Cover
Titel
Abschied vom Elfenbeinturm?. Politisches Verhalten Studierender 1957-1967. Berlin und Nordrhein-Westfalen im Vergleich


Autor(en)
Spix, Boris
Erschienen
Anzahl Seiten
722 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Spernol, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

An dem Befund, dass sich „1968“ und das, was sich hinter dieser Chiffre verbirgt, auch „vier Jahrzehnte danach als untererforscht und überkommentiert“ erweist1, hat das vorwiegend medial verrichtete „Dienstjubiläum“ 2008 kaum etwas zu verändern vermocht. Die Historisierung ist in den vergangenen Jahren zwar erheblich fortgeschritten2; nach wie vor sind es aber besonders die damaligen Akteure selbst, die öffentlich um die Deutungsherrschaft ringen – und sei es mit einseitigen, vor allem skandalheischenden Thesen.3 Der Blick ruht dabei noch allzu häufig allein auf den radikalisierten Ereignissen eines langen Jahres, das im Juni 1967 begann und in seinen Ausläufern bis 1969 dauerte, und er ruht vor allem auf Berlin (zuweilen auch auf Frankfurt), auf dem SDS und zumal auf Rudi Dutschke.

Boris Spix’ Studie zum politischen Verhalten Studierender in den Jahren von 1957 bis 1967 erweitert diese verengte Sicht mit einem Vergleich zwischen Nordrhein-Westfalen (NRW) und Berlin. Das Buch ist die gekürzte Fassung einer 2007 von der Universität Siegen angenommenen Dissertation und zählt zu den zahlreichen Forschungsprojekten zu „68“, die um 1998 begonnen wurden. Spix nimmt auf breiter Quellenbasis das Geschehen an sechs Hochschulen in den Blick – in Berlin die Freie und die Technische Universität, in NRW die Universitäten in Bonn, Köln und Münster sowie die RWTH Aachen. Das verstreute Material hat der Autor nicht nur in Archiven gesichtet, sondern auch an abgelegenen Aufbewahrungsstätten wie Dachböden oder Getreidespeichern entdeckt. Außerdem hat er sein Quellenkorpus mit 65 (meist studentischen oder universitären) Zeitungen und Zeitschriften sowie 23 Zeitzeugeninterviews angereichert.

Indem Spix die strukturellen und diskursiven Entwicklungen an den verschiedenen Orten über einen Zeitraum von zehn Jahren untersucht, wird nicht nur deutlich, wie (regional) differenziert das politische Verhalten war. Zugleich wird nochmals evident, wie sehr erst der Tod Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 die Studentenbewegung bündelte und dynamisierte. Umso bedauerlicher und forschungsstrategisch nicht nachvollziehbar ist es freilich, dass der Autor den Zäsur-Charakter des Sommer 1967 betont, um dann seine Studie just an diesem Punkt enden zu lassen: Hier vergibt er Erkenntnispotenzial, nicht nur im Hinblick auf das bislang unterbelichtete Geschehen abseits der Epizentren.4

Spix verbindet quantitative und qualitative Ansätzen sowie Methoden der Sozialbewegungsforschung und Diskursanalyse. Seinen drei Hauptkapiteln („Strukturen des Politischen“, „Inhalte des Politischen“, „Prozesse des Politischen“) stellt er zwei einleitende Kapitel zur Geschichte und Struktur der untersuchten Hochschulen sowie zur sozialen Zusammensetzung der Studierenden voran. Leider verliert sich der Autor hier zu sehr im Referieren von Zahlen, die besser als Tabellenanhang in die Buchfassung eingegangen wären – zumal er selbst einräumt, „dass zahlreiche Parameter keinen Beitrag leisten können, divergierende Entwicklungen des politischen Verhaltens an der Spree sowie an Rhein und Ruhr zu erklären“ (S. 104). Darauf aufbauend fragt Spix nach den zeitlichen, örtlichen und institutionellen Bedingungen, in denen sich Studierende politisch formierten. Neben den universitären Rahmenbedingungen analysiert er hier zwölf studentische Gruppierungen.

In einem nächsten Schritt untersucht er die studentischen Selbstverständigungsprozesse – zunächst die Debatte über die Notwendigkeit politischer Betätigung schlechthin und schließlich um die Themen, die sich als die drängendsten erwiesen: neben der Hochschulpolitik vor allem die „deutsche Frage“, die „Dritte Welt“, die NS-Vergangenheit und die „Kritische Theorie“. Am ausführlichsten geht Spix in diesem – mit 260 Seiten auch umfangreichsten – Kapitel auf die Diskurse um die Deutschlandpolitik (66 Seiten) und die „Schatten der Vergangenheit“ (68 Seiten) ein. Mit lediglich acht Seiten erscheint demgegenüber die Analyse der studentischen Auseinandersetzung mit der „Kritischen Theorie“ unverhältnismäßig knapp. Spix untersucht auch, welchen quantitativen Anteil politische Beiträge in Studentenparlamenten und Studierendenzeitungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten hatten.

Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass „keinesfalls stringent und überall“ von einer Politisierung der Studierenden gesprochen werden könne (S. 679). Vielmehr macht er drei Phasen aus, in denen sich das Verhalten der Studierenden – mit regionalen Differenzierungen – zu einem „aktiven Eingreifen“ entwickelt habe. Dabei stand zunächst bis zum Mauerbau die nationale Frage im Fokus der Aufmerksamkeit. Das Interesse an hochschulpolitischen Themen hing unterdessen, wenig überraschend, von den jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen ab und war in NRW geringer als in Berlin. Nach einer „Phase politischer Passivität“ macht Spix ab 1965/66 an der FU und in Bonn eine „neue Politisierung“ aus, die jeweils auf „inneruniversitäre Konflikte und nicht allgemeinpolitische Themen und Konflikte“ zurückzuführen sei (S. 680). Dabei geht es aber wohl vor allem um eine quantitative Dimension bzw. um die Frage der Mobilisierung größerer Teile der Studierenden, denn zugleich konstatiert Spix, die linken Gruppierungen (vor allem der SDS) und die ihnen nahestehenden Studierenden hätten sich über den gesamten Untersuchungszeitraum „grundsätzlich für politische Studenten und das Recht ihrer Vertretung zu politischen Meinungsäußerungen“ ausgesprochen (S. 286). Nach ihrem Selbstverständnis war „der Student ein zur Unterrichtung über politische Tatbestände besonders befähigter und begünstigter Staatsbürger“ (S. 287). Konservative Gruppen wollten zwar auch als „künftige gesellschaftliche Elite […] staatsbürgerliche Verantwortung übernehmen“, sich allerdings vornehmlich „außerhalb der universitären Strukturen […] in den Parteien und gesellschaftlichen Organisationen“ einbringen (S. 294). Eine Ausnahme bildete das konservative Engagement in Fragen der Deutschlandpolitik und bei Menschenrechtsverletzungen in kommunistischen Staaten, während sich linke Gruppierungen zum gleichen Zeitpunkt gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr aussprachen.

Obschon Spix Politisierung als Bestreben definiert, „formale und inhaltliche Ordnungsprinzipien des politischen Systems auf andere gesellschaftliche Bereiche zu übertragen“ (S. 683), neigt er leider dazu, das politische Verhalten implizit an den radikalisierten Aktionsformen der Studierenden 1967/68 zu messen. Beispielswiese konstatiert er, der 1965 an der FU gebildete „Koordinierungsausschuss Notstandsgesetzgebung“ – ein Zusammenschluss von sieben liberalen bzw. linken studentischen Gruppierungen – sei zunächst „recht inaktiv“ gewesen, weil er sich „primär auf Informationsveranstaltungen für Studierende“ beschränkte (S. 481ff.). Auch die Aktivitäten der „Studentenausschüsse gegen Atomrüstung“ Ende der 1950er-Jahre in NRW werden mit dem Argument marginalisiert, deren Aktionen seien „in der Wahrnehmung sowohl der Studentenschaft als auch der Hochschule und der Öffentlichkeit“ Handlungen einer „relativ kleinen und unbedeutenden Gruppe“ geblieben (S. 656).

Durch den Aufbau der Studie ergeben sich zahlreiche Redundanzen, geraten Kontexte und Konnexe der einzelnen Diskurse aus dem Blick und verlieren Debatten zum Teil ihren historischen Ort. Hier wäre mehr gewonnen worden, hätte Spix die systematische mit einer chronologischen Gliederung verbunden, die ja den drei von ihm herausgearbeiteten Phasen hätte entsprechen können. Auch bleiben die handelnden Akteure blass. Welche Impulse gaben beispielsweise dezidierte Notstandsgegner unter den Dozenten wie der sich als linksliberal verstehende Karl Dietrich Bracher in Bonn, über den Hannes Heer damals schrieb, er habe sich „gegen alle Versuche fortschrittlicher Studenten, ihn auf den Schild des tribunus plebis zu heben, abgesichert“5, und der als einziger an seiner Universität über den Nationalsozialismus lehrte?6 Sehr viel mehr als auf Einzelpersonen richtet Spix seinen Blick auf den SDS, das Studentenparlament oder die konservativen Studierenden – also auf „kollektive Identitäten“, denen er in Anlehnung an die Sozialbewegungsforschung nachspürt.

Dies und ein passagenweise stark passivisch-referierender Stil lassen die Schilderung der doch höchst dynamischen Bewegung eigentümlich leblos wirken. Schlichtweg ein Ärgernis ist der Verzicht auf jedwedes Register, das nicht nur angesichts des Umfangs des Buches wertvoll gewesen wäre, sondern auch wegen der teilweise kryptischen Kapitelüberschriften. Dass der Leser auf den 722 Seiten mitunter die Orientierung verliert, verweist allerdings auch auf Spix’ Verdienst, einen materialreichen, empirisch gesättigten Beitrag zur Historisierung der Studentenbewegung geleistet zu haben.

Anmerkungen:
1 Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008, S. 273.
2 Anstelle einer Vielzahl von Einzelbelegen siehe etwa Alfons Söllner, „1968“ – eine Nachlese, in: Mittelweg 36 17 (2008) Heft 6, S. 33-60; Manfred Lauermann, Vierzig Jahre 1968. Ein Literaturüberblick, in: Berliner Debatte Initial 20 (2009) Heft 1, S. 111-149, aktualisierte Fassung online unter URL: <http://www.berlinerdebatte.de/documents/toc/2009/2009-1%20Lauermann%20Sonderausgabe.pdf>.
3 Götz Aly, Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück, Frankfurt am Main 2008; als Überblick vgl. die Sammelrezension von Detlef Siegfried, Furor und Wissenschaft. Vierzig Jahre nach „1968“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 130-141, auch online unter URL: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Siegfried-1-2008>; als Rechtfertigungsschrift der Akteure z.B. Daniel Cohn-Bendit / Rüdiger Dammann (Hrsg.), 1968. Die Revolte, Frankfurt am Main 2007.
4 Zu NRW siehe bisher vor allem den von Franz-Werner Kersting konzipierten Schwerpunktband von Westfälische Forschungen 48 (1998): Der gesellschaftsgeschichtliche Ort der ‚68er’-Bewegung.
5 Hannes Heer, 150 Jahre Klassenuniversität, 1 Jahr Widerstand, in: Studentengewerkschaft Bonn (Hrsg.), 150 Jahre Klassenuniversität. Reaktionäre Herrschaft und demokratischer Widerstand am Beispiel der Universität Bonn, Bonn 1968, S. 126-142, hier S. 129f.
6 Vgl. Bernd-A. Rusinek, Von der Entdeckung der NS-Vergangenheit zum generellen Faschismusverdacht – akademische Diskurse in der Bundesrepublik der 60er Jahre, in: Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 114-147.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension