S. Müller u.a. (Hrsg.): Oper in europäischen Gesellschaften

Titel
Bühnen der Politik. Die Oper in europäischen Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Müller, Sven Oliver; Toelle, Jutta
Reihe
Die Gesellschaft der Oper 2
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
225 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffen Höhne, Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena, Studiengang Kulturmanagement, Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar

Der vorliegende Sammelband vertritt einen Ansatz der neueren historischen Politikforschung, welche Politik als Ergebnis kommunikativer und kompetitiver Prozesse versteht, Politik also als etwas, was „durch individuelle und kollektive Akteure im öffentlichen Raum als politisch definiert wird.“ (S. 9) In diesem Kontext lässt sich die Oper zweifellos neben kunstimmanenten und aufführungsrelevanten Aspekten als ein öffentlichkeitswirksamer und politisierbarer Raum betrachten, gewissermaßen als Institution einer symbolischen politischen Praxis. Die Teilnahme an einer Inszenierung kann dabei in der Tradition des performative turn als eine Praxis verstanden werden, welche „gesellschaftliche Ordnungsmuster, Bilder und Werte nicht nur reflektiert, sondern kreiert.“ (S. 9f.)

Gewählt wurde für den Sammelband ein interdisziplinärer Ansatz aus Geschichts- und Musikwissenschaften, um Opern über die musikalische Form hinaus als gesellschaftsrelevante Praktiken untersuchen und somit als Teil einer modernen Kulturgeschichte darstellen zu können (S. 11). In drei Sektionen werden Inszenierungen der politischen Ordnung, deren Bestätigung sowie deren Bedrohung am Beispiel der Institution Oper analysiert.

Bei der Inszenierung der politischen Ordnung geht es nicht nur um die Darstellung historischer oder mythischer Stoffe und Themen, sondern um deren legitimatorisches Potential für die Gegenwart. Vor allem die postulierte traditionelle Musik wird zu einer nationalen Angelegenheit, und zwar nicht durch einen quasi natürlichen Bestand, sondern durch den Willen der Rezipienten nach einer nationalen Musik. Dabei konnte die Oper gerade im 19. Jahrhundert eine erstaunliche Breitenwirkung erreichen, in ihr vergewissert die Nation sich selbst, „Národ sobě“ lautet z.B. die nationalkulturelle Integrationsformel des Národní divadlo (Nationaltheater) in Prag. Auf die Ambivalenz der damit verbundenen Inszenierungsintentionen und der ihnen zugrunde liegenden Strategien geht Barbara Eichner ein. In einer profunden Analyse zeigt sie, wie mit Hilfe des Kundrun-Stoffes eine nationale Oper geschaffen werden soll, die aber letztlich scheitern muss. Obwohl sich der Kundrun-Stoff größerer Beliebtheit erfreute und er im Gegensatz zum Nibelungenstoff auch einen optimistischeren Ausblick eröffnete, der im Kontrast steht zur völligen Auslöschung der Nibelungen, konnte er sich nicht durchsetzen. Zeigt sich hier nicht auch die Grenze von Instrumentalisierungen in den Künsten?

Am Beispiel der Kulturpolitik des Teatro alla Scala in Mailand unter dem Direktor Arturo Toscanini sowie der Suche nach einem neuen Kanon in der stalinistischen Sowjetunion der 1930er-Jahre untersucht Irina Kotkina die Funktion der Oper in totalitären Gesellschaften. In beiden Fällen knüpft man an ältere Traditionen an, in Mailand sollte Verdi die Wiederbelebung der italienischen Oper in mythischem Kontexten garantieren, während in der Sowjetunion – nach dem „Scheitern“ von Shostakovich – ein Rückgriff auf einen aktualisierten Glinka, Ivan Susanin (zuvor unter dem Titel ‚Ein Leben für den Zaren‘) erfolgte, mit dem ein erwünschter wie geforderter positiver sowjetischer Held auf der Opernbühne reüssiert. Allerdings hätte man hier gerne etwas über die Einbettung in die ideologischen Strömungen der Zeit, den Futurismus bzw. den sozialistischen Realismus erfahren.

In Form von Fallstudien befassen sich zwei weitere Beiträge mit dem Komplex der Inszenierung. Michael Walter wendet sich dem Politischen in der Pariser Oper zu; Marian Prokopovych untersucht ein ungarisches Beispiel: die Produktion von Excelsior in Budapest 1887.

Bestätigungen der politischen Ordnung sind vor allem nach Zeiten des Umbruchs, der Zäsur zu erwarten. 1955 wird die Wiener Staatsoper wieder eröffnet, nach Peter Stachel ein Akt österreichischer Identitätspolitik. Ausgehend von dem Image des Musiklandes Österreich im Allgemeinen, der Musikstadt Wien im Besonderen kommt der klassischen Hochkultur nach 1945 eine zentrale Rolle zu. Der rasche Wiederaufbau der Oper, eröffnet mit dem Fidelio, und des Burgtheaters, eröffnet mit Grillparzers König Ottokar, diente dabei, wie Stachel überzeugend herauszuarbeiten weiß, einer politischen Funktionalisierung und Instrumentalisierung, zumal die Eröffnung mit dem Fidelio genau in die Phase des österreichischen Staatsvertrages von 1955 fiel. Die Wiedereröffnung von Oper und Burg diente dabei in den Kommentaren der Zeit als Ausdruck ‚österreichischer Identität’, Hochkultur wird zur Substanz des spezifisch Österreichischen. Dass damit eine massive Verdrängung der Rolle Österreichs während des Dritten Reiches einherging, darf als die Kehrseite der Medaille gelten. Angesichts der personellen Kontinuität, die 1955 „offenkundig nicht öffentlich thematisierbar“ war (S. 107) und die als „Akt österreichischer Identitätspolitik“ fungierte, dokumentiert nach Stachel die Wiedereröffnung der Staatsoper „nicht allein den kulturell unterfütterten Selbstbehauptungswillen des ‚neuen Österreichs’, sondern auch dessen gewollt ‚schlampiges Verhältnis’ zur NS-Vergangenheit.“ (S. 107)

Einer formalen und diskursiven Politisierung der Oper in Paris und in London wendet sich Sarah Zalfen zu, die in beiden Ländern Widersprüche zwischen feudalen und elitären Traditionen der Oper als Kunstform und Institution und dem modernen Selbstverständnis des demokratischen Staates beobachtet. Verstärkt wird dieser Widerspruch durch die deutlich geringere Anzahl an staatlich finanzierten Opernhäusern (sechs in GB, ca. 15 in Frankreich). Ausgehend von dem Demokratisierungsparadoxon werden Spannungen zwischen einer „formalen Politik der Oper durch ihre Einbindung in politische Institutionen und Verfahren und einer diskursiven Politik durch die öffentliche Debatte um die Rolle der Oper in einer demokratischen Gesellschaft“ (S. 109) konstatiert, die im Kontext eines neuen Staatsmodells verankert sind, bei dem der Staat Kulturgüter – ökonomisch betrachtet – als meritorische Güter versteht. Für die Kulturpolitik hat dies die Konsequenz einer Modernisierung und Demokratisierung von Kunst und Kultur, wobei hier eine Korrelation mit den Debatten um die Postmoderne zu berücksichtigen wäre, für die die Überwindung von Hochkultur und Popularkultur, von Kunst und Leben schon lange Programm ist. Die Operndiskurse in London und Paris drehen sich folgerichtig um Excellenz und Access.

Musiktheater ist also keinesfalls bloß ein Ort „machtgeschützter Innerlichkeit“ oder einer Kontemplation, sondern immer schon politisch. Stephanie Kleiner untersucht die Rolle der Frankfurter Oper im Kaiserreich (Frankfurter Friedensfeier 1896 als bewussten Gegenentwurf eines bürgerlichen Selbstverständnisses zu den martialischen Sedans-Feiern) und im Kontext der Goethe-Woche 1922. Das Frankfurter Opernhaus erscheint dabei als ästhetischer Katalysator einer genuin politischen Sinnstiftung zur Legitimation der neu gegründeten Republik.

Bedroht ist die Oper in ihrer Funktion als öffentliche Arena im 19. Jahrhundert durch Skandale, die sich bis zu Saalschlachten steigern können. Sven Oliver Müller untersucht am Beispiel London die Übergangszone von musikalischer Unterhaltung und politischer Demonstration, von gezielter Instrumentalisierung und nicht intendierter Eigendynamik, wobei die Ausschreitungen in Londoner Opernhäusern auf ein komplexes Verhältnis von Musik, Emotionen und Gesellschaft verweisen. Allerdings bleibt der Nachweis eines habituellen Wandels etwas unbestimmt. Hier müssen sich sicher weitere Studien anschließen.

Die Scala im Spannungsfeld von Risorgimento und geschickt platzierter österreichischer Kulturpolitik untersucht Bruno Spaepen, der dem Theater aus der Perspektive der Regierung die Funktion eines Beobachtungspostens zuweist, auf den das Publikum mit Boykotten reagiert. Bis 1859 fungierte die Scala somit als „österreichischtreue, repräsentative Bühne“ und war zugleich ein „Hort des Widerstandes.“ (S. 186)

Eine vergleichbare Politisierung wie bei der Scala lässt sich auch in Venedigs La Fenice beobachten, wobei sich hier eine Politisierung nach Jutta Toelle aus der Tatsache ergab, dass das La Fenice, als privat finanzierte Bühne der habsburgischen Verwaltung und damit entsprechenden kulturpolitischen Ambitionen entzogen war. Ein Boykott konnte wie in Mailand durch die mehrjährige Schließung des Hauses noch radikalisiert werden. Hinter dem singulären politischen Konflikt zeichnen sich dabei zwei völlig unterschiedliche kulturpolitische Traditionen ab, eine österreichische, die das System Oper im Rahmen öffentlicher Subventionen betrachtete und verstand, und eine venezianische, die Subventionen für überflüssig hielt, sofern die Aufführungen gut genug seien.

Die Etablierung der russischen Oper in Kiew, einer der „größten Erfolge der imperialen Kulturpolitik in der süd-westlichen Region“ (S. 203), steht nach Ostap Sereda im Kontext einer zunehmenden Nationalisierung und einer damit verbundenen Russifizierungspolitik gegenüber einer kulturell polnisch dominierten Gesellschaft in der westlichen Ukraine. Radikalisierungen auch in der Kulturpolitik sind dabei in der Folge von 1830/31 und vor allem nach dem Januar-Aufstand von 1863 zu konstatieren. Der Theaterpolitik kam offenbar eine wichtige Rolle als Erscheinungsform der Modernisierung von oben zu. Dennoch führen Widerstände innerhalb des Publikums zu einer Praxis, bei der die Oper in Kiew zwar offiziell russisch war, das Repertoire sich aber vor allem aus italienischen und französischen Werken zusammensetzte.

Auch wenn viele Beiträge hier nur punktuell vorgestellt werden können so lässt sich resümierend feststellen, dass es insgesamt sehr wohl gelingt, die Funktion der Institution Oper im historischen und musikwissenschaftlichen Kontext neu zu verorten und einem älteren Forschungsfeld neue Perspektiven zu eröffnen.