R. Asch: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit

Cover
Titel
Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung


Autor(en)
Asch, Ronald
Erschienen
Köln 2008: UTB
Anzahl Seiten
333 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Th. Gräf, Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Marburg

„Totgesagte leben länger.“ Diese beliebte Redewendung wurde in den vergangenen Jahren oft bemüht, um das Phänomen des Adels im neuzeitlichen Europa zu beschreiben. Weder staatlich-politische Prozesse oder revolutionäre Umbrüche – etwa der „Absolutismus“ oder die Französische Revolution – noch gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen – etwa das Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft oder die Industrialisierung – haben zum völligen Verschwinden dieser in sozialer, rechtlicher und kultureller Hinsicht herausragenden und für das feudale Alteuropa konstitutiven gesellschaftlichen Formation geführt. Nicht zuletzt deshalb hat dieses Thema in der deutschen wie auch insgesamt in der europäischen Geschichtswissenschaft der letzten beiden Jahrzehnte eine beträchtliche Aufmerksamkeit erlebt.

Zum einen greift man mit dem Adel eben eine gesellschaftliche Formation, die mit ihren Strategien des „Obenbleibens“ geradezu Leitbildfunktion als Elite beanspruchen kann.1 Zum anderen, und hieraus speist sich wohl vor allem das breite öffentliche Interesse, wie es sich in den letzten Jahren in großen einschlägigen Ausstellungen niedergeschlagen hat, steht der Adel eben doch irgendwie für Kontinuität, Wertekonservatismus, für ‚Landleben und europäischen Geist’2, Leisure-Class etc., kurzum, alles Dinge, die in der einen oder anderen Hinsicht den tatsächlich oder vermeintlich globalisierungsgeschädigten Mittelklasseangestellten und ebenfalls schon öfters totgesagten Bildungsbürgern ebenso naheliegen wie den lebensstilunsicheren New-Economy-Gewinnern.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Synthese aus der Feder eines der besten Kenner der europäischen Adelsgeschichte zu begrüßen. Ronald Asch vermittelt auf höchstem Niveau nicht nur solides Faktenwissen, sondern liefert auch eine Einführung in die aktuellen Forschungsdiskussionen. Der geografische Schwerpunkt der Darstellung liegt auf Westeuropa – vor allem auf England, Frankreich und Deutschland –,Skandinavien, Südeuropa und Ostmitteleuropa bleiben dennoch nicht unberücksichtigt. Die knapper gehaltenen Passagen, etwa zu Polen oder Ungarn, entschuldigt der Autor mit seinen in diesen Fällen eingeschränkten „sprachlichen Kompetenzen“ (S. VII). Angesichts der ausgewiesenermaßen verarbeiteten fremdsprachlichen, neuesten Fachliteratur mag man dies als understatement registrieren; dank der stets beibehaltenen strikt komparatistischen Betrachtungsweise verspürt man hier allerdings kein Defizit.

Zum Inhalt: In der Einleitung nähert sich Asch in Abwägung der Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Adelsforschung einem definitorischen Kern. Adel ist für ihn in der Frühneuzeit bereits weitaus mehr als ein durch Geburt bestimmter mehr oder weniger exklusiver Stand. Vielmehr sei Adel bereits vor 1800 „eine soziale Gruppe, die sich über die Erinnerung definierte, eine Erinnerungsgemeinschaft, und eine Elite, die die Fähigkeit besaß, sich in Krisensituationen ganz neu zu erfinden“ (S. 12). Es sind insbesondere diese beiden Eigenschaften bzw. Kriterien, die dem Adel das Überleben nach dem Untergang der geburtsständischen Welt Alteuropas ermöglichten. Im ersten Kapitel über den „Adel als Stand zwischen sozialer Konvention und juristischer Norm“ lässt er die in den europäischen Ländern durchaus unterschiedlichen Definitionen von Adel Revue passieren. Angesichts der Neudefinition des Adels im 16. Jahrhundert im Zuge der Renaissancekultur und des Aufstiegs des höfischen Europas sowie angesichts der Praxis der Standeserhöhungen und Nobilitierungen wirft Asch die Frage nach der Einheitlichkeit bzw. Heterogenität des europäischen Adels auf. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Herrschaft des Adels auf dem Lande, seinen wirtschaftlichen Ressourcen und korporativen Rechten. Auch hier wird ein weites Panorama entworfen, das von den unermesslich reichen Magnatenfamilien und Latifundienbesitzern bis hin zu den in Armut geratenen Adelsfamilien reicht. Das dritte Kapitel über „das adelige Haus und seine Angehörigen“ behandelt zunächst Ehe und Familie, wobei der Autor durchaus eine Lanze für das Brunnersche Konzept des „ganzen Hauses“ als Einheit von Verwandtschaft, Herrschaftsbeziehungen und wirtschaftlichen Funktionen bricht. Der neueren Klientelismusforschung folgend, macht er aber darüber hinaus deutlich, dass es auch das hochkomplexe Geflecht von Gönnern, Freunden und Klienten war, das ein adeliges „Haus“ erst richtig zum „Symbol adliger Macht und Mittelpunkt adeliger Existenz“ werden ließ, das sich dann insbesondere in den großen Landsitzen der Renaissance, den prächtigen barocken Schlossbauten und den glänzenden Stadtpalais ein entsprechendes Gehäuse schuf.3 Im vierten Kapitel beschreibt Asch, wie der überwiegende Anteil des Adels gegenüber dem gelehrten Bürgertum erfolgreich aufholen und die bis zum Dreißigjährigen Krieg bestehenden Bildungsdefizite durch galante Bildung und Politesse überwinden konnte. Dabei waren insbesondere adelige Bildungsanstalten, die Hofschulen und Ritterakademien, wichtige Institutionen und ermöglichten ein Bestehen im „Kampf um die kulturelle Hegemonie“ (S. 156).

Das Handinhandgehen mit dem „absolutistischen“ Fürstenstaat und die Orientierung am Fürstenhof ist bei gleichzeitiger ständischer Konkurrenz innerhalb der politischen Sphäre nur eine der zahlreichen und zu Recht immer wieder betonten Brechungen in der adeligen Existenz der Frühen Neuzeit. Am deutlichsten tritt dies vielleicht in dem für die frühneuzeitliche Geschichte zentralen Feld von Religion, Konfession und Kirche hervor, dem sich das fünfte Kapitel widmet. Asch kann hier vor allem an englischen, aber auch an französischen und österreichischen Beispielen zeigen, wie viele adelige Familien, auf „Bewahrung des Besitzes und Vermögens, aber auch des sozialen Status“ (S. 173) bedacht, gegenüber der konfessionell zunehmend monistisch auftretenden Zentralmacht zweigleisig fuhren. Insbesondere im Katholizismus und Calvinismus blieben sie in länderübergreifende Netzwerke eingebunden – bei gleichzeitigem zumindest partiellen Arrangement mit der anderskonfessionellen Landesherrschaft. Mit dem „Schlachtfeld und höfischen Parkett“ umreißt Asch im sechsten Kapitel die klassischen „Wirkungsfelder des Adels“. Was beide verbindet, und hierauf legt der Autor besonderen Wert, ist das neue Leitbild des gebildeten Hofmannes, der den adeligen Krieger ablöst. Dies zeigt er anhand der Entwicklung vom Ritter zum Militärunternehmer und schließlich zum Offizier innerhalb des stehenden Heeres auf. Anstelle der recht ausführlich diskutierten Eliasschen Frage, inwiefern der „Hof als Ort der Domestizierung des Adels“ (S. 225) fungierte, hätte man sich eine Darstellung der Entwicklung der Diplomatie gewünscht. Hier nämlich gelang es dem Adel im Laufe des 17. Jahrhunderts, ein Tätigkeitsfeld innerhalb des Mächteeuropa zu entwickeln und bis in das 20. Jahrhundert geradezu zu monopolisieren, in dem er nicht allein seine kulturelle und bildungspolitische Überlegenheit erproben, sondern auch seine alteuropäische Inter- bzw. Übernationalität im Dienste des (früh-)modernen Staates einbringen und ausleben konnte. Damit ist auch schon der Bereich des siebten Kapitels benannt, nämlich „Staatsbildung und adelige Selbstbehauptung“. Es geht dabei um das durchaus ambivalente Verhältnis von staatlicher Autorität und Adelsmacht, also um die Frage, inwiefern die Bürokratisierung und die Durchsetzung eines staatlichen Gewaltmonopols die Adelsmacht zurückdrängte. Asch kommt hier zu einem ausgewogenen Ergebnis: Einerseits konstatiert er die tatsächliche Einbindung des Adels in den frühmodernen Staat und seine Verwaltungs-, Herrschafts- und Rechtsstrukturen. Andererseits betont er aber auch den daraus resultierenden eminenten Anteil des Adels am Aufbau und dem Funktionieren des frühmodernen Fürstenstaates.

Das letzte Kapitel „Adelskritik und Adelskrise im 18. Jahrhundert“ nimmt das Ende des Ancien Régime in den Blick, wobei insbesondere die Steuerpolitik der europäischen Staaten ab der Mitte des 18. Jahrhunderts als ein „Angriff auf die adeligen Privilegien“ (S. 286) thematisiert wird. Die enorme Nobilitierungswelle, die während des 18. Jahrhunderts und auch in der Napoleonischen Zeit fast überall in Europa einen zahlreichen Dienstadel neben den alten Schwert- und Uradel stellte, führte auch zu einer Neudefinition des Adels nach Wohlstand und Leistung. Die Vermutung von Asch, dass die Behauptung des Adels angesichts dieser Umbrüche der Sattelzeit mit seiner Qualität als „eine auf neuen Fundamenten konstruierte Erinnerungsgemeinschaft“ (S. 298f.) in Zusammenhang steht, möchte man im Ausblick um zwei Aspekte erweitern: Zum einen blieb er durch seine Ämter und Funktionen innerhalb der Staaten, sei es als Landrat in Preußen, als Parlamentsmitglied in England oder Minister in Frankreich Teil der Herrschaft, also seiner hergebrachten Sphäre, wenngleich er die Herrschaft nun gleichsam delegiert ausübte. Zum anderen erschloss sich dem Adel mit der Relativierung der Standesgrenzen die sich entfaltende Wirtschaft. Hier hätte eine Relativierung der Epochenschwelle um 1800 insbesondere für Mitteleuropa weiterführende Erkenntnisse liefern können. Denn die sogenannte Grundlastenablösung Mitte des 19. Jahrhunderts gab dem Adel Kapital in die Hände, das ihm den Einstieg in Industrieunternehmen genauso ermöglichte, wie die Modernisierung seiner agrarischen Eigenwirtschaften, was den bäuerlichen Kleinbetrieben oft nicht gelang. Der Verfall der Getreidepreise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte so durch die Veredlung in Brauereien und Schnapsbrennereien zumindest teilweise abgemildert werden.

In der wahrscheinlich noch ansteigenden Flut adelsgeschichtlicher Fachpublikationen wird diesem Band zweifellos eine Leuchtturmfunktion zukommen, insofern er Orientierung bietet: Die realgeschichtlichen Entwicklungslinien werden anhand systematischer Leitlinien zuverlässig nachgezeichnet sowie Fragestellungen und Themenfelder der aktuellen Forschung zielsicher auf den Punkt gebracht.

Anmerkungen:
1 Bei diesem Begriff handelt es sich übrigens nicht nur um einen auf Werner Sombart, Joseph Schumpeter oder Rudolf Braun zurückgehenden Forschungsterminus. Bereits Feodora von Hohenlohe-Langenburg (1807-1872) warf im Jahre 1846 ihrem Bruder, Fürst Karl Friedrich Wilhelm zu Leiningen (1804- 1856), bayerischer Reichsrat und späterer Ministerpräsidenten der Frankfurter Nationalversammlung, vor, nur seinen Nutzen zu verfolgen, „indem Du das schnelle Rad noch schneller gehen machst, das uns zermalmt, und hoffst und glaubst oben zu bleiben.“ Zit. nach Franz Prinz zu Sayn-Wittgenstein, Durchläuchtige Welt, München 1959, S. 240.
2 Otto Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688, Salzburg 1949.
3 Von kunsthistorischer Seite vermisst man hier die Arbeiten aus dem Umfeld von Hans Lange, München und Ulrich Schütte, Marburg.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension