L. Engelen u.a. (Hrsg.): Perspectives on European Film and History

Cover
Titel
Perspectives on European Film and History.


Herausgeber
Engelen, Leen; Vande Winkel, Roel
Erschienen
Anzahl Seiten
279 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Ebbrecht, AV Medienwissenschaft, Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf"

In den vergangenen Jahren hat das Interesse an Geschichte weiter zugenommen. Insbesondere die Frage nach der Aufgabe und Funktion von Medien im Kontext der Bildung von Geschichtsbewusstsein und der Vermittlung von Geschichtsbildern ist neu gestellt worden. Ein Grund dafür ist nicht zuletzt die Erkenntnis, dass die audiovisuellen Medien, und dabei vor allem Spielfilme, das Geschichtsbewusstsein von Heranwachsenden weit stärker prägen, als das in Schulen und Universitäten vermittelte Geschichtswissen.1 In Deutschland haben in den vergangenen Jahren insbesondere die zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen über zentrale Ereignisse der jüngeren deutschen Zeitgeschichte (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit) erneut Diskussionen über den Umgang mit dem historischen Erbe und der Prägung durch Geschichtsbilder aufgeworfen.2 Auch international haben sich neue Publikationen der Bedeutung der Medien für Erinnerung und Geschichtsschreibung zugewandt, dies allerdings zumeist in einem weiteren historischen Kontext, der die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges zwar thematisiert, aber nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt.3

Auffallend ist dabei, dass bei der Diskussion von Geschichte und Geschichtsdarstellungen in den Medien und in der visuellen Kultur zumeist interdisziplinäre Perspektiven zum Tragen kommen, die die starren Grenzen der ‚zuständigen’ Disziplinen unterlaufen. In erster Linie filmwissenschaftliche Untersuchungen, wie zum Beispiel zum Verhältnis von Genre und Geschichte4, haben mit neuen Überlegungen zu Formen der Geschichtsschreibung zu einer Neubestimmung von Geschichte im Film geführt5, die nicht zuletzt unter dem Postulat der Narrativität im Zeichen der Postmoderne stand.6 Gleichzeitig hat sich die Geschichtswissenschaft der visuellen Kultur insofern geöffnet, als die Distanz zu fotografischem und filmischem Quellenmaterial zunehmend abgebaut wird und eine Hinwendung zur „Visual History“ stattfindet.7

Hier setzt der vorliegende Sammelband „Perspectives on European Film and History“ an, der von Leen Engelen (Universität Amsterdam) und Roel Vande Winkel (Universität Gent) herausgegeben wurde. Der Band nimmt, wie bereits aus dem Titel ersichtlich wird, drei unterschiedliche Perspektiven auf das Thema ein. Die eine nähert sich von der Seite des Films, seiner Geschichte und seiner Formen. Die zweite Annäherung findet von Seiten der Geschichte bzw. der Geschichtsschreibung statt. Der dritte Aspekt, unter dem die im Band versammelten Analysen zu lesen sind, ist der kulturelle, geschichtliche und politische Kontext Europas. Die Hinwendung zu europäischer Geschichte und europäischem Film wird dabei durchaus reflexiv betrachtet und versucht, wie Bruno De Wever im Prolog des Bandes schreibt, eine Verengung der Forschung auf die Dichotomie zwischen den Repräsentationsformen der Hollywood-Blockbuster und den verschiedenen Formen des Arthouse-Kinos zu vermeiden. Ferner wollen die Aufsätze der oben beschriebenen Bedeutung von Filmen für das historische Bewusstsein größerer Publikumsschichten ebenso gerecht werden, wie die auf normative Fragen reduzierte Diskussion über die Korrektheit filmischer Geschichtsdarstellungen aufbrechen (S. 5). De Wever formuliert außerdem einen spezifisch politischen Anspruch, indem er die Frage aufwirft, in welcher Weise historische Filme Teil nationaler Rhetorik, Legitimation und Identitätsbildung werden: „It is a complex network of histories, myths and symbols that are instrumental in (re-)inventing, justifying or otherwise reinforcing a nation’s self image.“ (S. 6)

Zwei Aufsätze stecken ein filmtheoretisches oder analytisches Feld ab, vor dem sich die Beiträge des Bandes lesen lassen. De Wever bringt den Begriff des Palimpsests in die Debatte. Er situiert die Überlegungen also in einem Geschichtsverständnis, das Momente des Fragmentarischen und des Diskontinuierlichen, mithin eine narrative Struktur von Geschichte bzw. Geschichtsschreibung voraussetzt: „This makes every historical film – and for that matter historiography itself – a palimpsest of mounted meanings, facts, images, experiences, memories, records, fantasies, structures, traditions, ideologies and stories.“ (S. 10) Leen Engelen knüpft an diesen Gedanken an und stellt ein Modell für die Analyse von historischen Filmen vor, das sich am Prinzip der Intertextualität orientiert. Sie geht dabei von Überlegungen über die oftmals aus Versatzstücken verschiedener Genres zusammengesetzten Erzählformen von historischen Filmen aus, die auf diese Weise eine hybride Struktur bekommen. Die Formen und Schemata treten mitunter offen zutage und öffnen die Filme hin zu anderen filmischen und kulturellen Texten. Auf diese Weise referieren sie einerseits auf Geschichte bzw. Geschichtsdarstellungen, andererseits auf andere Filme und Formen der Darstellung von Geschichte. Engelen betont daher die daraus resultierende Möglichkeit, verschiedene Kontexte in die Untersuchung einzubeziehen (S. 29).

Diese Modelle sind einerseits sehr hilfreich, weil sie versuchen, die Darstellungsformen von Geschichte, Muster, Stereotypen und Schemata in den Blick zu nehmen und zu analysieren. Ferner haben sich die kulturellen Debatten über die Postmoderne als ‚Ende der großen Erzählungen‘ auch in den ästhetischen Konzepten von zeitgenössischen Filmen niedergeschlagen. Auf diese Weise lassen sich also Wege und Verfahren der Verfertigung von Geschichte nachvollziehen und kritisieren. Drittens impliziert der Fokus auf intertextuelle Strukturen immer auch die Berücksichtigung der Tätigkeit der Rezipient/innen, die diese Verweise realisieren und auf deren unbewusste Erfahrungen oder bewusstes Wissen diese Formen ausgerichtet sind. Leider versäumen es De Wever und Engelen die beiden letztgenannten Perspektiven stärker mit einzubeziehen. Auf diese Weise werden die postmodernen Ansätze nicht kritisch reflektiert und modifiziert. Daraus resultieren auch methodische Schwierigkeiten, wie beispielsweise die Verträglichkeit zu der von De Wever vorgeschlagenen ideologiekritischen Lesart des Verhältnisses von Film und Nation. Denn es droht die Gefahr, dass auf diese Weise alles unterschiedslos zu ‚Erinnerungen’, ‚Ideologien’ oder ‚Fantasien’ wird. Ferner stellt sich die Frage wie die ‚neue’ postnationale Identität Europas reflektiert werden kann und wird.

Diese Schwierigkeiten schlagen sich auch in einigen der Beiträge des Bandes nieder. Roel Vande Winkel beispielsweise führt in seiner profunden Rekonstruktion des Filmprojekts „Der Untergang“ implizit wieder die Kategorie der historischen Korrektheit ein. Allerdings verkehrt er diese, indem er von der These ausgeht, dass aufgrund der symbolischen Formen des Films die vergangene Wirklichkeit besser getroffen werden kann, wenn historiographische Fakten modifiziert werden, als wenn diese einfach dargestellt werden ‚wie sie wirklich waren’. Diesem Ausgangspunkt kann durchaus zugestimmt werden. Indem aber Vande Winkel wiederum die historischen Fakten als Referenzpunkt einführt und sich weniger an den gewählten filmischen Mustern und Ausdrucksformen und ihrer Adressierung an die in einer spezifischen Gegenwart situierten Zuschauer orientiert, kommt er zu sehr positiven Urteilen über den Film. Obwohl die Macher des Films, wie Vande Winkel selbst anführt, die historische Authentizität zum Maßstab gemacht haben, weist er Kritik daran ab: „At the same time one cannot ask a film like ‚Downfall’ to document everything in the space of a feature film.“ (S. 205) Dieses Urteil würde jedoch jede weitere Diskussion und Analyse von historischen Filmen überflüssig machen. Ob und in wiefern einer historischen Wirklichkeit Gerechtigkeit widerfährt, lässt sich je nach Perspektive unterschiedlich bewerten. Entscheiden würde sich dieses Urteil erst auf Grundlage einer Perspektive, die den Blick auf die Gegenwart mit einbezieht. Dies aber würde auch Folgen für die filmische Form nach sich ziehen. Auch Momente des Bruchs, des Absurden, der Kenntlichmachung von konventionellen Formen und der Verblüffung gehören zum Inventar der Filmsprache. Diese müsste daher in Relation zu den historischen Fakten diskutiert werden.

Die einzelnen Beiträge sind zumeist doch an spezifischen, entweder historiographischen, filmhistorischen oder filmtheoretischen Ansätzen orientiert. Dies schmälert keineswegs den Gehalt der Aufsätze, die sowohl osteuropäische Filme („Andrei Rublev“ und „My Friend Ivan Lapshin“) als auch westeuropäische Geschichtsdarstellungen untersuchen. Thematisiert werden unterschiedliche Epochen der europäischen Geschichte, wie auch der europäischen Filmgeschichte. Hervorzuheben ist hier besonders die Wiederentdeckung von Karl Grunes „Waterloo“ aus dem Jahr 1928 und seine (film-)historische Kontextualisierung von Uli Jung.
Anzumerken ist lediglich die auffallende Absenz des europäischen Autorenfilms in dem Band. Dies mag den zahlreichen Publikationen zu dieser Epoche oder dem neuen Interesse an den Umbruchzeiten der Zwischen- und Nachkriegszeit geschuldet sein. Die enge Verbindung von Geschichte und Europa war jedoch gerade in den Filmen der neuen Wellen in den 1960er- und 1970er-Jahren ein verbindendes Element.

Insgesamt verfolgen die Beiträge einen pragmatischen Zugang zum Verhältnis von Medium und Geschichte, dem in den vergangenen Jahren eine kontinuierlich ansteigende Zahl von Forschungsarbeiten verpflichtet ist. Auf diese Weise repräsentiert der Sammelband einen durchaus heterogenen aber spannenden Querschnitt durch Geschichten und Geschichte Europas im Spiegel europäischer Filme.

Anmerkungen:
1 Vgl. Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschuggnall, Karoline, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Famileingedächtnis, Frankfurt am Main 2002, S. 15.
2 Vgl. z.B. Frölich, Margrit; Schneider, Christian; Visarius, Karsten (Hrsg.), Das Böse im Blick. Die Gegenwart des Nationalsozialismus im Film, München 2007; Kittkritik (Hrsg.), Deutschlandwunder. Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur, Mainz 2007.
3 Vgl. z.B. Nicholas, Sian; O’Malley, Tom; Williams, Kevin (Hrsg.), Reconstructing the Past. History in the Mass Media 1890-2005, London 2008; Guynn, William, Writing history in Film, London/New York 2006.
4 Toplin, Robert Brent, Reel history. In defense of Hollywood, Lawrence 2002.
5 Hohenberger, Eva; Keilbach, Judith, (Hrsg.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin 2003.
6 Rosenstone, Robert, Visions of the past. The challenge of film to our idea of history, Cambridge (Mass.) 1995.
7 Gerhard, Paul (Hrsg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006.

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