S. Wahnich u.a. (Hrsg.): Politics of Collective Memory

Cover
Titel
Politics of Collective Memory. Cultural Patterns of Commemorative Practices in Post-War Europe


Herausgeber
Wahnich, Sophie; Lášticová, Barbara; Findor, Andrej
Reihe
Cultural Patterns of Politics 1
Erschienen
Wien 2008: LIT Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Regina Fritz, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Fragestellungen finden nach wie vor große Aufmerksamkeit, wobei immer stärker auch die postsozialistischen Staaten und deren Versuche einer (Re-)Konstruktion nationaler Identitäten bzw. deren Umgang mit ihren diktatorischen Vergangenheiten in den Fokus der Wissenschaft geraten. In den letzten Jahren hat die Forschung zunehmend komparatistische Perspektiven eingenommen sowie nach dem Einfluss europäischer und globaler Prozesse auf die nationalen Geschichtspolitiken gefragt. Mit dem Sammelband „Politics of Collective Memory“ setzen die Herausgeber Sophie Wahnich, Barbara Lášticová und Andrej Findor ebenfalls an dieser Stelle an und legen erste Ergebnisse aus dem EU-Projekt „Cultural Patterns of the European Enlargement Process“ vor (CULTPAT, 2003–2006).

Der Band, welcher aus einer Zusammenarbeit von österreichischen, bulgarischen, französischen, ungarischen, slowakischen und schweizerischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen hervorgegangen ist, wirft einen vergleichenden Blick auf die öffentliche Erinnerung an Holocaust, Nationalsozialismus und Kommunismus seit der politischen Wende 1989/90 und untersucht die Instrumentalisierung von Geschichte innerhalb eines wachsenden Europas. Die Autoren gehen nicht von einer gemeinsamen europäischen Erinnerung aus, sondern verweisen auf Vielfältiges, Gegensätzliches und Konflikthaftes.

Um die Vielfältigkeiten, aber auch die Gemeinsamkeiten zu verdeutlichen, werden in den Beiträgen Museen, historische Monumente, öffentliche Räume und Gebäude, Feiertage und staatliche Symbole in verschiedenen europäischen Ländern untersucht. Doch nicht nur die öffentliche Geschichtspolitik wird betrachtet; auch der gesellschaftliche Drang nach Erinnerung und Geschichte sowie die Abweichungen zwischen populären und staatlichen Erinnerungsinhalten werden berücksichtigt.

Die ersten drei Beiträge von Régine Robin-Maire, Sophie Wahnich und Heidemarie Uhl setzen sich mit der zunehmenden Bedeutung von nationalen Opfernarrativen in den europäischen Staaten auseinander, in deren Zusammenhang Täter tendenziell immer stärker als Kriegsopfer erscheinen. Während Robin-Maire danach fragt, aus welchen Gründen traumatisierende Vergangenheiten reaktualisiert werden, stellt Wahnich die verstärkt zu beobachtenden nationalen Opfernarrative am Beispiel von historischen Museen in Frankreich, England, Deutschland und Ungarn dar. Dabei zeigt sie auf, wie sich Narrative zunehmend auf die Opferperspektive beschränken und Verantwortlichkeiten ausblenden. Uhl geht es schließlich um die Funktion einer kritischen Gedächtnistheorie bei der Untersuchung dieser Prozesse: „It is the task of critical memory theory to investigate and deal with questions as to which narrations are excluded in this process and, hence, as to which political, ethnic, social and religious groups have been barred from ,collective memory’ knowledge.“ (S. 63)

Im zweiten Teil wenden sich die Beiträge von Peter Stachel und Leila Hadj-Abdou/Karin Liebhart der Frage zu, was angesichts der zunehmenden Opfernarrative mit den Heldenfiguren passiert. Dieser Frage nähern sich die Autoren aus zwei unterschiedlichen Richtungen. Während sich Stachel auf die heutige Bedeutung der „Heldenplätze“ in Mittel- und Osteuropa als Träger von identitätspolitischen Narrativen sowie als Orten von nationalen Ritualen und Feierlichkeiten bzw. von oppositionellen Demonstrationen konzentriert, analysieren Hadj-Abdou und Liebhart die Haltung der postsozialistischen Staaten angesichts der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Moskau und gehen der Frage nach, wie die Umkonnotierung der ehemaligen sowjetischen „Befreier“ zu „Besatzern“ erfolgt ist. An diesem Beispiel zeigen die Autorinnen auch die konfliktreichen Erinnerungen innerhalb Europas auf. Obwohl die Europäische Union darum bemüht ist, eine gemeinsame Erinnerung zu schaffen (wobei nicht zuletzt der Holocaust als gemeinsamer negativer Referenzpunkt dienen soll), verdeutlichten die Konflikte im Vorfeld der Moskauer Feierlichkeiten die Schwierigkeiten, solche verbindenden Mythen auf europäischer Ebene zu etablieren. Besonders nützlich ist Liebharts und Hadj-Abdous Hinweis, dass auch in Westeuropa kein eindeutiger Konsens über die Ereignisse des Jahres 1945 besteht, wie sie anhand des Beispiels Österreich belegen.

