Cover
Titel
Basare und Boulevards. Belgrad im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Mišković, Nataša
Reihe
Zur Kunde Südosteuropas
Erschienen
Anzahl Seiten
418 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicole Münnich, Berlin/Leipzig

Seit einigen Jahren erlebt die Stadt- und Urbanisierungsforschung einen neuen Boom. Allein in Berlin entstanden seit 2005 zwei neue Zentren zur Erforschung von Metropolen.1 Auch in der Forschung zu Südosteuropa gewinnt die Thematik Stadt eine immer größere Bedeutung.2 Von einigen Aufsätzen abgesehen3 fehlen jedoch zu den meisten südosteuropäischen Städten fundierte Monographien, zudem in nicht-südosteuropäischen Sprachen.4 Mit ihrer Dissertation legt die Schweizer Historikerin Nataša Mišković nun ihren eigenen Worten zufolge „die bisher erste wissenschaftliche Abhandlung über die Geschichte Belgrads, die außerhalb Ex-Jugoslawiens in einer westlichen Sprache erscheint“ (S. 21) vor.

Unterteilt ist „Basare und Boulevards“ in vier Hauptkapitel, denen ein Prolog und ein Schluss voran- bzw. hintangestellt sind. Im Hauptteil der Arbeit wird ein Bogen gespannt von den 1830er-Jahren bis zum Ersten Weltkrieg, vom Leben auf dem Dorf bis hin zu den Lebenswelten der Belgrader Elite. Nataša Mišković will damit „den SerbInnen“ vom Land in die Stadt folgen und dabei deren soziale Ausdifferenzierung nachzeichnen (S. 40). Dies könnte man als die Forschungsleitlinie verstehen, eine konkrete Forschungsfrage benennt die Autorin indes nicht. So präsentiert sich die Arbeit dem Leser denn auch als buntes Potpourri verschiedener inhaltlicher Schwerpunkte, bezieht sozialgeschichtliche Themen wie die Entwicklung der Zünfte ebenso ein wie ethnographische Beobachtungen beispielsweise des Kleidungsstils der Belgraderinnen und deren romantischen Vorstellungen von Liebe und Ehe. Letzteres erklärt sich vor allem daher, dass Mišković einen großen Teil ihres Quellenmaterials nach eigener Aussage in einer Zeit gewonnen hatte, als sie noch plante, die Geschlechterbeziehungen der Belgrader Oberschicht zu erforschen. Dies merkt man dem Buch, das an manchen Stellen unentschlossen wirkt, an. Nach der Lektüre von Ginzburgs Buch über den Bauern Menocchio 5 habe sie sich entschlossen, „die Seite zu wechseln und die Perspektive der historischen Subjekte einzunehmen“ (S. 15). Wer aber jene historischen Subjekte sind, lässt Mišković offen.

Im ersten Kapitel wendet sie sich dem Dorf zu, das im Zuge der Autonomie des serbischen Fürstentums von den Osmanen mit großen strukturellen Veränderungen konfrontiert war. Die Autorin illustriert die Schwierigkeiten, die der neu entstehende serbische Staat mit der Durchsetzung des staatlichen Machtmonopols auf dem Lande hatte (S. 89f.) – dabei referiert sie zwar den Forschungsstand6, entwickelt ihn jedoch nicht weiter. Auch Miškovićs Kritik am Begriff der Zadruga sowie ihre Ausführungen zum Leben in der bäuerlichen Großfamilie rekapitulieren lediglich die Sekundärliteratur und hätten durchaus in der Einleitung abgehandelt werden können, zumal in den vergangenen zehn Jahren dank des Forscherkreises um Karl Kaser in Graz bereits etliche Arbeiten zur historischen Familienforschung auf dem Balkan und zur Kritik am Begriff der Zadruga entstanden sind. 7 Der Leser, der eine Stadtgeschichte Belgrads erwartet, muss sich bis zum Beginn des zweiten Kapitels (also bis zur Seite 147) gedulden, denn bis dahin kommt Belgrad nur als Anlaufstelle für Petitionen vor. Dieses Herangehen an eine Monographie über die Stadt Belgrad überrascht. Auch das zweite Kapitel beschäftigt sich nur kurz mit dem Belgrad der osmanischen Zeit, genauer gesagt mit Belgrad als Ort von Zuwanderung und Judenfeindlichkeit sowie als Stadt der Zünfte. Das übrige Kapitel ist eine minutiöse diplomatiegeschichtliche Schilderung jener Ereignisse im Juni 1862, die zum endgültigen Abzug der bereits auf das Gelände der Festung zurückgedrängten osmanischen Soldaten führten.

