B. Fassbender: Der offene Bundesstaat

Titel
Der offene Bundesstaat. Studien zur auswärtigen Gewalt und zur Völkerrechtssubjektivität bundesstaatlicher Teilstaaten in Europa


Autor(en)
Fassbender, Bardo
Reihe
Jus Publicum 161
Erschienen
Tübingen 2007: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
495 S.
Preis
99 Euro
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Kirsch, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt Universität Berlin

Eine Geschichte des europäischen Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert ist bislang nicht geschrieben worden. Vor dem Hintergrund einer sich verstärkenden Institutionalisierung der Europäischen Union seit 1992, aber auch der föderal angelegten Verfassungsreformen in Italien, Belgien und Österreich in den letzten beiden Jahrzehnten sowie den gescheiterten bundesstaatlichen Ordnungen in der Tschechoslowakei und in Jugoslawien hat die historische Forschung diese Frage zwar aufgegriffen, aber eine intensive Durchdringung des komplexen Themas steht noch aus.1

Mit seiner Habilitationsschrift hat Bardo Fassbender, seit August 2008 Professor für Internationales Recht an der Universität der Bundeswehr München, eine wichtige Schneise geschlagen, welche die zukünftige Forschung wird beachten müssen. Die auch für Nicht-Juristen gut lesbare Studie befindet sich auf der Schnittstelle von Staatsrecht, Völkerrecht und Verfassungsgeschichte. In beeindruckend langer historischer Perspektive – vom 19. Jahrhundert bis zur jüngsten Föderalismusreform von 2006 – entwickelt er den Typus des „offenen“ Bundesstaates als einer europäischen Besonderheit, welcher er den „geschlossenen“ Bundesstaat, wie er sich in den USA herausbildete, gegenüberstellt. Die Entwicklung des Bundesstaates in Deutschland seit 1867 steht dabei im Mittelpunkt, aber durch die Einbeziehung und Charakterisierung der Rechtsentwicklung in der Schweiz, Belgien, Österreich, Italien, Spanien, der EU und den USA wird eine Perspektive des Vergleichs ermöglicht. Angesichts dieser Breite und auch der Länge des zeitlichen Fokus muss sich Fassbender auf ein zentrales Element des Bundesstaates konzentrieren: die auswärtige Gewalt der bundesstaatlichen Teilstaaten.

Im ersten Kapitel gibt er einen fundierten Überblick zur europäischen Entwicklung (S. 31-81) – der „offene Bundesstaat“ europäischer Prägung zeichnet sich durch seine Offenheit gegenüber der Völkerrechtsgemeinschaft aus, so dass auch die Gliedstaaten eigene völkerrechtliche Beziehungen zu auswärtigen Staaten – etwa mit Hilfe von Verträgen oder dem Gesandtschaftsrecht – knüpfen können. Im Gegensatz dazu stehen die USA, die aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte – Erfahrung der Notwendigkeit der nationalen Einheit im Unabhängigkeitskrieg sowie fehlende längere Tradition der Einzelstaaten vor Erlass der Bundesverfassung (S. 80) – allein der Bundesgewalt die auswärtige Kompetenz zuordnen.

Eigentlich müssten nun chronologisch betrachtet die Inhalte des Dritten Kapitels folgen, welches einen Bogen vom Westfälischen Frieden 1648 bis zum Erfurter Unionsprojekt 1849/50 schlägt (S. 162-200). Stattdessen widmet sich Fassbender zuerst der Schlüsselzeit der Entstehung des „offenen“ Bundesstaates in Deutschland von 1867 bis 1871. Auf Basis der gedruckten Quellen und der Sekundärliteratur zeichnet er detailliert die Entstehung der entsprechenden Regeln der Norddeutschen Bundesverfassung von 1867 und der Reichsverfassung von 1871 nach (S. 91-161). Dieser Abschnitt gehört zu den stärksten des Buches, denn hier arbeitet Fassbender nicht nur dogmengeschichtlich, sondern auch stark verfassungshistorisch, indem er sechs zentrale Gründe (S. 104-109) für die Entstehung dieses föderalen Verfassungstyps anführt: 1) Die Beibehaltung des einzelstaatlichen Vertrags- und Gesandtschaftsrechts sollte Bismarck über Preußen einen persönlichen Einfluss auf die neue Staatenverbindung sichern; 2) die Rechtsregel nahm Rücksicht auf die gewachsene Tradition in den Einzelstaaten (zum Beispiel herrscherliches Selbstverständnis, Korpsbewusstsein der Diplomaten); 3) sie war Ausdruck der antiparlamentarischen Intention Bismarcks, das Reich als Fürstenbund zu verstehen, und damit den Fürsten via völkerrechtlicher Teilrechte bei künftigen Verfassungsänderungen einen Einfluss zu sichern; 4) sie hielt die „heikle Souveränitätsfrage“ (S. 106) nach den Kompetenzen des Oberhauptes des Bundes offen, denn der preußische König sollte ja als primus inter pares der verbündeten Fürsten erscheinen; 5) die Aufrechterhaltung der auswärtigen Kompetenzen für die Einzelstaaten war aus der Sicht Bismarcks von 1866 politisch unschädlich, da weder Sachsen noch die Hansestädte die preußische Dominanz bedrohen konnten, und schließlich barg 6) eine sofortige komplette Übertragung der Außenpolitik auf die Bundes- bzw. Reichsgewalt die Gefahr von außenpolitischen Komplikationen, denn die Zentralgewalt trat ja nicht automatisch in die bisherigen preußischen Verträge ein, so dass zumindest für eine Übergangszeit eine pragmatische Lösung notwendig war. Die Gründe für die Entstehung dieser Rechtsregel des europäischen Typs des Bundesstaates waren also eine Mischung aus dem innen- und außenpolitischen Machtkalkül Bismarcks und einer dem einzelstaatlichen Selbstbewusstsein Rechnung tragenden Symbolpolitik.

Die gefundenen rechtlichen Regelungen der föderalen Verhältnisse entsprangen damit sicherlich einer spezifischen Situation in Deutschland, ohne dass dabei auf ausländische Vorbilder zurückgegriffen werden konnte. Aus diesem Befund auf die gesamte Verfassung zu schließen – wie Fassbender es tut (S. 156) – verkürzt aber die Entstehungsgeschichte der Reichsverfassung auf unzulässige Weise: Auch die Verfassung von 1871 sah in ihrer Grundstruktur einen monarchischen Konstitutionalismus vor, welcher die Regierung letztlich allein vom Vertrauen des Monarchen abhängig machte, und griff damit auf das über die süddeutschen Konstitutionen von 1818/19 und die preußischen von 1848/50 transportierte Modell der französischen Charte von 1814 zurück.

Im vierten Kapitel stellt Fassbender die Blütezeit der auswärtigen Hoheitsrechte der Bundesstaaten im Kaiserreich dar, wobei hier im Einzelnen die ausschließlichen Kompetenzen des Reiches bzw. der Bundesstaaten und die konkurrierenden Vertragskompetenzen aufgeführt werden. Das fünfte Kapitel widmet sich der Weimarer Reichsverfassung und verweist dabei auf die Kontinuitätselemente der föderalen Ordnung, die aber neben einer Demokratisierung der Bundesstaaten einer Tendenz zur Unitarisierung unterlag, da man die Verträge der Länder nunmehr einem Zustimmungserfordernis des Reiches unterwarf, womit über das Vorbild der Paulskirche von 1849 auf die amerikanische Verfassung zurückgegriffen wurde (S. 260). Bedauerlicherweise beschränken sich beide Kapitel auf die Rechtsregeln und die Debatte in der Staatsrechtslehre, so dass der Leser nichts über die tatsächliche Anwendung, und damit über die politische Wirklichkeit erfährt.

Dies ist im nachfolgenden Kapitel zu Artikel 32 des Grundgesetzes glücklicherweise anders: Der Autor erläutert nicht nur die Gründe für die Übernahme des Prinzips des „offenen“ Bundesstaates, indem er auf die starke Stellung der Länder bei der Entstehung des westdeutschen Nachkriegsstaates verweist (S. 263f.), sondern er widmet sich auch der Frage, warum die Länder seit 1949 so wenig Gebrauch von ihrer Kompetenz machten. Aus seiner Übersicht über die Verfassungspraxis von 1949 bis 2004 ergibt sich, dass nicht etwa Bayern mit seiner stark die einzelstaatliche Tradition betonenden Politik an der Spitze steht, sondern Rheinland-Pfalz (44 Vereinbarungen) gefolgt von Baden-Württemberg und dem Saarland. Die Länderunterschiede lassen sich bislang nur mit einer unterschiedlichen Verwaltungspraxis und dem damit einhergehenden Erfahrungswissen erklären, während die allgemeine Zurückhaltung der Länder die Gegenbewegung des Bundes widerspiegelt, der von 1949 bis 2006 kontinuierlich seine Gesetzgebungskompetenzen mit Hilfe der Vermehrung der Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 GG) ausbaute. Die an sich bestehende Chance der Länder, ein „Europa der Regionen“ mitzugestalten, haben sie bislang kaum genutzt (S. 390).

Die Zukunft des „offenen“ Bundesstaates in Europa sieht Fassbender deshalb auch nicht in der Zunahme der Tätigkeit der deutschen, österreichischen und italienischen Länder bzw. Regionen im Rahmen der EU, sondern eher auf der Ebene der Nationalstaaten im Rahmen eines sich gerade ausbildenden Verfassungsbundes auf europäischer Ebene (S. 448-453). Bardo Fassbender hat ein wichtiges Buch zur europäischen Verfassungsgeschichte geschrieben – faszinierend zu sehen ist, wie die im machtpolitischen Tagesgeschäft der Nationalstaatsgründung 1867/70 entwickelte Rechtsnorm mit hoher kultureller Symbolfunktion an Bedeutung verlor, um nach 140 Jahren unter vollkommen gewandelten historischen Bedingungen für pragmatische Lösungen bei der Entstehung eines europäischen Bundesstaates zur Verfügung zu stehen.

Anmerkungen:
1 Oliver Janz / Pierangelo Schiera / Hannes Siegrist (Hrsg.), Zentralismus und Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland und Italien im Vergleich, Berlin 2000 (ital. 1997); Hans-Jürgen Becker (Hrsg.), Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte, Berlin 2006; Leslie Friedman Goldstein, Constituting federal sovereignty: the European Union in comparative context, Baltimore, Md. 2001; Dieter Langewiesche, Zentralstaat – Föderativstaat. Nationalstaatsmodelle in Europa im 19. und 20. Jh., in: Ders., Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, München 2008, S. 180-193.

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