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Titel
NS-Zwangslager in Westdeutschland, Frankreich und den Niederlanden. Geschichte und Erinnerung


Herausgeber
Doerry, Janine; Klei, Alexandra; Thalhofer, Elisabeth; Wilke, Karsten
Erschienen
Paderborn 2008: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
252 S., 23 SW-Abb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claus Kröger, SFB 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“, Universität Bielefeld

Es bestehe „ein großer Mangel an Kenntnissen sowohl über das System der nationalsozialistischen Lager als auch über die Anzahl der Lager bzw. Typen von Lagern. Genaue Untersuchungen [...] gibt es innerhalb der bundesrepublikanischen Forschung [...] immer noch nicht.“1 So ernüchternd fiel das Resümee über den Forschungsstand im Jahr 1990 aus. Zwei Dekaden später hat sich dies deutlich gewandelt. Eine neunbändige „Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“ liegt seit Herbst 2009 vollständig vor.2 Daneben haben in den vergangenen Jahren etliche Einzelstudien die Expansion des nationalsozialistischen Lagersystems während des Krieges sowie die Verflechtungen zwischen Konzentrationslagern und Umgebungsgesellschaft deutlich herausgearbeitet.3 Jüngeren Wissenschaftlern bietet der seit 1994 jährlich stattfindende „Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager“ ein wichtiges, interdisziplinär angelegtes Forum, aus dem bereits ein halbes Dutzend Sammelbände hervorgegangen ist.

Der neueste, auf den Referaten und Diskussionen des 13. Workshops im November 2006 basierende Band thematisiert „NS-Zwangslager in Westdeutschland, Frankreich und den Niederlanden“. Die 15 Beiträge sind überwiegend aus noch laufenden Dissertationsprojekten hervorgegangen. Sie referieren erste Ergebnisse und diskutieren theoretische Perspektiven sowie methodische Fragen.

Der Sammelband gliedert sich in drei Sektionen. Der erste Abschnitt „Geschichte und Sozialstruktur“ versammelt fünf recht verschiedene Aufsätze. Gleich zwei Beiträge widmen sich den französischen KZ-Häftlingen: Arnaud Boulligny befasst sich mit jenen Franzosen, die, überwiegend im Status von Zivilarbeitern, innerhalb des deutschen Reichsgebietes verhaftet und anschließend in ein KZ überstellt worden waren. Vanina Brière untersucht die Gruppe der französischen Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald. Beide Aufsätze fragen nach dem soziologischen Profil der Häftlinge, den Haftgründen und dem Haftverlauf, den Bedingungen für das Überleben sowie den Sterberaten. So hat Boulligny ermittelt, dass etwas mehr als ein Drittel der Personen seiner Untersuchungsgruppe in der KZ-Haft starb, wobei die Todesrate je nach Lagertyp zwischen 11 und 57 Prozent variierte.

In ihrem Beitrag zu den niederländischen Aufseherinnen im Konzentrationslager Herzogenbusch (Kamp Vught) arbeitet Marieke Meeuwenoord heraus, dass es sich bei ihnen um durchschnittliche junge Frauen ohne besondere ideologische Dispositionen oder Gewaltneigungen gehandelt habe. Ein starkes Motiv, sich als KZ-Aufseherin zu verdingen, war die relativ gute Bezahlung. Cédric Neveu befasst sich mit dem Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck, einer von der Forschung bislang vernachlässigten Haftstätte. Neveu macht deutlich, dass der Ort als Schutzhaft-, Arbeitserziehungs- und Durchgangslager mehrere Funktionen parallel erfüllte, vor allem aber als Repressionsinstrument im Zuge der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik im Elsass diente.

Mit dem KZ Natzweiler, dem SS-Sonderlager Hinzert und dem Erweiterten Polizeigefängnis Neue Bremm lenken Elisabeth Thalhofer und Karsten Wilke den Blick auf drei Zwangslager in der deutsch-französischen Grenzregion. Sie verdeutlichen anhand dieser Beispiele, dass es während des Nationalsozialismus nicht nur zu einer Expansion des von der SS zentral gelenkten KZ-Systems kam. Vielmehr entstanden mit den Arbeitserziehungslagern und den Erweiterten Polizeigefängnissen Haftstätten, die allein der Aufsicht der regionalen Gestapo unterstanden und damit den Monopolanspruch der SS unterminierten. Ob dieser Machtzuwachs, den die regionalen Staatspolizeistellen vor allem seit der zweiten Kriegshälfte erfuhren, aber ein „Indiz für die einsetzenden Zerfalls- und Auflösungserscheinungen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems“ ist (S. 90), müsste noch weiter diskutiert werden. Denn damit ist zugleich eine Grundfrage der Forschungen zum Nationalsozialismus berührt: Waren die polykratischen Strukturen der nationalsozialistischen Herrschaft Ausdruck einer gewissen Schwäche, oder wirkten sie nicht eher systemstabilisierend?

Saul Friedländer hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass sich eine angemessene Geschichte des Holocaust und der gesamten NS-Herrschaft nur schreiben lasse, wenn man die Stimmen der Verfolgten und Ermordeten nicht überhöre.4 Unausgesprochen folgen die vier Beiträge des zweiten Abschnitts „Selbstzeugnisse als Quellen“ dieser Maxime. Dort stehen zwei bislang wenig beachtete Quellengattungen und die damit verbundenen methodischen Fragen im Mittelpunkt. Die Aufsätze von Dominique Schröder, Kathrin Meß und Eva M. Moraal befassen sich mit Tagebuchaufzeichnungen, die Häftlinge im Konzentrationslager angefertigt haben. Anhand eines in Ravensbrück entstandenen Tagebuchs zeigt Meß, wie schwer es der Schreiberin fiel, sich angesichts der desolaten Rahmenbedingungen eine individuelle Sprache zu bewahren. Letztlich waren die Häftlinge gezwungen, sich nicht nur der Gewalt der SS, sondern auch deren Sprache weitgehend zu fügen. Dominique Schröder setzt ähnlich an, geht aber über die in der NS-Forschung übliche Nutzung von Ego-Dokumenten deutlich hinaus: Sie analysiert Tagebücher von Häftlingen aus Bergen-Belsen als sprachpragmatische Texte, zieht Rückschlüsse auf Motivationen wie Funktionen des Schreibens und nähert sich so dem Lageralltag aus einem neuen Blickwinkel. Christiane Heß wendet sich schließlich einer weiteren Quellensorte zu. Sie untersucht Häftlingszeichnungen aus dem KZ Neuengamme und fragt nach den darin enthaltenen Modi des Verarbeitens und Erinnerns. Die beiden letztgenannten Beiträge sind offenbar in frühen Phasen der jeweiligen Dissertationsprojekte verfasst worden; sie bieten in erster Linie Forschungskonzepte. Diese allerdings klingen so vielversprechend, dass man hofft, bald mehr darüber erfahren zu können.

Am heterogensten fällt der dritte Abschnitt „Formen und Orte des Erinnerns“ aus. Der betrachtete Zeitraum reicht von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis heute. Neben regional oder auch nur lokal bedeutsamen Erinnerungsorten werden nationale Denkmäler einbezogen. Claudia Nickel analysiert die höchst komplexe Erinnerungskonstellation im Hinblick auf die südfranzösischen Lager. Diese dienten zur Zeit der französischen III. Republik der Internierung von Flüchtlingen aus Francos Spanien und aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Zur Zeit der Vichy-Regierung wandelten sich diese Internierungsstätten unter dem Druck des Deutschen Reichs zu Durchgangslagern in die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager. Während die Internierungen und Deportationen der Vichy-Ära nach und nach Eingang in die französische Erinnerungskultur fanden, gilt dies für die Internierungen der III. Republik bis heute nur rudimentär. Lange Zeit sorgten lediglich literarische Texte dafür, dass diese Ereignisse nicht völlig vergessen wurden. Auch wenn der Beitrag thematisch ein wenig aus dem Rahmen des Sammelbandes fällt, liest man Nickels Plädoyer, literarische Werke als Medien der Erinnerungskultur ernstzunehmen, mit Gewinn.

Die schwierigen Anfänge der deutschen Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen thematisieren Dorothee Wein und Martina Staats. Am Beispiel der Umbettung jüdischer KZ-Häftlinge des Außenlagers im württembergischen Hailfingen im Sommer 1945 arbeitet Wein heraus, dass die von der französischen Besatzungsmacht forcierte Konfrontation mit den Verbrechen bei der Bevölkerung von Hailfingen zu einer abermaligen Exklusion der NS-Opfer führte. Ähnliches zeigt Staats für Bergen-Belsen: Bis Ende der 1950er-Jahre war die bundesdeutsche Gesellschaft nur um den Preis einer Relativierung von Schuld und Verantwortung überhaupt bereit, sich mit dem in Bergen-Belsen Geschehenen auseinanderzusetzen.

Wie schon der Beitrag von Thalhofer und Wilke rückt auch der Aufsatz von Janine Doerry und Alexandra Klei die Orte Hinzert, Natzweiler und Neue Bremm in den Fokus – nun aber mit Blick auf die dort verwirklichten Gedenkstätten. In allen drei Fällen gaben ehemalige Häftlinge den Anstoß zur Errichtung der Gedenkstätte, in allen drei Orten tritt heute neben das Gedenken die Informationsvermittlung, und in allen drei Orten lassen sich schließlich Merkmale unterschiedlicher Erinnerungsepochen finden. Meist stehen diese aber eher unvermittelt nebeneinander. Anders in der 2004 abgeschlossenen Neukonzeption der Gedenkstätte Neue Bremm: Dort nimmt man die Differenz zwischen Gestern und Heute zum Ausgangspunkt einer künstlerischen Auseinandersetzung mit den Rudimenten der verschiedenen Erinnerungen und thematisiert den Wandel des Gedenkens selbst.

Der Sammelband gestattet eine Fülle von Einblicken in aktuelle Forschungsprojekte und verdeutlicht, wie fruchtbar sich geschichtswissenschaftliche Zugänge mit literaturwissenschaftlichen, kunst- und architekturhistorischen Ansätzen ergänzen können.

Anmerkungen:
1 Gudrun Schwarz, Die nationalsozialistischen Lager, Frankfurt am Main 1996 (zuerst 1990), S. 9.
2 Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 9 Bde., München 2005–2009.
3 Vgl. z.B. Jens-Christian Wagner, Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Göttingen 2001; Karola Fings, Krieg, Gesellschaft und KZ. Himmlers SS-Baubrigaden, Paderborn 2005.
4 Vgl. zuletzt Saul Friedländer, Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen 2007.

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