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Titel
Künstler und ihre Brüder. Maler, Bildhauer und Architekten in den venezianischen Scuole Grandi (bis ca. 1600)


Autor(en)
Köster, Gabriele
Reihe
Berliner Schriften zur Kunst 22
Erschienen
Anzahl Seiten
641 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Frank, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Ziel dieser kunsthistorischen Dissertation ist es, die Beziehungen der Venezianer Künstler zu den sechs wichtigsten Bruderschaften der Stadt, den so genannten Scuole Grandi, zwischen dem späten 14. und dem frühen 17. Jahrhundert umfassend zu rekonstruieren. Dies erfordert die Durchsicht von Dutzenden von Matrikeln, Protokoll- und Rechnungsbüchern, die sich in den reichen Archiven der Scuole erhalten haben. Die Texte sind größtenteils in venezianischem Dialekt verfasst, somit sprachlich kaum normalisiert und daher alles andere als leicht zu lesen. Nicht dass der älteren kunstgeschichtlichen Forschung die Bedeutung der Venezianer Bruderschaftsquellen für die Biografie einzelner Künstlerpersönlichkeiten entgangen wäre; doch der Mühe, sie für einen längeren Zeitraum systematisch auszuwerten, hat sich bisher noch niemand unterzogen.

Die Eigenart des Quellenmaterials legt eine prosopografische Herangehensweise nahe. Grundlage des Buches ist ein Anhang mit insgesamt 1372 alphabetisch geordneten Personenartikeln (S. 357-572), die in einem Umfang von wenigen Zeilen bis mehreren Spalten alles dokumentieren, was die erfassten Künstler mit den Scuole Grandi verband. Dass sie der Begriff „Künstler“ wegen der noch fehlenden Differenzierung zwischen Künstlern im modernen Sinn und Handwerkern vor schwer lösbare Eingrenzungsprobleme stellt, räumt Köster in der Einleitung (S. 26) ein. Sie legt deshalb ein engmaschiges Netz aus und nimmt in ihre Mustergruppe alle Personen auf, für welche die Berufsbezeichnungen „pentor“ und Ähnliches (Maler, Miniaturmaler, Zeichner, aber auch Vorhangmaler und Anstreicher), „intagliator“ (Bildschnitzer, Steinschneider), „tagliapietra“ (Bildhauer, Steinmetz, aber auch Architekt) und „murero“ (Maurer, aber auch Baumeister und Architekt) belegt sind. Das Buch gebraucht den Begriff ‚Künstler’ in diesem umfassenden Sinn, schließt jedoch ‚kunsthandwerkliche’ Berufe wie Goldschmied in der Regel aus. Die schiere Größe dieses Korpus führt zwangsläufig dazu, dass von der Mehrheit der erfassten Personen kaum mehr als ihre zeitweilige Präsenz in einer der Scuole Grandi festzustellen ist; nur einer geringen Zahl sind Werke zuzuweisen, und nur ganz wenige Persönlichkeiten eignen sich zu kunsthistorischen Erörterungen im engeren Sinn. Dementsprechend bietet das Buch nur zwei ausführliche (und einige wenige kürzere) Bildanalysen: eine zu Tizians für die Scuola Grande di S. Maria della Carità geschaffenem „Tempelgang Mariens“ (S. 157-167), die andere zu Tintorettos „Großer Kreuzigung“ in der Scuola Grande di S. Rocco (S. 337-355). Diese sorgfältig argumentierenden bildbezogenen Passagen leiden unter der mageren Qualität und geringen Größe fast aller Abbildungen.

Doch da es Köster darum geht, einen „Beitrag zu einer Sozialgeschichte des Künstlers“ (S. 26) zu leisten, ist es gerechtfertigt, vor allem den historischen Aspekten Aufmerksamkeit zu widmen. Einschlägig ist hierfür vor allem das erste und längste der drei Hauptkapitel (Stadt und Bruderschaft, S. 27-174), teils auch das zweite (Kunstpolitik, S. 175-304), während das dritte (Städtische Repräsentation und bürgerliche Identität, S. 305-355) sich stärker auf genuin kunsthistorische Probleme konzentriert. Die Benutzung neuerer geschichtswissenschaftlicher Arbeiten über Bruderschaften ist zwar als selektiv zu bezeichnen, reicht für den angestrebten Zweck jedoch aus: Die Autorin entnimmt der Bruderschaftsforschung eine Reihe von Fragestellungen, die neue Aufschlüsse über den Venezianer Kunstbetrieb versprechen.

Die erste dieser Fragestellungen betrifft die Sozialgeschichte der Scuole Grandi und die Rolle der Künstler als einfache Mitbrüder oder Vorstandsmitglieder. Köster beschreibt zunächst die starke soziale Binnendifferenzierung der Scuole Grandi, die in Venedig quasi öffentlichen Charakter hatten. Die Abgleichung ihrer prosopografischen Daten mit der Sozialstruktur der Scuole ergibt, dass die namentlich bekannten Künstler meist zur mittleren Gruppe der Bruderschaftsangehörigen zählten, aber relativ selten zu den Spitzenämtern vorstießen, die der reichen Bürgerelite vorbehalten waren. Dass manche Maler dennoch an ein Spitzenamt kamen, zeigt, dass auch in Venedig die soziale Stellung nicht rigoros an die – über den Beruf und die Zunftpflicht definierte – Standeszugehörigkeit gebunden war, sondern ein Aufstieg in die Bürgerelite möglich war. Ein Problem liegt hier in der Darstellung der aus den Künstlerprosopografien im Anhang erhobenen Befunde. Eine Straffung wäre wünschenswert und hätte erreicht werden können, wenn die wichtigsten Beobachtungen grafisch umgesetzt und im Text durch eine begrenzte Anzahl signifikanter Beispiele erläutert worden wären.

Ein zweiter Aspekt ist die Vernetzung der Künstler untereinander und mit ihrem sozialen Umfeld. Um diesem Lebenselixier des vormodernen Kunstbetriebs auf die Schliche zu kommen, sind die Venezianer Scuole Grandi ein idealer Beobachtungsposten, und hier liegt ohne Zweifel eine der Stärken des Buches. Köster erkennt in den verwandtschaftlichen und mehr noch den freundschaftlichen Verflechtungen, die sich aus den Bruderschaftsquellen rekonstruieren lassen (S. 86-110), nicht nur ein Mittel für die Künstler, sich sozialen Kredit zu verschaffen. Sie weist an späterer Stelle (S. 186ff.) sogar einen systematischen Zusammenhang zwischen Mitgliedschaft eines Künstlers in einer Scuola Grande und Vergabe eines Auftrags an den Künstler durch die Bruderschaft nach. Die Einsicht in die Systemhaftigkeit eines Phänomens birgt allerdings die Gefahr von Zirkelschlüssen. Die Autorin ist sich dessen bewusst und geht mit der gebotenen Vorsicht zu Werke. Das führt auf der anderen Seite dazu, dass sie sich auf die sicher bezeugten Fälle zurückzieht und dass die Beispiele, auf denen die chronologisch gegliederte Untersuchung der Auftragsvergabe durch die Scuole Grandi basiert (S. 175-304), sich mehr und mehr auf die wenigen bekannten Maler konzentrieren: auf die Familie Bellini, Tizian, Jacopo und Domenico Tintoretto und wenige andere. Der Rest, das heißt die Masse der im Anhang verzeichneten Personen, über die nur hypothetische oder gar keine Aussagen möglich sind, spielt in diesen Teilen der Arbeit kaum eine Rolle: Auftragsabwicklung und „Kunstpolitik“ waren eben das Terrain der Bruderschaftseliten.

Ein dritter Aspekt bezieht sich auf die zentralen religiösen Funktionen der Scuole Grandi, die Vorsorge für das Seelenheil und die Fürsorge für bedürftige Mitglieder. Auch auf diese klassischen bruderschaftlichen Funktionen fällt aus der Perspektive von Kösters Mustergruppe neues Licht. Im Kapitel zur Jenseitsvorsorge (S. 111-140) werden vor allem Stiftungen von Künstlern an ihre Bruderschaften untersucht. Einzelne Fälle, zum Beispiel der des Malers Iacobello del Fiore (†
1439), sind gut bezeugt, können indes nicht über den Eindruck hinwegtäuschen, dass die Zahl solcher Stiftungen insgesamt nicht sehr hoch war und im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts noch zurückging. Gewichten lässt sich dieser Eindruck nicht, denn da einerseits vergleichende Sondierungen in der riesigen Venezianer Testamentüberlieferung nicht zu leisten waren und Köster andererseits den rechtlichen Rahmen der Testiertätigkeit nicht thematisiert, fehlt die Möglichkeit zur Kontextualisierung.

Für den Sozialhistoriker lohnender ist das Kapitel über die Armenfürsorge (S. 141-174). Die Scuole Grandi standen ihren zahlreichen bedürftigen Mitgliedern, unter denen immer wieder auch Künstler zu finden sind, mit allerlei Hilfen bei. Dies war, neben der Sorge für das Seelenheil aller Brüder, ihre Kernfunktion und zugleich ein Argument, das sich gegen allzu hohe Ausgaben für die künstlerische Ausstattung der Bruderschaftshäuser vorbringen ließ. Ein besonders gut dokumentiertes Feld der Wohltätigkeit, für das große Summen eingesetzt wurden, ist die Vergabe von Mitgiften an junge Mädchen. Das Buch zeigt mithilfe ausgedehnter Zitate aus den Bruderschaftsakten genau, wie Künstler durch gute Kontakte zum Vorstand der Scuole von dieser speziellen Form der Caritas profitierten, wie sie ihrerseits durch Stiftungen oder Mitarbeit im Vorstand zu ihr beitrugen und wie sie das fromme Werk durch bildliche Darstellung (Tizians „Tempelgang Mariens“) der Öffentlichkeit nahe brachten. Diese Ergebnisse sind auch für die historische Bruderschaftsforschung ein Gewinn.

Gabriele Köster hat eine materialreiche Studie an der Schwelle zwischen Kunst-, Sozial- und Stadtgeschichte geschrieben, die durch systematische Auswertung eines großen, aber homogenen Quellenbestands eine Reihe neuer Erkenntnisse über Bruderschaften auch jenseits des kunsthistorischen Horizonts bietet. Schade ist nur, dass die zahlreichen Einzelergebnisse des Buches sich am Ende verflüchtigen bzw. im Mare magnum der Personenartikel im Anhang verlieren, weil eine Zusammenfassung fehlt. Gerade eine prosopografisch vorgehende Untersuchung schuldet dem Leser ein Resümee, das sich über die Fülle der Einzelbeispiele erhebt und die roten Fäden noch einmal aufgreift.

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