Titel
Vergangenheit "begreifen". Die gegenständliche Quelle im Geschichtsunterricht


Autor(en)
Heese, Thorsten
Reihe
Merthoden historischen Lernens
Erschienen
Schwalbach/Ts. 2008: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€14,30
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Schmidtmann, Gymnasium St. Christophorus, Werne

Der Einsatz von schriftlichen und mittlerweile auch bildlichen Quellen ist Normalität im heutigen Geschichtsunterricht. Häufig stehen sie im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens. Dementsprechend intensiv wurde ihre Funktion und die Methodik ihrer Verwendung in der fachdidaktischen Diskussion reflektiert.1 Wenig Beachtung wurde dagegen historischen Sachzeugnissen als Quellengattung geschenkt, obwohl sie einen Großteil der historischen Überlieferung darstellen. Der Umgang mit ihnen wurde quasi an die Museen delegiert und aus dem Unterrichtsgeschehen ausgelagert, die Reflexion den Museumsfachleuten überlassen. Der Kurator für Stadtgeschichte am Kulturgeschichtlichen Museum Osnabrück Thorsten Heese möchte mit seiner Publikation erkennbar einen Beitrag leisten, Sachquellen aus diesem Schattendasein zu befreien. Eröffnen sie für ihn doch durch ihre spezifische Haptik, Ästhetik und Authentizität ein breites Spektrum historischer Lernmöglichkeiten, das in der gegenwärtigen schulischen Praxis noch nicht annähernd ausgeschöpft wird. Heese versucht daher im Einzelnen, diese Lernmöglichkeiten theoretisch zu begründen und auf dieser Grundlage eine „Methodik historischen Lernens mit gegenständlichen Quellen“ zu entwickeln. Auch auf Bezugsquellen für gegenständliche Quellen sowie ihre mögliche Systematisierung und Lagerung wird eingegangen. Den größten Teil des Buches nehmen freilich Unterrichtsbeispiele ein, die Möglichkeiten des Einsatzes von Sachquellen praktisch aufzeigen.

Die Verzahnung von theoretischen Überlegungen und praktischen Beispielen in einer Publikation ist zwar an sich außerordentlich sinnvoll. Allerdings erweist sich wieder einmal, dass das „Kleinarbeiten“ theoretischer Erkenntnisse ein sehr schwieriger Prozess ist. So fällt auch hier das Ergebnis zwiespältig aus. Zum einen weist das Buch zwar eine recht klare Struktur auf, bei den Inhalten der einzelnen Kapitel ist freilich eine gewisse Redundanz festzustellen. Immer wieder geht Heese in unterschiedlichen Kontexten mit oft ähnlichen Formulierungen auf die Vorzüge und Eigenarten gegenständlicher Quellen ein. Auch ist der manchmal abrupte Wechsel von abstrakten theoretischen Überlegungen zur Darstellung von Flohmärkten, Dachböden, Sperrmüll etc. als Bezugsquellen von gegenständlichen Quellen recht gewöhnungsbedürftig. Dabei können die grundsätzlichen Überlegungen durchaus überzeugen und bewegen sich auf der Höhe der derzeitigen Diskussion. Auf den Spuren Klaus Bergmanns sieht Heese den fragmentarischen und uneindeutigen Charakter von Sachquellen als ihren größten Vorteil an (S. 84f.). Ihre „Sperrigkeit“, die Tatsache, dass sie sich nicht sofort gänzlich erschlössen, sondern in besonderem Maße der Kontextualisierung bedürften, würde nicht nur ganz praktisch die Lernmotivation fördern, sondern einen „großen Spielraum für Reflexivität und Diskursivität“ eröffnen und damit den Schülerinnen und Schülern die nötige Freiheit, „durch das historische Lernen bis hin zur gewünschten Identitätserweiterung“, geben (S. 85). Dementsprechend verkörpert für ihn auch die Sachquelle, wie jede Quelle, keine feststehende Wahrheit. Im Gegenteil: Sie eigne sich in besonderem Maße dazu, Geschichtsunterricht nach den Grundsätzen der Multiperspektivität und Kontroversität zu gestalten, da das Objekt im Laufe seiner Geschichte ja verschiedene Kontexte durchlaufen habe und auch ganz unterschiedlichen Sichtweisen unterworfen gewesen sei (S. 28). Folglich erteilt Heese jedem illustrativen Umgang mit Sachquellen eine Absage. Immer wieder plädiert er für die Initialisierung offener Lernsituationen, für die Möglichkeit entdeckenden Lernens und die selbstständige Erschließung der in den Objekten „inkorporierten historischen Lebensspuren“ (S. 66) durch die Schülerinnen und Schüler. Die Persistenz von Erklärungslücken und das Offenbleiben von Fragen sind dabei ausdrücklich erwünscht, zeigten sie doch, dass Überlieferung lückenhaft und Geschichtsbilder daher immer konstrukthaft bleiben müssen (S. 46). Warum angesichts dieser grundlegenden Einsichten dann allerdings noch über viele Seiten eine an der traditionellen Heuristik orientierte Systematik gegenständlicher Quellen entfaltet wird, die in positivistischer Manier auf definitive Zuordnungen abzielt, bleibt unklar (Kap. 2.2.). Auch werden meines Erachtens die dargestellten Unterrichtsbeispiele den theoretischen Postulaten nur zum Teil gerecht. Sehr oft zielen sie auf einen in sich zwar überzeugend gestalteten, aber doch wieder der Rekonstruktion einer verbindlichen Geschichte verpflichteten problemorientierten Unterricht. Am Beispiel von Münzen werden z.B. wesentliche Stationen der deutschen Nachkriegsgeschichte erarbeitet, ein Bajonett regt weitere Recherchen zur Kriegführung im Ersten Weltkrieg an, ein Liquidations-Anteilschein der I.G. Farbenindustrie soll zur Auseinandersetzung mit der Rolle der I.G. Farben im Dritten Reich motivieren. Kaum jedenfalls geht es um die Konstruktion eigener unter Umständen konkurrierender „triftiger“ Geschichte(n) durch die Schülerinnen und Schüler, nie um die Dekonstruktion bestehender Geschichten.

Eher für die Arbeit in den unteren Jahrgangsstufen gedacht sind Vorschläge, in denen die (rekonstruierten) Sach“quellen“ nur Hilfsmittel sind, um einen handlungsorientierten Unterricht zu ermöglichen. Beim Schreiben mit mittelalterlichem Schreibwerkzeug, der Produktion von Papyrus oder dem Nachstellen einer archäologischen Grabungssituation dürfte es den Schülerinnen und Schülern freilich weniger um die besondere Qualität der gegenständlichen „Quelle“, als vielmehr um die damit ausgeführte Handlung gehen. Zudem fallen hier die Vorzüge der Authentizität, auf die Heese als motivierenden Faktor bei der Beschäftigung mit Sachquellen immer wieder verweist, natürlich weg. Dies alles sind keine Argumente gegen die vorgeschlagenen Unterrichtsbeispiele. Es erscheint nur schwierig, die Gestaltung jenseits praktischer Untersuchungsleitfragen (die auch geliefert werden) theoretisch fundiert aus den Eigenarten dieser doch sehr heterogenen Quellengattung heraus zu entwickeln. Weiterhin wird deutlich: Guter Unterricht mit Sachquellen kostet Geld und Zeit, ist häufig mit dem Aufsuchen außerschulischer Lernorte verbunden und fügt sich didaktisch sinnvoll oft nicht in das zeitliche Schema einer Schulstunde. Mehr noch als alle theoretischen Überlegungen dürfte das leider dazu führen, dass gegenständliche Quellen im Geschichtsunterricht trotz ihrer unbestreitbaren Vorzüge weiterhin nur eine Nebenrolle spielen werden.

Anmerkung:
1 Vgl. Michael Sauer, Bilder im Geschichtsunterricht. Typen – Interpretationsmethoden – Unterrichtsverfahren, Seelze 2000; Hans-Jürgen Pandel, Quelleninterpretation. Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 3. Aufl. 2006.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension