K. Urich: Die Bürgerbewegung in Dresden 1989/90

Cover
Titel
Die Bürgerbewegung in Dresden 1989/90.


Autor(en)
Urich, Karin
Reihe
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 18
Erschienen
Köln u.a. 2001: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
455 S.
Preis
€ 35,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva Sänger, Graduiertenkolleg "Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung". J.W.Goethe-Universität Frankfurt/ Gesamthochschule Kassel

Politischer Protest in der DDR und der Umbruch 1989/90 sind gleichermaßen komplexe und umstrittene Forschungsfelder, wie die Diskussionen über die Einschätzung von Opposition und Widerstand in der DDR zeigen, ebenso wie die Auseinandersetzung, ob die Kategorien der westdeutschen Bewegungsforschung für die Analyse politischen Protests in der DDR fruchtbar sind. 1.

Die an der TU Dresden als Dissertation angenommene Arbeit von Karin Urich verbindet diese Forschungsfelder mit Blick auf die Stadt Dresden exemplarisch und nimmt eine regional begrenzte Gesamtdarstellung vor. Die Umbrüche in Dresden zeichneten sich besonders durch die frühzeitige Institutionalisierung des Dialogs von BürgerInnen mit der SED-Führung, das „Dresdner Modell“, aus. Karin Urich verfolgt das Ziel, „die Besonderheiten der friedlichen Revolution in Dresden historiographisch [zu] rekonstruieren und so heraus[zu]arbeiten, welchen Stellenwert die Dresdner Bürgerbewegung in der Gesamtentwicklung der friedlichen Revolution hatte“ ( 21).

Die Arbeit erhebt den Anspruch „alle erreichbaren Quellen zu berücksichtigen“ (20) und Karin Urich erschließt eine Vielzahl neuer Dokumente. Neben dem Zentralarchiv des Beauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit greift sie auf das Archiv der Bürgerbewegung der Stadt Leipzig, das Stadtarchiv und das sächsische Hauptstaatsarchiv in Dresden und auf eine Vielzahl von Privatbeständen zurück und führte 50 Interviews.

Die Entwicklung der Dresdner oppositionellen Gruppierungen und Netzwerke, die Karin Urich als “Vorstufe zur Bürgerbewegung” (13) betrachtet, wird - thematisch geordnet - in Einzeldarstellungen von Anfang der 80er Jahre bis 1989 bzw. 1991 ausgeführt. Ein zentrales gruppen- und kirchenübergreifendes Forum war die ökumenische Versammlung, die die Erfahrungen der Beteiligten explizit zum Ausgangspunkt ihrer Diskussionen nahm. Sie fungierte als „Parlament der kirchlichen Gruppen und Entscheidungsträger“ (120) und stellte eine entscheidende Voraussetzung der Bürgerbewegung vor allem durch die Möglichkeit der Einübung von Gewaltlosigkeit dar. Für die Kirchenleitung in Dresden waren die mit der SED-Bezirksleitung geführten Gespräche ein „Übungsfeld, Konflikte im Gespräch zu lösen“ (120). Damit war auch die Kirchenleitung im Herbst 1989 darauf vorbereitet, „den Dialog zwischen Staat und Volk zu moderieren und seinen Fortgang zu garantieren“ (120).

Eine wichtige Rolle bei der weiteren „Formierung des Protests“ (121) spielte im Frühjahr und Sommer 1989 der Widerstand des Ökologischen Arbeitskreises gegen das geplante Reinstsiziliumwerk Dresden-Gittersee und die Überwachung der Kommunalwahlen im Mai 1989. Dem Ökologischen Arbeitskreis gelang es erfolgreich, im Bündnis mit Friedens- und Umweltgruppen und Kirchengemeinden, durch den Protest gegen das geplante Werk in Form von Demonstrationen und Bittgottesdiensten eine begrenzte Öffentlichkeit herzustellen.

Der Auslöser für die massenhafte Mobilisierung der Menschen im Herbst 1989 war jedoch das Anwachsen der Ausreisebewegung. Detailliert beschreibt Karin Urich in diesem Zusammenhang die in Dresden gewalttätig aufgelösten Demonstrationen rund um den Hauptbahnhof Anfang Oktober als „Initialzündung für die Opposition in Dresden“ (149) und arbeitet die Verantwortlichkeit Hans Modrows als Bezirkseinsatzleiter für die unrechtmäßige Festnahme vieler Menschen heraus. Diese Übergriffe waren in Dresden neben der allgemeinen Krisensituation ein relevanter Grund für die zunehmenden Proteste, die von Kulturschaffenden an den Dresdner Bühnen ebenso öffentlichkeitswirksam artikuliert wurden wie von einer steigenden Anzahl demonstrierender Menschen, die sich im Anschluss an Fürbittgottesdienste zusammenfanden.

Auch die von der SED initiierten Dialogveranstaltungen konnten die zunehmende Delegitimierung der SED nicht mehr aufhalten. Akzentuiert arbeitet Karin Urich hier die ambivalente Rolle des Ersten Sekretärs Modrow und von Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer heraus. Entgegen den Anweisungen aus Berlin zeigten sich diese reform- und dialogwillig und wollten der (von ihnen mitverursachten) Gewalt ein Ende setzten. Sie waren jedoch – so Urich - letzten Endes auf Machterhalt ausgerichtet. Der Umschwung, d.h. die Beendigung der gewalttätigen Situation in Dresden, kam mit der Entstehung der Gruppe der 20 zustande, die sich in einer prekären Situation im Verlauf einer Demonstration aus der Mitte der Demonstranten heraus gründete und von Berghofer als inoffizieller Gesprächspartner anerkannt wurde. In der Folge wurde DDR-weit der erste öffentliche Dialog zwischen BürgerInnen und Staat jenseits der etablierten Gremien institutionalisiert, eine Zusammenarbeit die Karin Urich als „Garant für den Erfolg des Dresdner Modells“ (192) bezeichnet.

Zudem eröffnete die Gruppe der 20 den Gruppierungen der sogenannten ersten Gründungswelle, d.h. Demokratischer Aufbruch, Neues Forum und SDP, auf deren Gründungsgeschichte sie detailliert eingeht, neue Handlungsspielräume. In diesem Zusammenhang kann Urich zeigen, welchen großen Einfluss das Ministerium für Staatssicherheit noch hatte, da es ihm gelang, die regionale Gründung des Neuen Forums im Vorfeld einstweilig zu verhindern.

Anstelle eines Runden Tisches arbeiteten in Dresden engagierte BürgerInnen in den Zeitweiligen Arbeitsgruppen der Stadtverordnetenversammlung mit, und es etablierte sich die aus mehreren Bürgerrechtsgruppierungen bestehende basisdemokratische Fraktion, die zwar das Stimmrecht ablehnte, jedoch Sitz und Rederecht in der Stadtverordnetenversammlung hatte. Karin Urich hebt hervor, dass im Unterschied zum Neuen Forum, dem Demokratischen Aufbruch und der SDP, die Gruppe der 20 aufgrund der spezifischen Gründungssituation und der Einzahlung von einer Mark durch 100.000 BürgerInnen auf das Konto der Gruppe als einzige „Dresdner Gruppe der Bürgerbewegung über eine direkte Legitimation der Demonstranten“ ( 268) verfügte, während die anderen Gruppen zum einen intern nicht ausreichend legitimiert waren, da sie „Gründungen von oben“ waren (267) und zum anderen über eine „Legitimation durch die Bevölkerung [...] bis zu den Volkskammerwahlen“ (268) nicht verfügten.

Mit der regional und überregional einsetzenden Delegitimierung der SED, dem Mauerfall und der Option der Wiedervereinigung kam es zu umstrittenen programmatischen Veränderungen in den Gruppen hinsichtlich der nationalen Frage und der angestrebten Wirtschaftsordnung sowie zu einer Ausdifferenzierung des Gruppenzusammenhangs. Karin Urich erweitert an dieser Stelle ihre Perspektive um eine parteiengeschichtliche Dimension und geht auf die sogenannte zweite Gründungswelle ein. Neben Gründungen aus dem Bewegungsspektrum wie Grüne Liga und Vereinigte Linke stellt sie die Geschichte der dem ökologischen Spektrum verbundenen Grünen Partei, der aus dem Neuen Forum hervorgehenden Forumpartei sowie der Deutsch-Sozialen Union (DSU) dar. Zum Schluss wird der Weg der Gruppen der ersten Gründungswelle in die parlamentarische Demokratie, ihre Bündnisverhandlungen und -abkommen und der Aufbau parteipolitischer Strukturen bis in den Anfang der 90er Jahre hinein in Einzeldarstellungen ausführlich nachvollzogen.

Insgesamt führen die Einzeldarstellungen im Verlauf der Arbeit zu Redundanzen, da Karin Urich bei der Beschreibung der einzelnen Gruppen jedes Mal erneut in der historischen Chronologie zurückgehen muss. Weiterhin gehen durch den thematisch abgegrenzten Blick auf einzelne Gruppen und Handlungsbereiche übergreifende Zusammenhänge verloren. Zum Beispiel gerät die gravierende Veränderung politischer Gelegenheitsstrukturen für soziale Bewegungen im Kontext des Umbruchs aus dem Blickfeld, wenn Aktivitäten einzelner Gruppen in einer rein ereignisgeschichtlichen Perspektive bis weit in die 90er Jahre hinein dargestellt werden und in der Folge auch die unterschiedliche Bedeutung, die politischem Handeln in einem staatssozialistischen autoritären Regime und in einer parlamentarischen Demokratie mit zivilgesellschaftlichen Handlungsspielräumen zukommt.

Obwohl sich Karin Urich in konzeptioneller Hinsicht einleitend auf die Bewegungsforschung und die Ausführungen von Detlev Pollack, Karsten Timmer und Hubertus Knabe bezieht, bleibt unklar, was sie letztendlich unter Bürgerbewegung versteht und nach welchen Kriterien außer der „Erreichbarkeit“ sie ihre Quellen auswählt und ihren Forschungsgegenstand konstituiert.

Zur Bürgerbewegung zählt sie die Gruppen der ersten und der zweiten Gründungswelle. Nicht deutlich werden die Kriterien, nach denen sie die Gruppen der zweiten Gründungswelle bestimmt. Gleichermaßen geraten Gruppen, Bewegungsorganisationen und Parteien wie die Grüne Partei und die Deutsch-Soziale Union ins Blickfeld, während andere Bewegungsorganisationen wie der Unabhängige Frauenverband oder die PDS als Partei ausgespart werden.

Da Karin Urich konzeptionell wenig zwischen sozialen Bewegungen und Parteien unterscheidet, bewertet sie die Gruppen der ersten Gründungswelle allesamt nach dem Kriterium der demokratischen Repräsentation und Legitimation, ohne zu berücksichtigen, dass sich soziale Bewegungen hauptsächlich über die Mobilisierung von Menschen konstituieren und somit gerade im Unterschied zu Parteien sozialen Wandel jenseits formaldemokratisch legitimierter Verfahren herbeiführen oder aufzuhalten suchen.

Im Fazit hätte man sich ein systematisches Aufgreifen der eingangs aufgeworfenen Fragen und eine vergleichende Perspektive gewünscht. Karin Urich konstatiert zwar, dass das Dresdner Modell eine „andere demokratische Qualität“ (419) als der Runde Tisch hatte, da es von „innen“ heraus Einfluss nahm, im Unterschied zum Runden Tisch, der von „außen“ Einfluss nahm, sie führt jedoch nicht weiter aus, worin der Unterschied in der demokratischen Qualität liegt. Vor dem Hintergrund der sich rasant verändernden Rahmenbedingungen, der massiven Delegitimierung der SED, des zunehmende Einflusses westdeutscher und internationaler politischer und ökonomischer Akteure erklären statisch-räumliche Begriffe wie „innen“ und „außen“ nur annähernd die enorme Dynamik und Veränderung der institutionellen Machtverhältnisse im Verlauf des Umbruchs. Anzumerken ist zudem noch, dass ausgerechnet Teile des Fazits zum Teil wortwörtlich übernommene Passagen bzw. ganze Absätze aus anderen Kapiteln beinhalten 2.

Karin Urich hat eine sehr gründliche und im Detail informative Arbeit geschrieben, die auf einer breiten Quellenbasis beruht. Eine Strukturierung der enormen Materialfülle entlang einer erkenntnisleitenden Fragestellung wäre der Arbeit jedoch sehr zugute gekommen und hätte den Erkenntnisgewinn und die Lesbarkeit deutlich gesteigert.

Anmerkungen:
1 Ehrhart Neubert, Bernd Eisenfeld: Macht Ohnmacht Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR. Bremen 2001; Ansgar Klein, Hans-Josef Legrand, Thomas Leif (Hgg): Neue Soziale Bewegungen. Impulse, Bilanzen und Perspektiven. Opladen 1999, Teil III, S. 167-195.
2 Vgl. Fazit S. 417 mit S.317 und 318; Fazit S. 418 mit S. 318 und 319; Fazit S. 416 mit S. 268 und 317.

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