Titel
Henri Hinrichsen und der Musikverlag C. F. Peters. Deutsch-jüdisches Bürgertum in Leipzig von 1891 bis 1938


Autor(en)
Bucholtz, Erika
Reihe
Schriftenr. wiss. Abh. d. Leo Baeck Inst. 65
Erschienen
Tübingen 2001: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
VIII, 367 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Sieg, Institut für Neuere Geschichte, Philipps-Universität Marburg

Musikhistorische Themen spielen in der deutschen Geschichtsschreibung bislang kaum eine Rolle. Zwar gilt die Musik seit den Reflexionen Thomas Nipperdeys vor mehr als zehn Jahren als genuiner Bestandteil bürgerlicher Allgemeinbildung, doch hat dies nur die Neugier weniger Historiker geweckt 1. In der Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte, die sich erst mit einiger Verzögerung den Problemen der Bürgertumsforschung zuwandte, sieht es noch schlechter aus.

Nun legt Erika Bucholtz eine Studie vor, die schon aufgrund ihres Gegenstands breites Interesse verdient. Sie behandelt mit "C. F. Peters" einen besonders angesehenen Musikverlag, dessen Inhaber mit fast allen berühmten Komponisten seiner Epoche in persönlichem Kontakt stand. Der Leser lernt einen akkulturierten deutschen Juden kennen, der seine Ideen zielstrebig verfolgte und schon während seiner Hamburger Schulzeit als "'immer sehr fleißig und fürchterlich brav'" galt (S. 20). Bildung und bürgerliche Lebensart waren für Henri Hinrichsen eine Selbstverständlichkeit. Selbst die sportliche Ertüchtigung als Reiter oder der Aufbau einer eigenen Kunstsammlung verbanden sich mit dem Erwerb "kulturellen Kapitals" (Pierre Bourdieu), das für beruflichen Erfolg und gesellschaftliches Prestige unabdingbar war.

Der Verlag C. F. Peters spezialisierte sich auf gediegene Klassikerausgaben, wobei das "Renommee des Hauses" das oberste Geschäftsprinzip bildete (S. 50). Dazu gehörte die Reserve gegenüber lauten Tönen in der Verlagswerbung oder der fast gänzliche Verzicht auf öffentliche Feiern. Jahrzehntelang gelang Henri Hinrichsen das Kunststück, die führenden Repräsentanten der Moderne unter Vertrag zu nehmen und zugleich ein Image makelloser Klassizität zu pflegen. Sein wichtigster Komponist war Edvard Grieg, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zenit seines Ruhms stand und sich der dauerhaften Gunst Wilhelms II. erfreute. Die geschäftlichen Beziehungen verliefen in freundschaftlichen Bahnen. Bereits 1889 hatte Hinrichsen einen Generalvertrag aufgesetzt, der eine Rente auf Lebenszeit für den gefeierten Künstler vorsah, dessen Produktivität nur selten zu wünschen übrig ließ. Weniger glücklich verlief die Beziehung zu Max Reger, der nicht definitiv an den Leipziger Musikverlag gebunden werden konnte. Und es ist nicht ohne Ironie, daß der gleichfalls dort unter Vertrag stehende Komponist Walter Niemann mit seinen scharfzüngigen Kritiken Reger aus der Stadt trieb.

Immer wieder legte Henri Hinrichsen Proben seines ungewöhnlichen Sachverstands ab. So erkannte er die künstlerische Bedeutung von Mahlers V. Symphonie und ließ sich von ihrem schwankenden Erfolg nicht irritieren, weil das "'bei wirklich bedeutenden Werken nun mal nicht anders ist'" (S. 140, Anm. 229). Gegenüber Arnold Schönberg machte Hinrichsen zu Recht geltend, daß seine Werke unter ihren schmucklosen Titeln sich nicht so recht verkaufen ließen. Der Meister des Atonalen charakterisierte Hinrichsen anfänglich als sympathischen, aber mittelmäßigen "Spießer" (S. 147, Anm. 262). Später überwog eine verständnisvolle Anerkennung, und 1950 widmete Schönberg seine "Fünf Orchesterstücke" dem mittlerweile verstorbenen Musikverleger, den er nun als "'grand seigneur'" betrachtete.

Ausführlich werden Hinrichsens Ehrenämter und Vereinsmitgliedschaften vorgestellt. In Leipzig, einem "Zentrum protestantischer Bürgerkultur" (S. 200), war ein hohes Maß an Geselligkeit für jeden erfolgreichen Geschäftsmann obligat. Wie viele Juden zeigte Henri Hinrichsen ein starkes Engagement im Wohltätigkeitsbereich. Im Bereich der Kommunalpolitik war er in nicht weniger als "fünfzehn Institutionen, Organisationen, Vereinen und Verbänden" tätig (S. 219). Gleichzeitig entfaltete er eine Stiftungstätigkeit, die von der Eröffnung einer Musikbibliothek über die Unterstützung der Leipziger "Hochschule für Frauen" bis zur Einrichtung einer wertvollen Musikinstrumentensammlung reichte. Sein Engagement für die "Weltgeltung deutscher Musik" trug ihm 1929 die Ehrendoktorwürde der örtlichen Philosophischen Fakultät (S. 262) ein. Der Respekt, der in dieser pathetischen Wendung zum Ausdruck kam, spielte vier Jahre später keine Rolle mehr.

Die drängenden Alltagssorgen jüdischer Familien und die gezielte Diskriminierungspolitik der Nationalsozialisten entzogen dem Verlag seit der "Machtergreifung" sein geschäftliches Fundament. Schon bald sah sich Henri Hinrichsen einer Fülle von Zumutungen ausgesetzt, gegen die er sich nicht öffentlich zur Wehr setzen konnte. Statt dessen schrieb er am 30. Juni 1933 einen Brief an den Leiter des "Reichskartells der deutschen Musikerschaft" Robert Havemann. In dem ergreifenden Dokument unterstrich Hinrichsen, wie sehr er sich der deutschen Musikkultur verpflichtet fühlte und beteuerte, daß er mit dem "entwurzelten internationalen Judentum" nichts gemein habe (S. 290). Eine Antwort auf sein Schreiben hat er nicht erhalten, und das Unglück aus Entrechtung, Vertreibung und Verfolgung nahm seinen Lauf. Martha Hinrichsen, die zuckerkranke Frau des Musikverlegers, starb nach erzwungener Emigration 1941 in Brüssel, "da sie als Jüdin kein Insulin erhielt" (S. 310). Er selbst wurde im September 1943 in Auschwitz ermordet.

All dies ist detailfreudig und in bemerkenswert sensibler Sprache dargelegt. Merkwürdig blaß bleibt freilich die Privatperson Henri Hinrichsen, was nicht nur auf das Fehlen eines persönlichen Nachlasses zurückzuführen sein dürfte. Vielmehr spiegelt sich darin die Tatsache, im welchem Ausmaß der Musikverleger seine öffentlichen Rollen akzeptierte. Gelegentlich hätte sich der Rezensent ein offensiveres Eingehen auf die Schattenseiten der bürgerlichen Welt gewünscht. So wird der Selbstmord von Hinrichsens Onkel Max Abraham nur dezent angedeutet, wobei die zeitgenössischen Formulierungen lediglich ahnen lassen, wie streng der bürgerliche Normenkodex war. Ähnliches gilt für das tragische Ende des Prokuristen Max Ollendorff. Er verwand es nicht, als ihn der älteste Sohn der Familie, Max Hinrichsen, langsam überflüssig machte, und erlag unmittelbar nach seiner Verabschiedung 1931 einem Schlaganfall.

Doch auch ohne starke Kontraste wird das Selbstverständnis eines elitären Verlags deutlich, dessen Marktposition nicht zuletzt ein Resultat harter Arbeit und taktvollen Umgangs mit Komponisten wie Musikliebhabern war. Ihrem Thema angemessen hat Erika Bucholtz ein "Buch der leisen Töne" vorgelegt. Behutsam und sachkundig stellt sie eine fremde Welt vor, die den Leser bald in ihren Bann zieht. Ihre Monographie verdeutlicht, wie fruchtbar Kategorien der Bürgertumsforschung im Bereich der Musikgeschichte sein können. Es bleibt zu hoffen, daß das Buch Schule macht; denn die in Festtagsreden so gern beschworene Interdisziplinarität ist hierzulande immer noch ein seltener Gast.

Anmerkung:
1 Besonders anregend: Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand, Berlin 1988.

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