Im dritten Teil steht die Frage im Zentrum, wie in Europa mit historischen Verantwortlichkeiten umgegangen wird. Diesen Aspekt versuchen Ausilia Pirolet am Beispiel des Umgangs des Schweizer Internationalen Komitees vom Roten Kreuz mit seiner Haltung während des Zweiten Weltkrieges sowie Ágnes und Gábor Kapitány am Beispiel des viel kritisierten Budapester „Hauses des Terrors“ auszuarbeiten.

Der Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit wird im folgenden Abschnitt vertiefend betrachtet. Während Petra Bernhardt der Debatte um den Berliner Palast der Republik nachgeht, skizziert Silvia Miháliková am Beispiel der Umbenennung von Straßen und Plätzen, dem Umgang mit Denkmälern und der Einführung von staatlichen Symbolen und Feiertagen die Konstruktionswege einer neuen nationalen Identität in der Slowakei. Dieser Staat sah sich nach 1989 mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. Die politische Wende bedeutete schließlich für die Slowakei nicht nur eine Abkehr vom Sozialismus, sondern auch die Entstehung eines selbstständigen neuen Staates. Nach der Auseinandersetzung mit staatlichen Erinnerungsträgern wendet sich Svetla I. Kazalarska der Bedeutung von privaten, nicht institutionalisierten Akteuren bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Bulgarien zu. Anhand verschiedener Erinnerungsprojekte zeigt sie den zivilgesellschaftlichen Umgang mit dem kommunistischen Erbe auf.

Abschließend diskutieren die Autoren die Musealisierung und Ästhetisierung von Geschichte. Sophie Wahnich untersucht, wie historische Museen Kriegsgeschichte darstellen und dabei architektonische und andere künstlerische Elemente einsetzen. Zuletzt wenden sich Barbara Lášticová und Andrej Findor explizit der Europäisierung der Erinnerung zu, einem im vorliegenden Band ansonsten etwas unterrepräsentierten Aspekt. Dabei geht es ihnen nicht um den Einfluss europäischer Erwartungen und Normen auf die Erinnerung. Am Beispiel der seit 2004 überarbeiteten Ausstellung im Museum des slowakischen Nationalaufstandes in Banská Bystrica zeigen sie eher, wie dieses Ereignis von seinen exklusiven nationalen Besonderheiten entkleidet und als Teil der europäischen Geschichte erzählt wird.

Insgesamt bietet das Buch – wenn auch in streckenweise etwas trockenem Stil – einen durchaus anregenden Blick auf verschiedene Aspekte des Umgangs mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust und dem Kommunismus in den europäischen Staaten. Dabei werden nicht nur politische Akteure als Handlungsträger benannt; hervorgehoben wird auch der Einfluss zivilgesellschaftlicher Organisationen und öffentlicher Erwartungen an nationale Erinnerungskulturen. So verweist beispielsweise Sophie Wahnich auf das Londoner Imperial War Museum, wo das Ausstellungskonzept in Orientierung an gewandelten Besuchererwartungen immer wieder überarbeitet wird.

Der europäische Vergleich ermöglicht es, zahlreiche Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzuzeigen. Eine stärkere Ausarbeitung der nationalen Besonderheiten wäre teilweise jedoch dienlich gewesen – schließlich lassen sich Opfernarrative nicht zuletzt auf spezifische nationale Traditionen und historische Entwicklungen zurückführen. Die besonderen Schwierigkeiten, denen sich postkommunistische Staaten seit 1989 gegenübersehen, die gleichzeitig zwei oder mehr Diktaturen aufarbeiten müssen, bedürften ebenfalls eingehenderer Betrachtung.

Unbeantwortet bleibt zudem die Frage, wie die wachsenden Mitverantwortungs- und Entschuldigungsbekundungen zu erklären und zu bewerten sind, die seit den 1990er-Jahren in steigendem Maße auch in den postkommunistischen Staaten vorkommen. Dabei lässt die Konzentration auf einzelne ausgesuchte Erinnerungsträger die teilweise stark polarisierte nationale Erinnerungslandschaft in Europa unberücksichtigt. So wird beispielsweise durch die ausschließliche Analyse des Budapester „Hauses des Terrors“ lediglich der nationalkonservative ungarische Vergangenheitsdiskurs deutlich. Im Budapester „Holocaust-Gedenkzentrum“ ist wiederum ein vollkommen anderes Narrativ präsent, in dessen Rahmen die ungarische Verantwortung am Holocaust deutlicher zutage tritt. So hätte die genaue Benennung von erinnerungsprägenden Akteuren und ihren Zielen zu einigen Spezifizierungen geführt. Lohnend wäre es schließlich gewesen, dem erinnerungspolitischen Einfluss der Europäischen Union auf die nationalen Diskurse genauer nachzugehen.

Trotz der genannten Unschärfen und einiger Widersprüchlichkeiten bleiben der transnationale Zugang zum Thema und das Bemühen, keine strikte Trennlinie zwischen „Ost“ und „West“ zu ziehen, besonders positiv hervorzuheben. Mit Recht kritisieren die Autorinnen und Autoren die nicht selten vorgenommene Unterscheidung „between a ,Western’, ,enlightened’, ‚politically correct’ use of memory and the supposed re-emergence of a ,dark side’ of memory attributed to the ,East’“ (S. 11).