Mit Ausführungen zur Stadt Belgrad geht es erst im vierten Kapitel weiter und zwar nach einem zeitlichen Sprung von den 1860er-Jahren an den Beginn des 20. Jahrhunderts. Statt der Stadtentwicklung in der spannenden Zeit des Umbruchs nach dem endgültigen Abzug der Osmanen (1867) nachzuspüren, konzentriert sich Mišković im dritten Kapitel auf die Beschreibung der „Gründergeneration“ und auf das „Entstehen der serbischen Nationalideologie“ (S. 239). Dieser Abschnitt, der vom Kosovo-Mythos und Načertanje handelt, lehnt sich an das von Miroslav Hroch Ende der 1960er-Jahre entwickelte Nationsbildungsmodell an. Dabei haben neuere Arbeiten wie die von Claudia Weber gezeigt, dass dergleich top-down-Konzepte, die suggerieren, eine Elite habe ein nationales Programm entwickelt und dies dann im Volk verbreitet, den komplexen Prozess der Entstehung von nationalen Gemeinschaften als Erinnerungsgemeinschaften nicht abbilden.8

Das vierte Kapitel ist einerseits den aufkeimenden Großstadtproblemen gewidmet, mit denen Belgrad am Beginn des 20. Jahrhunderts zu kämpfen hatte. Zum anderen wird anhand von zehn Unternehmern und der Familie des Politikers Stojan Novaković die neue Elite portraitiert. Dabei versteigt sich die Autorin zuweilen in Spekulationen über das Ehe- und Familienleben von Stojan und Jelena Novaković (S. 333). Spätestens in diesem Abschnitt fällt das Ungleichgewicht der Quellen auf. Es ist vorstellbar, dass es leichter ist, schriftliche Zeugnisse der des Schreibens mächtigen Oberschicht heranzuziehen. Doch muss sich Mišković an ihrem eigenen Versprechen aus der Einleitung messen lassen, sowohl die Oberschicht als auch die Unterschicht mit Hilfe ihrer Quellen einer „lebensgeschichtlichen Tiefenanalyse“ zu unterziehen (S. 39f.). Leider hat sie die Chance verpasst, das städtische Alltagsleben anhand der von ihr besonders hervorgehobenen Polizeiakten, die „Auskünfte über die Unterschichten geben“ sollten (S. 40), zu rekonstruieren und zu analysieren.

Miškovićs Quellenauswahl bleibt fragwürdig. Als Einleitung für das zweite Kapitel hat sie sich für ein Zitat entschieden, das von Vorurteilen und westeuropäischem Hochmut gegenüber dem Orient geradezu durchdrungen ist – ohne dies jedoch zu thematisieren. Mehr als drei Seiten lang zitiert sie aus dem 1844 veröffentlichten Reisebericht „Eothen“ des britischen Aristokraten Alexander Kinglake, dessen Beschreibung Belgrads die Autorin als „eine der frühesten, die es gibt“ (S. 147) bezeichnet. Diese Einschätzung ist schlicht falsch. Gerade weil Belgrad am Schnittpunkt zweier Imperien lag, gab es seit dem Mittelalter eine rege Reisetätigkeit, verstärkt seit dem 16. Jahrhundert. 9 Es bleibt unklar (weil unbegründet), wieso die Autorin ausgerechnet diesen Text ausgewählt hat – insbesondere, da sie sich in ihrer Einleitung mit Maria Todorova argumentierend 10 vehement gegen eine Vorurteile bestätigende stereotype Wahrnehmung Südosteuropas aus westlicher Perspketive (S. 13f.) und gegen „Eurozentrismus“ (S. 29) wendet. Miškovićs Einschätzung, dass die serbische und muslimische Lebenswelt verquickt waren und der Ablösungsprozess ein langer und schwieriger war, ist zutreffend, doch dass sie als Beleg ausgerechnet Kinglake anführt (S. 157), bleibt unverständlich. Bereits Edward Said hatte für Kinglakes Reisebericht „Eothen“ nur vernichtende Kritik übrig. 11

Insgesamt ist der Text deskriptiv angelegt, auch wenn Mišković ihr Buch in der Einleitung eine „analysierende, interpretierende Erzählung“ (S. 21) nennt. Was er vermissen lässt, sind Problemaufrisse und Fragestellungen. Auf der sprachlichen Ebene fallen missglückte Vergleiche, Ungenauigkeiten und zahlreiche Redundanzen auf. Irritierend sind auch die abrupten Kapitel-Enden, zumal sich die Autorin eindeutig im Ton vergreift, wenn sie salopp über die Frau auf dem Lande schreibt: „Dies [Geld oder Geschenke, N.M.] oder ein netter Liebhaber ließ sie Prügel und Vergewaltigung etwas leichter ertragen“ (S. 127).

Mišković hat es verpasst, eine Geschichte Belgrads zu schreiben, in die städtischen Strukturen einzudringen und das Werden der Stadt zu analysieren. Dies ist der serbischen Historikerin Dubravka Stojanović gelungen, die in diesem Jahr ebenfalls eine Monografie über Belgrad im 19. Jahrhundert veröffentlich hat. 12 Darin zeigt Stojanović, wie Stadt- und Gesellschaftsgeschichte verbunden werden können.

Aller hier vorgebrachten Kritik zum Trotz ist „Basare und Boulevards“ ein gut lesbares, schön gestaltetes Buch – Voraussetzung nur: Der Leser muss sich von seiner Erwartung lösen, eine Stadtgeschichte geboten zu bekommen. Es ist eine mit bunten Zitaten angereicherte Zusammenfassung des Forschungsstandes zur serbischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, aber nur bedingt eine Geschichte Belgrads. Diese steht in deutscher Sprache nach wie vor aus.

Anmerkungen:
1 Das „Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung“ an der Humboldt-Universität zu Berlin und das „Center for Metropolitan Studies“ an der Technischen Universität Berlin.
2 So stand beispielsweise die renommierte 47. Hochschulwoche der Südosteuropa-Gesellschaft in diesem Jahr unter dem Titel „Urbanisierung und Stadtentwicklung in Süosteuropa vom 19. bis zum 21. Jahrhundert“.
3 Hier zu nennen sind vor allem die Bände 9 (2005) und 10 (2006) der Zeitschrift Ethnologia Balkanica.
4 Eine Ausnahme bildet folgendes Überblickswerk: Todorov, Nikolai, The Balkan City, 1400-1900, Seattle 1983.
5 Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt am Main 1979.
6 „Hauptgegner war der Staat, sobald er sich in die Angelegenheiten des Dorfes einmischte, wobei es ziemlich belanglos war, ob es sich dabei um einen ,National‘- oder einen ,fremden‘ Staat handelte“; Holm Sundhaussen, Geschichte Serbiens. 19. - 21. Jahrhundert, Wien 2007, S. 45.
7 siehe unter anderem: Karl Kaser, Familie und Geschlechterbeziehungen, in: Karl Kaser u.a. (Hrsg.), Historische Anthropologie im südöstlichen Europa. Eine Einführung, Wien 2003, S. 153-74; zum Begriff der Zadruga: Ulf Brunnbauer, Gebirgsgesellschaften auf dem Balkan. Wirtschaft und Familienstrukturen im Rhodopengebirge (19./20. Jahrhundert), Wien 2004, S. 35-42.
8 Claudia Weber, Auf der Suche nach der Nation. Erinnerungskultur in Bulgarien von 1878 – 1944, Berlin 2006.
9 Zoran Konstantinović, Deutsche Reisebeschreibungen über Serbien und Montenegro, München 1960; Božidar Jezernik, Western Perceptions of Turkish Towns in the Balkans, in: Urban History, 2 (1993), S. 211–30.
10 Maria Todorova, Imagining the Balkans, New York 1997.
11 „Kingslake's undeservedly famous and popular work is a pathetic catalogue of pompous ethnocentrisms and tiringly nondescript accounts of the Englishman's East“, voller „anti-Semitism, xenophobia, and general allpurpose race prejudice“, Edward W. Said, Orientalism, New York 1978, S. 193.
12 Dubravka Stojanović, Kaldrma i asfalt. Urbanizacija i evropeizacija Beograda 1890-1914 [Pflastersteine und Asphalt. Die Urbanisierung und Europäisierung Belgrads 1890-1914], Beograd 2008. Bereits kurz nach Erscheinen der ersten Auflage wurde eine zweite Auflage gedruckt – für ein geschichtswissenschaftliches Werk in Serbien sehr ungewöhnlich.

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