P. Fritzsche: Life and Death in the Third Reich

Cover
Titel
Life and Death in the Third Reich.


Autor(en)
Fritzsche, Peter
Erschienen
Cambridge/Mass. 2008: Belknap Press
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
$ 27.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Föllmer, School of History, University of Leeds

Seit den 1990er-Jahren hat sich der an der University of Illinois in Urbana-Champaign lehrende Peter Fritzsche als führender Historiker der Weimarer Republik etabliert. Seine empirischen Studien behandeln die populistische Mobilisierung der Rechten in Niedersachsen, den Kult um Flugzeuge und Piloten sowie die intellektuelle Faszination krisenhafter Umbrüchen und extremer Lösungen.1 Mit einem Band über die Anziehungskraft des nationalsozialistischen Konzepts der Volksgemeinschaft in Weimar und einem konzeptionell sehr anregenden Literaturbericht hat er auch synthetische Qualitäten bewiesen.2 Im Zentrum von Fritzsches Arbeiten zu Weimar steht die enorme Attraktivität eines neuen, an die Bedingungen und Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts angepassten Nationalismus. Aus dieser Perspektive hat er bereits vor längerer Zeit gegen die alltagsgeschichtliche Erforschung von „Resistenz“ die breite Popularität des nationalsozialistischen Projekts betont und als Reaktion auf die kontroverse Modernisierungsdebatte dessen spezifische Form von Modernität herausgearbeitet.3 Seine neueren Aufsätze beschäftigen sich mit der Erinnerung an das „Dritte Reich“, wobei Fritzsche auch literarische Thematisierungen von Walter Kempowski oder W.G. Sebald einbezieht.4

Vor diesem Hintergrund durfte man auf Fritzsches neues Buch über Life and Death in the Third Reich gespannt sein. Der Autor verfolgt damit einen dreifachen, wenn auch eher impliziten Anspruch: Erstens ist das Buch eine knappe Synthese der jüngeren Forschung, die cum grano salis eine breite Beteiligung der deutschen Gesellschaft an Nationalsozialismus und Holocaust herausgearbeitet hat. Zweitens ist es der bislang konsequenteste Versuch einer kulturhistorischen Darstellung des „Dritten Reichs“, in der die Konstruktion und Imagination von Leben und Tod im Zentrum steht. Die existenzielle „Alles-oder-Nichts“-Mentalität der Nationalsozialisten mit ihren mörderischen Folgen tritt in der Darstellung klar zutage. Dabei werden drittens durchweg zeitgenössische Wahrnehmungen und Reflektionen von Feldpostbriefen und Tagebüchern bis zu Romanen einbezogen. „Die“ Erfahrung des Nationalsozialismus wird so in multiple Perspektiven aufgelöst, was die zunehmenden Zweifel an der Adäquatheit episch breiter Erzählungen oder distanzierter Analysen für eine Periode der rapiden Umbrüche und extremen Gewalt reflektiert.5

Der erste Teil mit dem Titel „Reviving the Nation“ behandelt die Frage, wie die breite Übereinstimmung der Deutschen mit dem Nationalsozialismus hergestellt wurde. Eine Nationalistin wie Elisabeth Gebensleben aus Braunschweig überzeugte sich selbst von der Berechtigung des „Dritten Reichs“. Der Arbeiter Karl Dürkefälden aus Peine war Regimegegner, musste aber den verbreiteten Lagerwechsel sogar in der eigenen Familie notieren. Der Drehbuchautor Erich Ebermayer aus Leipzig hatte ebenfalls keine Sympathien für den Nationalsozialismus, entdeckte jedoch bald seine Liebe zum Landleben und ließ sich von Massenveranstaltungen sowie dem Anschluss Österreichs faszinieren. Ihre Briefe und Tagebücher zeigen, dass die Konversion zum Nationalsozialismus unter Druck stattfand, oft partiell blieb und ideologische Anstrengung erforderte, doch verbreitet genug war, um bei Verweigerern ein Gefühl der sozialen Isolation zu erzeugen. Der Grund lag in der hohen Attraktivität des Volksgemeinschaftsversprechens, das Fritzsche anhand von öffentlichen Reden und Ritualen, dem Wohlfahrtsaktivismus der NS-Organisationen, den neuen – realen oder antizipierten – Konsumchancen sowie der Dauerpräsenz von Radio und Film genauer konturiert.

Identifikation und Partizipation waren nicht zu haben, ohne sich früher oder später am „racial grooming“ der deutschen Gesellschaft zu beteiligen, wie Fritzsche im zweiten Teil analysiert. Millionen von Deutschen rekonstruierten unter zum Teil hohem Aufwand ihre Familiengeschichte, um einen Ahnenpass zu erlangen, während Juden wie Victor Klemperer Dokumente der Vergangenheit zurücklassen und stattdessen penibel ihren Besitz auflisten mussten. Normalität wurde dabei nach rassistischen Kriterien umdefiniert. Überzeugte Nationalsozialisten und wissenschaftliche Experten – oft in Personalunion – biologisierten das deutsche „Volk“, und die visuelle Kultur des „Dritten Reichs“ unterstützte diese Bemühungen. Lageraufenthalte und Sportwettbewerbe mobilisierten und integrierten bei aller unbestreitbaren Repressivität weite Teile der Bevölkerung. Die Einkerkerung von „Asozialen“ in Gefängnissen und Konzentrationslagern, die Sterilisierung von „Erbkranken“ und die Ausgrenzung von Juden waren die Kehrseite dieser Integration. Die Mehrheit der Deutschen akzeptierte die dahinterstehende Logik, wenn auch nicht immer die konkreten Maßnahmen.

Ein ähnliches Bild ergibt sich beim nationalsozialistischen „empire of destruction“, das im dritten Teil behandelt wird. Die scharfe Grenze zwischen Juden und Deutschen zeigt sich bereits im Kontrast zwischen den fragmentarischen Nachrichten und Aufzeichnungen jener und den für diese reichlich vorhandenen Feldpostbriefen. Der schnelle Sieg gegen Polen und die anfänglichen Erfolge gegen die Sowjetunion eröffneten neue Chancen zur Realisierung von Phantasien und Planungen der ethnischen Homogenisierung, was weibliche Freiwillige ebenso in Begeisterung versetzte wie den Gauleiter des Warthelandes Arthur Greiser oder den völkischen Schriftsteller Hanns Johst. Auch befanden sich nun wesentlich mehr Juden in der Gewalt des nationalsozialistischen Deutschland oder verbündeter europäischer Regime. Eine inzwischen langjährige Forschungsdiskussion resümierend argumentiert Fritzsche, dass der Schritt zur „Endlösung“ sowohl aus Siegeseuphorie als auch aus der Erfahrung zunehmender Rückschläge resultierte, weil beides als Bestätigung antisemitischer Überzeugungen gesehen wurde. Ferner betont er, dass zentrale und regionale Initiativen dabei zusammenwirkten und dass rassenideologische Motive gegenüber situativen Faktoren überwogen.

Abkommandierungen und Fronturlaube von Deutschen, Außeneinsätze von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen, Deportationen und vereinzelte Fluchtversuche von Juden prägten die mobile Welt der zweiten Kriegshälfte. Das beförderte die im vierten Teil behandelte „intimate knowledge“ um die nationalsozialistischen Verbrechen. Der Begriff umfasst sowohl die fragmentarische jüdische Zeugenschaft als auch die Mitwisserschaft weiter Teile der Mehrheitsbevölkerung. Diese wich dann im Zuge der sich abzeichnenden Niederlage einer zunehmenden Selbstdistanzierung, mit der sich die Deutschen zu „accomplices to the dismemberment of the knowledge about murder“ (S. 252) machten. Wegschauen, Gerüchte über Vergasungen, Berichte von Erschießungen an der Front und partielle Beteiligung etwa durch Ersteigerung von Möbeln Deportierter bildeten eine Mischung, die letztlich auf der Akzeptanz eines Stereotyps von „den“ Juden beruhte. Opfermentalität und Angst vor den Folgen einer Niederlage hielten die Bindung an das nationalsozialistische Projekt aufrecht, die auch von Goebbels’ selbstzerstörerischer Opferrhetorik nicht gesprengt wurde. Texte Ernst Jüngers halfen bei der Deutung des Kriegsendes, das weithin in eine anonymisierte Zivilisationsgeschichte eingeordnet wurde, in der die eigene Beteiligung verschwand.

Peter Fritzsche hat ein wichtiges Buch vorgelegt, eine gelungene Verbindung von pointierter Forschungssynthese und Thematisierung der subjektiven Dimension von Nationalsozialismus und Holocaust. Tagebücher und Briefe werden zuweilen eher illustrativ eingesetzt, ermöglichen aber vor allem im ersten und vierten Teil weitergehende Einsichten zur Konstruktion von Normalität und Außenseitertum und zur Wahrnehmung und Deutung einer als extrem empfundenen Zeit. Die Beteiligung am und selbstentlastende Distanzierung vom nationalsozialistischen Projekt werden dabei nicht nur deutlich herausgearbeitet, sondern kulturhistorisch interpretiert. Fritzsche bringt damit die NS-Forschung seit den 1990er-Jahren konzeptionell zu einem gewissen Abschluss und weist gleichzeitig über sie hinaus. Spannend bleibt zum einen, ob und wenn ja, wie sich sein Ansatz zu solchen Studien in Beziehung setzen lässt, die Repression und Terror auch gegenüber der Mehrheitsbevölkerung wieder stärker als konstitutives Moment der nationalsozialistischen Herrschaft in Erinnerung rufen.6 Zum anderen lässt sich in letzter Zeit eine gewisse Revitalisierung und Differenzierung soziologisch informierter Analysen beobachten, etwa zur Entfesselung von Gewalt oder zu Bürokratisierungsprozessen im „Dritten Reich“, deren Vermittlung mit kulturhistorischen Perspektiven hochinteressant wäre.7 Bei allem Respekt gegenüber den zahlreichen Positivisten unter den NS-Forschern: In Zukunft wird man wohl wieder stärker über konzeptionelle und theoretische Fragen diskutieren müssen.

Anmerkungen:
1 Fritzsche, Peter, Rehearsals for Fascism. Populism and Political Mobilization in Weimar Germany, New York 1990; ders., A Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination, Cambridge, Mass., 1993; ders., Breakdown or Breakthrough? Conservatives and the November Revolution, in: Jones, Larry Eugene; Retallack, James (Hrsg.), Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945, Providence u.a. 1993, S. 299-328; ders., Landscape of Danger, Landscape of Design: Crisis and Modernism in Weimar Germany, in: Kniesche, Thomas; Brockmann, Stephen (Hrsg.), Dancing on the Volcano. Essays on the Culture of the Weimar Republic, Columbia, S.C. 1994, S. 29-46.
2 Ders., Wie aus Deutschen Nazis wurden, München u.a. 1999; ders., Did Weimar Fail?, in: Journal of Modern History 68 (1996), S. 629-656.
3 Ders., Where Did All the Nazis Go? Reflections on Collaboration and Resistance, in: Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 23 (1994), S. 191-214; ders., Nazi Modern, Modernism/Modernity 3 (1996), 1, S. 1-22.
4 Ders., The Archive, in: History & Memory 17 (2005), S. 15-44; ders., Volkstümliche Erinnerung und deutsche Identität nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Jarausch, Konrad H.; Sabrow, Martin (Hrsg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte, Frankfurt u.a. 2002, S. 75-97; ders., W.G. Sebald’s Twentieth-Century Histories, in: Denham, Scott; McCulloh, Mark (Hrsg.), W. G. Sebald: History – Memory – Trauma, Berlin u.a. 2005.
5 Ersteres gilt bei allen Unterschieden sowohl für Burleigh, Michael, Die Zeit des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2000 als auch für Evans, Richard J., Das Dritte Reich, 3 Bde., Stuttgart 2004-2008. Ein klassisches Beispiel – auch sprachlich – distanzierter Analyse sind die Aufsätze von Hans Mommsen, gesammelt in ders., Von Weimar nach Auschwitz. Zur Geschichte Deutschlands in der Weltkriegsepoche, Stuttgart 1999. Siehe ferner Herbst, Ludolf, Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Frankfurt am Main 1995.
6 Evans, Richard J., Coercion and Consent in Nazi Germany, in: Proceedings of the British Academy 151 (2007), S. 53-81 unter: <http://www.proc.britac.ac.uk/tfiles/812887A/151p053-001.pdf> (19.6.2008) sowie verschiedene Beiträge in Gregor, Neil (Hrsg.), Nazism, War and Genocide. Essays in Honour of Jeremy Noakes, Exeter 2005.
7 Ziemann, Benjamin, ‚Vergesellschaftung der Gewalt’ als Thema der Kriegsgeschichte seit 1914. Perspektiven und Desiderata eines Konzeptes, in: Thoß, Bruno; Volkmann, Hans-Erich (Hrsg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich, Paderborn 2002, S. 735-758; Nolzen, Armin, Charismatic Legitimation and Bureaucratic Rule: The NSDAP in the Third Reich, 1933-1945, in: German History 23 (2005), S. 494-518.

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