G. Botz: Nationalsozialismus in Wien

Cover
Titel
Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39


Autor(en)
Botz, Gerhard
Erschienen
Anzahl Seiten
734 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Suppanz, Institut für Geschichte/Abteilung Zeitgeschichte, Karl-Franzens-Universität Graz

Das Thema des Nationalsozialismus in Wien stellt für Gerhard Botz, Professor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, ein Lebenswerk im engeren Sinne dar. Denn wie Botz selbst erläutert (S. 10), begann er mit den Vorarbeiten zu seiner Studie bereits 1965; 1978 erschien die Arbeit unter dem Titel „Wien vom ,Anschluß’ zum Krieg. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39“. Nach zwei weiteren, 1980 und 1988 (diese bereits als „Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme und Herrschaftssicherung 1938/39“) erschienenen Auflagen ist das Buch nun in überarbeiteter und erweiterter Form erneut publiziert worden.

Die Neuauflage einer wissenschaftlichen Arbeit dreißig Jahre nach ihrem erstmaligen Erscheinen weist natürlich ihre Problematik auf. Im Vergleich zur Fassung von 1978 sind unveränderte Passagen mit Einschüben, Neufassungen von Absätzen und Kapiteln, aktualisierten Literaturhinweisen und einigen neuen Kapiteln zu einem Werk zusammengefügt. Neue Inhalte bieten beispielsweise das Kapitel über die geplante „Endlösung“ der „Tschechenfrage“, die Einarbeitung von Ergebnissen der Historikerkommission der Republik Österreich bezüglich der „Arisierungen“ und die neu formulierte Schlussbetrachtung, die die empirische Forschung und Theoriebildung zum Nationalsozialismus in den letzten Jahren einbezieht.

Thema des Buches ist „die nationalsozialistische Politik in Wien vom März 1938 bis zum Vorabend des Zweiten Weltkrieges“. Die Charakterisierung durch Botz als „sozialgeschichtliche Politikgeschichte im Bereich einer Großstadt“ (S. 9) beschreibt den Ansatz der Studie prägnant. In chronologischer Erzählung, beginnend mit der nationalsozialistischen Machtübernahme, informiert sie auf einer ungemein breiten Quellenbasis über den institutionellen Bereich der NS-Herrschaft in Wien, die nationalsozialistische Durchdringung der Gesellschaft und partiell auch die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen. Die Wechselwirkungen von Staat bzw. Bürokratie und Partei sowie die Bestrebungen des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats, auf um ihre Autonomie ringende Sphären der Gesellschaft (z.B. katholische Kirche) Einfluss zu nehmen, stehen im Mittelpunkt der Darstellung. Wiederholt wird auf Ernst Fraenkels These des „Doppelstaates“ verwiesen, in dem „Rechtsstaat“ und „Maßnahmenstaat“ zwei zusammengehörige (obwohl einander teils konterkarierende) Aspekte des NS-Herrschaftssystems darstellen. Tatsächlich stellt dieses Modell eine Leitperspektive des Buches dar. „Nationalsozialismus in Wien“ lässt sich als Fallstudie zur Dynamik des Verhältnisses zwischen „autoritär-ordnungsstaatlichen“ Elementen und der Autonomie des Nationalsozialismus als „Bewegung“ lesen. Botz macht dabei auf den Prozesscharakter dieses Verhältnisses aufmerksam und zeigt, dass dieser Dualismus stets als gleichzeitige Verflechtung von Staat und Partei zu sehen ist.

Die Untersuchung konzentriert sich in den ersten zwei Kapiteln auf die Ereignisse des „Anschlusses“ und die „Volksabstimmung“ am 10. April 1938. Der Abschnitt „Der Nationalsozialismus im Aufbau“ untersucht Partei, Bürokratie, antijüdische Politik, Stadtverwaltung und -planung, im weitesten Sinne sozialpolitische Maßnahmen der NSDAP in Wien (inkl. das Werben um die Arbeiterschaft) sowie den Umgang mit den Gegnern der neuen Herrscher. Diese Themen fasst Botz unter der Rubrik „autoritär-ordnungsstaatliche Herrschaftssicherung“ zusammen und führt sie im vierten Kapitel „Fragwürdiger Frieden (1938/39)“ fort. Inhaltlich kommt in diesem Teil ein kurzer Abschnitt über die Südostpolitik des Deutschen Reiches und die Funktion Wiens in ihr dazu. Die Zusammenfassung „Krisenerscheinungen und radikalisierte NS-Politik“ charakterisiert diesen Abschnitt, der einerseits den Beginn des organisierten Widerstands, andererseits die zunehmende Dominanz des Elements der „Bewegung“ thematisiert. Der Epilog zu diesem Teil über die Vernichtung der Wiener Juden von 1940 bis 1945 ist daher eine adäquate Erweiterung des Kapitels.

Der letzte Abschnitt befasst sich mit „Vielschichtigkeit und Ambivalenz nationalsozialistischer Herrschaft“. Zunächst untersucht Botz die Beziehungen zwischen der Partei als Fokus der „Bewegungskräfte“ und den traditionalen Herrschaftsträgern Staat und Wirtschaft sowie zwischen der „institutionellen Anarchie“ und dem „charismatischen Führer“ im nationalsozialistischen Reich. Diese Überlegungen führen ihn zur – zumindest für den behandelten Zeitraum weitgehend bejahten – Frage, ob sich die NS-Politik in Wien als „Zustimmungsdiktatur“ (Götz Aly) beschreiben lässt. In diesem Kontext spielt Botz` Begriff der „negativen Sozialpolitik“, die die Enteignung und Vertreibung der Wiener Juden/Jüdinnen (und auf Planungsebene später der Wiener TschechInnen) als Arbeitsbeschaffungs-, Mittelstands- und Wohnungspolitik deutet, eine zentrale Rolle. In einem letzten Abschnitt wird die Frage nach dem „Sonderfall Wien“ gestellt, untersucht anhand der speziellen Beziehung zwischen Hitler und Wien sowie den Rückwirkungen der Eingliederung Wiens auf das Reich. Eine vom Linzer Zeithistoriker Karl R. Stadler verfasste Abhandlung zum Thema „Provinzstadt im Dritten Reich“, die der Auflage von 1978 vorangestellt war, schließt das Buch ab.

Sind Neuauflagen von „Klassikern“ in der Regel von primär wissenschaftshistorischem Interesse, so ist das zentrale Anliegen in diesem Fall, mit einem in wesentlichen Teilen in den 1970er Jahren formulierten Werk den aktuellen Forschungsstand zu repräsentieren und mitzudefinieren. Das ist wohl der Grund dafür, dass ein „modifiziert Otto Bauer`scher faschismustheoretischer Ansatz“ (S. 36 der 1. Auflage) nicht mehr als theoretische Grundlage angegeben wird. Einige wenige Textstellen, wie die Bezeichnung der Beamten und Angestellten als „soziale Zwischenschichten“ (S. 79), wirken jedoch anachronistisch. In Details des umfangreichen Werkes wurde die Notwendigkeit der Überarbeitung übersehen. So ist auch in der Neuauflage die Rede davon, dass die Begeisterung beim „Anschluss“ auch nach 40 Jahren (= 1978) schwer verständlich sei (S. 99).

Die Arbeit ist von der Auffassung von Geschichte als historischer Sozialwissenschaft und als Gesellschaftsgeschichte geprägt (S. 28). Dieser Ansatz gemeinsam mit umfangreichem neuem Quellenmaterial zum Thema Nationalsozialismus machte die Erstauflage des Buches zu einer höchst innovativen Studie in der österreichischen Geschichtswissenschaft. Die Dominanz dieses sozialgeschichtlichen Zugangs ist aus heutiger Sicht erneut auffällig, denn spezifisch kulturwissenschaftliche Ansätze werden nur marginal herangezogen. „Kultur“ – beispielsweise die Perspektive der Repräsentation des Regimes und der Inszenierungen als Mittel der Durchsetzung von Deutungshegemonie – tritt als von Macht- oder Gesellschaftspolitik abgeleitetes Phänomen auf. Der für das Wiener Städteimage zentrale Aspekt der „Hochkultur“ findet keine Berücksichtigung wie auch Theorien der Urbanität, die bei den Ausführungen zur Stadtplanung herangezogen werden könnten. Das markanteste gegenüber der Erstauflage neu eingeführte Konzept, die Rezeption von Götz Alys Thesen zum „Volksstaat“ und zur „Zustimmungsdiktatur“, steht wiederum in einer Tradition sozial- und gesellschaftsgeschichtlicher Zugänge im engeren Sinne. Diese kommen auch in einer der zentralen Fragestellungen des Buches, jener nach der schicht- und milieuspezifischen Akzeptanz und Rezeption der nationalsozialistischen Ordnung(svorstellungen), zum Ausdruck.

Eine weitere wesentliche Perspektive des Buches ist der „Sonderfall Wien“. Fragen nach den Spezifika des nationalsozialistischen Wiens im Reich und im Vergleich zu den österreichischen Ländern werden immer wieder gestellt. So weise Wien eine vergleichsweise geringere politische Anpassungsbereitschaft auf (S. 673) 1, und das sowohl linke als auch konservativ-rechte Widerstandsprofil stelle auch im Reichsmaßstab ein Charakteristikum dar (S. 676). Trotz der wiederholt durchgeführten Vergleiche wäre es allerdings interessant, die komparative Ebene bezüglich der Städte im NS-Staat expliziter einzubringen. Die systematische Einbeziehung von Studien auf regionaler und lokaler Ebene beispielsweise zur Sozialstruktur der NS-AnhängerInnenschaft könnte das Bild des „Nationalsozialismus in Wien“ noch deutlicher konturieren.

Diese Desiderata, denen man beispielsweise noch den Wunsch nach einer expliziten Darstellung des Repressionsapparates (Gestapo etc.) hinzufügen könnte, hätten selbstverständlich eine wesentlich aufwendigere Überarbeitung der Vorlage bedingt. Sie ändern nichts daran, dass die Aktualisierung der ausführlichen Studie insgesamt gelungen ist und dass es lohnend ist, kontroversielle Ansätze und Thesen wie jene der „negativen Sozialpolitik“ oder des „Volksstaates“ am Fallbeispiel der Stadt Wien (wieder) zur Diskussion zu stellen. Die Entscheidung des Mandelbaum-Verlags zur Publikation einer Überarbeitung dieses „Klassikers“ ist als Verdienst zu werten.

Anmerkung:
1 Und nicht „eine weniger geringe politische Anpassungsbereitschaft“, wie es wohl irrtümlich im Text heißt.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch