M. Eissenhauer (Hrsg): Modellstaat Kgr. Westphalen

Titel
König Lustik?!. Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen


Herausgeber
Eissenhauer, Michael; Museumslandschaft Hessen-Kassel
Erschienen
München 2008: Hirmer Verlag
Anzahl Seiten
568 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anika Bethan

Der vorliegende Sammelband, der anlässlich der gleichnamigen hessischen Landesausstellung in Kassel erschienen ist, verbindet nicht nur wissenschaftliche Aufsätze der aktuellen Forschung sondern ist zugleich ein begleitender Katalog. Das vor ziemlich genau 200 Jahren gegründete Königreich Westphalen und insbesondere die Rolle des jungen Königs Jérome Bonaparte werden in den hier zusammengestellten Essays aus verschiedenen Perspektiven analysiert bzw. rekonstruiert. Damit fokussiert der Band ein in der aktuellen Geschichtswissenschaft eher vernachlässigtes Thema.

Im Vorwort und gleich in drei einleitenden Texten wird das komplexe Sujet vorgestellt. Michael Eissenhauer, Roman Herzog und die Kuratoren Arnulf Siebeneicker und Thorsten Smidt entwerfen dabei die Schwerpunkte und Leitlinien der Thematik: Der Gegenwartsbezug des innovativen Modellstaatkonzepts, deutsch-französische Verflechtungs- sowie kunsthistorische Wirkungsgeschichte.

Mit der Einführung der ersten Verfassung auf deutschem Boden versuchte Napoleon die Bevölkerung ‚moralisch zu erobern‘, um vor allem in Hinblick auf Preußen eine stabile Bastion in Norddeutschland zu etablieren. Das sich daraus ergebende Problemfeld von Anspruch und realer Wirkung, wie auch die Notwendigkeit diesen Herrschaftsanspruch ohne dynastische Legitimation durchzusetzen, werden dem Band vorausgestellt. Der ohne Frage interessante Text „Das Musterkönigreich“ von Arno Schmidt reiht sich ebenfalls unter die Einleitungen ein, steht aber, da er unreflektiert bleibt, mit seiner überaus positiven Einschätzung der Thematik aus dem Jahr 1954 an dieser Stelle etwas abseits.

In den vier Hauptteilen Voraussetzungen, Kunst und Kultur, Staat und Gesellschaft und Nachleben ist es an den Einzelbeiträgen, das Königreich Westphalen und seinen König unter den einleitenden Fragestellungen zu untersuchen. „Repräsentation“ erscheint dabei als zentraler Begriff: Die Repräsentation der napoleonischen Macht durch Jérome, die Repräsentation Jéromes eigener Machtansprüche gegenüber der westphälischen Bevölkerung, die politische Repräsentation der westphälischen Bevölkerung in den verfassungsmäßigen Instanzen sowie die ‚nationale‘ Repräsentation des neu entstandenen Staates.

Die 22 Einzelbeiträge zeichnen sich durch präzise Sprache, thetische Pointierung und geeignete Kürze aus. Fast ausnahmslos werden mit der notwendigen historischen Genauigkeit und mit transdisziplinärer Methodik, die von Kultur-, Kunst-, Verfassungs-, Technik-, bis zu Erinnerungsgeschichte reicht, die zahlreichen Einzelphänomene anschaulich dargestellt. Es gelingt zudem größtenteils, den Blick für die Gesamtproblematik dabei nicht zu vernachlässigen.

Indem unterschiedlichste Faktoren und Erscheinungen in Breiten- und Längenrelation zusammengedacht werden, entsteht das Königreich Westphalen als ein facettenreiches aber auch problematisches Modellstaatsprojekt hier neu.

Mit den „Grundlinien der napoleonischen Deutschlandpolitik“ erfüllt der Text von Thierry Lentz hervorragend die Funktion, das Königreich Westphalen in der territorialen Wandlung Europas unter napoleonischem Einfluss zu verorten. Die häufige Darstellung der napoleonischen Außenpolitik als direkte Fortsetzung der Außenpolitik der Französischen Revolution wird dabei in Frage gestellt. Das Verlangen, die Revolutionsideale und aufklärerischen Ideen zu verbreiten, persönlicher Ehrgeiz und Machtstreben sind zwar, so der Autor, bei der Untersuchung der napoleonischen Expansionspolitik zu berücksichtigen, jedoch bilden (militär-) strategische und wirtschaftliche Interessen einen stärkeren Motor für die territoriale Ausdehnung. Das System war auf Bewegung angewiesen, um sich selbst zu finanzieren und um die französische Wirtschaft zu stärken. Unter dieser Perspektive müssen, so Thierry Lentz, auch die Rheinbundstaaten und damit das Königreich Westphalen betrachtet werden. Napoleon versäumte es hier, aus den deutschen Mittelstaaten ein stabiles an Frankreich orientiertes Staatengebilde gegenüber Österreich und Preußen zu etablieren – daher auch die Bezeichnung der Rheinbundstaaten als ‚verpasste Verbündete‘. Föderale Repräsentation über den Zusammentritt des Königkollegiums verhinderte Napoleon und degradierte damit die neuen Schwesterrepubliken und Bruderkönigreiche zu militärischen Zweckmitteln. Besonders Letztere waren eng an die napoleonische Familienpolitik gekoppelt, die jungen Könige blieben französische Fürsten und unterstanden dem Willen des Kaisers. Emanzipationsbestrebungen sollten so ausgeschlossen werden. Wie viel Spielraum für eine eigenständige Entwicklung, Identität und weit reichende Reformen blieb innerhalb dieses Systems für einen solchen Satellitenstaat wie es auch das Königreich Westphalen war?

Die Abhängigkeit von Napoleon zeigte sich aber nicht nur in territorial- und militärpolitischer Hinsicht, sondern erstreckte sich über alle Bereiche der Gesellschaft. Insbesondere auf die Wirkung der Kunst- und Kulturpolitik des Kaisers konzentrieren sich die anschließenden Essays des Sammelbandes.

Der kunsthistorisch bestens informierte Aufsatz von Hans Ottomeyer „Die Erfindung des style Empire“ zeichnet die Voraussetzung und Wirkung der napoleonischen Kunstpolitik nach, um erklären zu können, wie entscheidend die Herausbildung eines eigenen Stils für die Machtpräsentation Napoleons war, auch wenn der Kaiser selbst damit in den Zwiespalt von Verschwendung und Notwendigkeit kam. Gerade für Napoleon, aber auch für seinen jüngsten Bruder Jérome, stand die Kunst im Zeichen der Herrschaftslegitimation für eine Regentschaft ohne dynastische Referenz. Bei der Kreation seines neuen ‚Staatsstils‘ griff Napoleon sowohl auf traditionelle – vor allem römische, merowingische, karolingische und selbst auf Elemente der Zeit Ludwig XIV – als auch auf neue Interpretations- und Symbolformen zurück. Maßgeblich durch Charles Percier und Pierre-Francois-Léonard Fontaine entwickelt, verbreitete sich der „style Empire“ in ganz Europa und lässt sich in Modifikationen noch bis 1840 nachweisen. Neben der neuen Stilschöpfung spielte auch der systematische Kunstraub in den eroberten Gebieten eine entscheidende Rolle in der kaiserlichen Kunstpolitik. Damit konnte sich nicht nur Paris mit dem neu geschaffenen Musée Napoléon als kulturelles Zentrum Europas darstellen, die entstandenen Fehlstellen boten in den betroffenen Territorien auch den Raum, den neuen Stil zu adaptieren. Dies galt insbesondere auch für Kassel und das Königreich Westphalen. Bedeutende Namen sind in diesem Kontext Leo von Klenze und Heinrich Christoph Jussow, die das kaiserlich-französische Vorbild hier umsetzten. Wie umfangreich sich die Einflüsse der kaiserlichen Kultur und Kunst im Königreich zeigten, wird in den sieben folgenden Beiträgen ausführlich analysiert. Die Abhängigkeit Jéromes von seinem Bruder steht dabei im Vordergrund. Bis auf die Essays von Martin Knauer und Marika Schäfer werden dabei aber die westphälische Besonderheit und die Weiterentwicklung der napoleonischen Einflüsse nach staatsspezifischen Voraussetzungen und territorialen Bedingungen zu wenig herausgestellt.

Im dritten Hauptteil „Staat und Gesellschaft“ gelingt es den Einzelbeiträgen sehr gut, insbesondere die politische und soziale Situation des Königreichs Westphalen nachzuzeichnen. Dabei wird vor allem die Eingangsfrage nach Anspruch und Wirklichkeit des Modellstaats historisch versiert in den Fokus der Betrachtung genommen. Hier sind insbesondere die Texte von Helmut Berding, Bettina Severin-Barboutie und Claudie Paye zu nennen. Wie bereits bei den Ausführungen zur kaiserlichen Territorialpolitik angedeutet, wird nun seitens der Autoren aufgezeigt, wie die militärischen und wirtschaftlichen Ansprüche Napoleons auf Kosten einer erfolgreichen Durchsetzung der Reformen im Königreich eingefordert wurden. Dies ist als ein wesentlicher Grund für den sich entwickelnden Widerstand seitens der Untertanen und letztendlich auch für das Scheitern des Modellstaatsprojekts anzusehen.

Eine besondere Stellung auch in der Gesamtkonzeption des Bandes nehmen in diesem Kapitel die Essays von Arnulf Siebeneicker zur Repräsentation des Parlaments im politischen System des Königreichs und von Armin Owzar zur Traditionsstiftung ein. Beiden gelingt es, die verschiedenen Aspekte der napoleonischen Dominanz, reformpolitischen Ideologie und realen Bedingungen in der Rekonstruktion der westphälischen Situation zu verdichten. Es entsteht so ein Rahmen für die zahlreichen Einzelthemen, der ein Gesamtverständnis des Zusammenspiels aller inneren und äußeren Faktoren ermöglicht.

Wie im Band selbst angedeutet, fällt die Betrachtung der Rezeption des Königreichs Westphalen nach 1813 etwas mager aus, was dem bisherigen Forschungsstand geschuldet ist. Mit den zwei Beiträgen gelingt es aber zumindest, einen Ausblick auf die Längenwirkung dieses napoleonischen Staatsprojekts auf deutschem Boden zu geben. Winfried Speitkamp deckt in „Die Restauration Kurhessens und der Umgang mit den Reformen des Königreichs Westphalen“ auf, dass die Rückkehr des Kurfürsten zum status quo ante nicht so rigoros durchgesetzt wurde, wie es lange Zeit angenommen und auch gerade in der Entwicklung des 19. Jahrhunderts dargestellt wurde. Politische Verfolgungen wurden im Allgemeinen weder gegenüber Beamten noch Militärs durchgeführt. Selbst Elemente der westphälischen Verfassung fanden ihren Niederschlag in der Rekonstruktion des Kurstaates. Auch wenn der Aufsatz die Verfassungsdiskussion in den deutschen Territorialstaaten vor 1806 und damit die Kontinuität der Auseinandersetzungen nicht zur Sprache bringt, entwirft der Autor ein umfangreiches Bild der nachwestphälischen Situation am gewählten Beispiel des Kurfürstentums Hessen-Kassel und des andauernden Einflusses des Modellstaats aber auch der als solche empfundenen ‚Fremdherrschaft‘. Dass vor allem die Figur des leichtlebigen Königs Jérome ihren Niederschlag in der Populärliteratur bis weit ins 20. Jahrhundert gefunden hat, zeigt abschließend Maria Schulz.

Mit zahlreichen interessanten Abbildungen werden die Einzelbeiträge im Buch wie auch das allgemein sehr gut gelungene Layout hervorragend ergänzt. Die Kombination von Ausstellungskatalog und fachwissenschaftlichen Texten ist sicher eine nachvollziehbare Entscheidung im Sinne der Ausstellung, zeigt aber in der Praxis durch Größe und Handhabbarkeit des Bandes einige Schwächen.

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