Cover
Titel
L'invitation au voyage. Studies in honour of Peter France


Herausgeber
Renwick, John
Erschienen
Anzahl Seiten
325 p.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franz Leander Fillafer

Der Sinn der Gedankenreisen Voltaires, des „letzten glücklichen Schriftstellers“, sei es laut Roland
Barthes gewesen, „Unbeweglichkeit zu dokumentieren“. Sein aufklärerisch vorgeschütztes, komparatives Erkenntnisinteresse an außer- und innereuropäischen Sinnverhältnissen sei bloß
libertäres Laudanum, Wundsekret seiner Vorstellung von der globalen Gleichförmigkeit menschlichen Denkens in seinen „vollkommen verstandenen Prinzipien“.
Reisetätigkeit und Reisemetaphorik gehören als Interaktionen zum Kulturraum des 18. Jahrhunderts wie die allgegenwärtige Motivik der “Kritik”, eines interkulturellen Leitbegriffs der Aufklärung:
Nicht nur generöse Bildungsreisen in den Weltinnenraum dessen, was Cioran als “Form des Verstandes” 1 des 18. Jahrhunderts definierte, auch stratographische Missionen, grenzübergreifende Lesegewohnheiten, Raum-, und Zeitutopien sowie Landpartien von Pastoren und Marinekontrakte von Themse-Schlickschauflern gilt es zu untersuchen, um eine Annäherung an die ineinandergreifende Mobilität und mediale Mobilisierung des 18. Jahrhunderts zu ermöglichen.

Dass seit dem 18. Jahrhundert mehr Menschen als jemals zuvor ihre Lebensumgebung für kürzere oder längere Zeiträume wechselten, ist eine Binsenweisheit, die verschiedenen Implikationen dieses Erfahrungswandels der Epoche sind jedoch kaum erforscht.

Über dreißig Essays und Miszellen zu diesem Themenkomplex versammelt nun der von John Renwick zum 65. Geburtstag des Oxforder Literaturwissenschaftlers Peter France herausgegebene Sammelband “L´Invitation au voyage” [“Die Einladung zur Reise”]: Einzelne Quellenstudien, Annäherungen an körperlose Intelligenzen im Zuschnitt klassischer Geistesgeschichte, kulturgeschichtliche Schlaglichter und literaturwissenschaftliche Etüden als “histoire des idées” entlang dem thematischen Schwebebalken des Aufbruchs, beginnender Reiseeuphorie und des vaganten Unterwegsseins vereint dieser Band.

Zahlreiche Beiträge zu Condorcet, Montesquieu und Voltaire bleiben auf den Bezugsraum der französischen Aufklärung beschränkt und lassen Prospekte des 18. Jahrhunderts eher vermissen, manche der in L´invitation au voyage versammelten Arbeiten sind Beispiele intentionalistischer Ideengeschichte, wie sie Peter H. Reill bereits 1991 aus wissenschaftshistorischer Perspektive als monadologisches Binnenbemühen entwertete: “By expanding the matrix of analysis it is possible to embed the specific language ... within a larger discourse, which would allow one either to explore questions of context and meaning, or to more successfully decode the continual play of signifiers and signified, of metaphors and metonomies by clarifying time bound allusions, similarities. contiguieties and attributes.”2

Dennoch lässt sich die Reisenotwendigkeit, -euphorie und -metaphorik anspielungsreich mit Begriffen und Konzeptionen der politischen, kulturellen und sozialen Migrationen in den Iterativen des 18. Jahrhunderts vergleichen oder auf Zeitmodelle aufklärerischer Naturgeschichte und Lebenswissenschaft umlegen: Herauszuarbeiten, wie maßgeblich die Durchdringung von zyklischen, regenerativen Naturvorstellungen und historischer Linearitätsgewissheit in Geschichtsdenken und Fortschrittsphilosophie war und die populären Verlaufsgeschichten der Zeiterfahrung und Zeitmessung in regionalen Räumen beeinflusste, bleibt ein weiterhin wichtiges Forschungsdesiderat (3).

Dabei mangelt es in dem Band nicht an vielversprechenden Ansätzen: In ihrem Aufsatz “Nothing to write home about?” vergleicht Jenny Mander den “anti-parochialism” (p. 13) in Montesquieus “Lettres Persanes”, also die Frankreicherfahrungen der persischen Europareisenden Usbek und Rica kenntnisreich mit der gleichsam ins Außerweltliche transponierten Schubumkehr des Prinzips außereuropäischer Kritik – durch den außerirdischen Astralpassanten “Micromégas” auf Erden (also in Frankreich) – in Voltaires gleichnamiger Erzählung.
Ebenfalls an ungewöhnlichen Reisedestinationen und Reisenden sind Beiträge wie Margarte McGowans “Writing down Rome at the End of the seventeenth century”, Marian Hobsons “Genevan circumnavigation” über Rousseaus kartographische Arbeiten und Nicholas Cronks “Voltaire, Lucian and the philosophical traveller” geschärft, die Erschließungserlebnisse und Raumerfahrungen verarbeiten:
So etwa wenn Cronk subtil Swifts Revitalisierung der Reisesatire nach Lukian von Samostana am Beispiel des Buchs “Icaromenippus”, einer kleinen Mondutopie, nachzeichnet. Einen Solitär innerhalb des Bands “L´invitation au voyage” stellt Malcolm Cooks als “Observations sur la Finlande” eigens für “L´Invitation au voyage” transkribierte Kriegsberichterstattung Bernardin de Saint-Pierres aus dessen unveröffentlichten Manuskripten in Den Haag dar, eine 1763 anlässlich der schwedischen Invasion entstandene Schlachtenschilderung von Vilmanstrand bis Keksolm. Neben Anthony Strugnells kluger Studie “Women in Raynal´s Histoire des deux Indes” über Raynals Frankreichkritik aus kolonialer Perspektive ermöglicht Cooks Erstveröffentlichung Saint-Pierres die aufschlussreichste Blickrevision aufklärerischer Autokritik in anthropologischen und emblematischen Reiseperspektiven im Band.

Raynals Mitarbeiter bei der Abfassung der “Histoire des deux Indes”, Denis Diderot, lehnte die in der Quellensammlung beider Autoren übermittelte Zustandsbeschreibung, dass auf den Marianen Frauen ihre männlichen Stammesgenossen regierten, in einer sich selbst widersprechenden Stilfigur ab. Für Diderot ist diese Vorstellung ein naturrechtlichen Ordnungsprinzipien widersprechender Primitivismus, da “der Mann über die Frau herrscht, selbst dort wo die Frau die Nation beherrscht” (177, Übersetzung vom Autor). Anthony Strugnell räsonniert in seinem Aufsatz: “Women should be regarded as paragons, embodying the highest principles and aspirations that ought to govern humain affairs, but which men, caught up as they are in the ways of the world, cannot themselves attain to.” (177).

Wie die Lektüre weiterer Aufsätze von “L´Invitation au voyage” zeigt, bieten die Entwicklungsformen der Raynalschen Kritik starke Parallelen zu Condorcets “Esquisse d´un tableau historique des progrés de l’esprit humain” [Entwurf einer Geschichte der Fortschritte des menschlichen Geistes], in dessen zehnter Epoche Condorcets stufenweises Perfektibilitätsstreben in Reiseetappen unterschiedlicher Bewältigungsverbände als Trägergruppen des Fortschritts dargestellt wird. Condorcet benennt aber auch Hinderungsgründe für eine weitere Reise in die fortschrittliche Zukunft der Menschheit, wie David Williams in seinem Condorcet-Aufsatz “Man in transit” meint “the problem of political inequality of nations, the problem between social and economic inequality between classes, and the problem of natual inequality of talent between individuals.” (277)

Geschlechtergleichheit und allgemeiner Bildungszugang sind Condorcets Hauptforderungen, die in der Ummantelung der Prophetie aufgeführt werden. In einem der englischen Neuedition der Esquisse beigegebenen, an Bacons Atlantis-Utopie anschließenden “Fragment sur l´Atlantide”, das David Williams zitiert, präzisiert Condorcet einen allerfassenden objektivierten Bildungsdrang als Komplement zur bisherigen Menschheitsgeschichte: “In the end”, schließt David Williams, “Condorcet thought that the prospect of an abrupt reversal, or even termination of the human odyssey was to remote a factor to take seriously in account, and thoughts of dystopia were dispelled with the assurance that scientific advances would in that remote future enable man to balance the equation of ever-expanding demands and ever-deminishing resources.” (281)

Anmerkungen:
1 E. M. Cioran: “Über das reaktionäre Denken” [Übersetzt von Francois Bondy] Zwei Essays, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1996, S. 12
2 Peter H. Reill: “The History of Science, the Enlightenment and the History of ,Historical Science`” in: Konrad H. Jarausch, Jörn Rüsen et. al. (Hg.): “Geschichtswissenschaft vor 2000”. Festschrift für Georg G. Iggers zum 65. Geburtstag, Hagen, 1991, S. 214-231, hier 230f.
[3] Einen Ansatz dazu stellt Daniel Roches Kapitel über Zeit und Geschichte in seiner exzellenten Studie “La France des Lumières”, Paris, 1995, dar.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension