruktur zu „dekonstruieren“ (S.10).

Tübingen, zwar nicht so imposant wie Berlin, Leipzig oder München, aber als „mittlere“ Institution durchaus exemplarisch für die gesamtdeutsche Entwicklung, wird nach diesen Vorgaben für den als „klassisch“ geltenden Zeitraum zwischen 1870 und 1933 untersucht. Als klassisch gilt weniger die politische Periodisierung zwischen Reichseinigung und nationalsozialistischer Gleichschaltung als die wissenschaftliche Einordnung zwischen der Transformation von der Ausbildungs- zur Forschungsstätte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und der Überfüllungskrise der 1930er Jahre. Überfüllungskrisen erscheinen als Vorboten der Massenuniversität, die seit den 1960er Jahren einen definitiv neuen Typus darstellt. Paletschek präsentiert sozusagen den historischen Vorgänger unseres jetzigen universitären Problemkindes der Unterfinanzierung und Nachwuchsexperimente, und das mit vielen Abgrenzungen und Subtexten gleichermaßen.

Tübingen war die deutsche Universität mit einer früh schon differenzierten Zahl an Fakultäten. Zwei Eigenheiten begleiteten die Entwicklung. Da sie die einzige Landesuniversität war, fehlte eine innerstaatliche Fluktuation des Personals, das schlug sich auf die Nachwuchschancen nieder. Und als dominierender Faktor einer wenig industrialisierten Kleinstadt bestimmte sie die urbane Geselligkeit und knüpfte die sozialen Netzwerke. Ersteres, die Struktur des Lehrkörpers, steht im Zentrum der Untersuchung, wobei die nationale Gesamtentwicklung stets im Blick behalten wird (Kapitel V). Letzteres, die soziokulturellen Kommunikationsmuster, wird eher nachgeordnet thematisiert (Kapitel II, teilweise Kapitel VIII). Ihre Vorgehensweise bezeichnet Sylvia Paletschek als „eine sozial- und partiell kulturgeschichtliche Institutionengeschichte“ in einer Kombination aus „quantifizierenden mit hermeneutisch-historistischen Methoden“ (S.14). Sieben Themen- und Problemfelder unterzieht sie damit einer systematischen Analyse.

Die Studie setzt ein mit dem kontinuierlichen Expandieren der universitären Einrichtungen in den kleinstädtischen Raum hinein. Mit dem anschließenden Kapitel über die „Frequenzentwicklung und deren Folgen“ ist die Gruppe angesprochen, für die die Institution hauptsächlich errichtet wurde, die Studenten und (ab 1904) Studentinnen. Die Bürokratisierung der universitären Selbstverwaltung stellt wie für alle staatlichen Einrichtungen im Industriezeitalter ein eigenes Kapitel dar. Soziale Herkunft und Karrieremuster der Hochschullehrer werden unter dem Stichwort „Verlaufbahnungsstufen“ ausführlich behandelt. Eine eigene Dynamik kennzeichnet den Ausbau der Fakultäten und den Streit um die Einrichtung neuer Disziplinen und Institute. Als besonders innovativ kann das Kapitel über die Veränderungen im alltäglichen Lehrbetrieb angesehen werden. Schließlich und mit vielen Ausrufezeichen wird die Finanzierung der Universität beschrieben; dieses Kapitel berücksichtigt auch die Erwartungen, die Politik und Gesellschaft an die aus Steuermitteln gespeiste Einrichtung zur Reproduktion ihrer Eliten jeweils richten. Die diesen Komplexen zugrunde liegenden 42 Tabellen mit den signifikanten statistischen Daten geben der Studie zugleich den Charakter eines verläßlichen Handbuchs. Hier werden Maßstäbe gesetzt für künftige Universitätsgeschichten. Hilfreich Verfremdendes für alle Teilnehmer an hochschulpolitischen Debatten hat der Blick auf die Eckdaten dieses historischen Universitätstypus. Zwischen 1870 und 1933 wuchsen die Studentenzahlen von 834 (1904: 3 Studentinnen) auf 3429 (451 Studentinnen) an. Die etabliertesten Fächer profitierten davon am wenigsten. Die Evangelische Theologie sank von 35,1% auf 23,6%, die Katholische Theologie von 12,8% auf 5,4%. Die Zahl der Jurastudenten stieg von 10,8% auf 14%, die der Mediziner von 22,8% auf 30,3%. Deutlicher wuchs die Philosophische Fakultät von 5,2% auf 13,3% die naturwisssenschaftliche Fakultät stieg von 6,6% auf 9,2% an. Die Zahl der Professoren stieg in diesem Zeitraum von 57 auf insgesamt 82. Das gute Abschneiden der Geisteswissenschaftler mit 16 gegenüber ursprünglich 9 Professuren, das im gegenwärtigen Stellenstreit um die „Lebenswissenschaften“ als spezifische Tübinger Tradition ins Spiel gebracht wird, deutet Paletschek als Tribut an den nationalkonservativen Zeitgeist nach dem Ersten Weltkrieg und die ideologische Profilierung der Universität.

Politische Kontexte dieser Art gehören aber bereits zu den nachrangigen Fragestellungen. Im Zentrum stehen die Mechanismen des inneren Wandels angesichts der dreifachen Aufgabenstellung der Universität unter den Bedingungen eines „Riesenbetriebes“: Bildung, Ausbildung, Forschung. Die fachspezifische Ausbildung dominiert schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts die akademische Allgemeinbildung, die Lehre ihrerseits wird um 1900 immer stärker unter den Primat der „Forschungsorientierung“ (S.515) gestellt. Sichtbares Zeichen dafür und für die Erhöhung der wissenschaftlichen Qualifikationspraxis ist die zwischen 1880 und 1900 eingeführte schriftliche Habilitation mit ihrem folgenreichen Gewicht für die Zugangschancen der Privatdozenten. Die Akenzentverlagerung auf den Forschungsprimat zieht aber auch eine Nivellierung der sozialen und konfessionellen Ständeschranken nach sich. Die begleitende Bürokratisierung wiederum führt zu einer „Feminisierung“, wenngleich erst einmal des nichtwissenschaftlichen Dienstes.

Das Verhältnis von Universität, Staat und Gesellschaft sieht Sylvia Paletschek in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis beruhen. Auch für Tübingen gilt, daß Gremien der universitären Selbstregierung eher korporativ und konservativ abwehrend gegen Innovationen agieren. Vom Nutzen der Augenheilkunde als eigenem Institut mußte die medizinische Fakultät erst mühsam überzeugt werden. Selbstverständlich trägt Paletschek dem Rechnung, daß sich eine Universität nicht auf Dauer abschotten kann, vielmehr als öffentliche Institution den „Zeitgeist und die politisch-gesellschaftliche Entwicklung“ einfängt. Das erfordert den doppelten historisch-analytischen Blick sowohl auf das innere „Skelett“ als auch auf die äußeren Ideen und Erwartungen. In den Debatten um neue Wege und Konfigurationen der Sozial- und Kulturgeschichte plädiert Sylvia Paletschek dazu aber entschieden für einen engen Institutionenbegriff. Institutionen als „symbolische Ordnungen“, wie sie etwa der Dresdner Sonderforschungsbereich über „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ versteht 2, würden in einer solchen Erweiterung den geschichtstheoretisch konstitutiven Gegensatz von „verdeckter“ historischer „Realgestalt“ und „erfundener Tradition“ entschärfen. In der Konsequenz werden die Spuren des traditionsstiftenden und traditionsvernichtenden „Zeitgeistes“ in dieser Arbeit weniger gründlich verfolgt. „Asymmetrien“ zwischen Problementwicklung und Disziplinentwicklung 3 sind wie im vieldiskutierten Fall der „Soziologie“ nur beiläufig erwähnt. Warum führte Tübingen im Gegensatz zu vielen anderen Universitäten keinen Lehrstuhl ein, dessen Bezeichnung auch die „Soziologie“ beinhaltete, und ging nicht diesen Weg der Verwissenschaftlichung sozialer Selbstbeschreibung? Beziehungsweise, artikulierte sich der Wunsch danach lediglich als „neoidealistische Forderungen nach einer organischen Ganzheit“ (S.534)? Der Nationalökonom Robert Wilbrandt deckte diesen Bereich nach dem Ersten Weltkrieg mit ab, fühlte sich aber in der „kleinstädtischen Enge“ (S.343) zu wenig wohl und folgte 1925 einem Ruf nach Dresden.

Die Aufgabe des Geschichtsschreibers liegt in der distanzierend klaren Perspektive gerade auf solche Institutionen, die der Gegenwart problematisch geworden sind. Das ist in der hier vorliegenden Studie hervorragend gelungen. Durch die Abgrenzung gegenüber der Universität heutigen Typs stechen die Subtexte hervor, die Diskurse über Aufgabenstellung und Geltungsansprüche, Leistungserwartung, Geldmangel oder Verwaltungsherrschaft (S.535). Wie schwer es auch sein mag, dazu „Realgestalt“ und „Idee der Universität“ auseinanderzuhalten.

Anmerkungen:
1 Die Idee der Universität. Versuch einer Standortbestimmung, von Manfred Eigen, Hans-Georg Gadamer, Jürgen Habermas, Wolf Lepenies, Hermann Lübbe, Klaus Michael Meyer-Abich, Berlin 1988.
2 „Das Institutionelle an einer Ordnung ist die symbolische Darstellung ihrer Prinzipien und Geltungsansprüche“, in: „Institutionalität und Geschichtlichkeit“. Ein neuer Sonderforschungsbereich stellt sich vor, Technische Universität Dresden 1997, S.16.
3 Wolf Lepenies: Wissenschaftsgeschichte und Disziplingeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978), S. 437 - 451.

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