S. Gerhardt: Die Außenpolitik der polnischen Regierung von 1989 bis 2004

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Titel
Polska Polityka Wschodnia. Die Außenpolitik der polnischen Regierung von 1989 bis 2004 gegenüber den östlichen Nachbarstaaten Polens (Russland, Litauen, Weißrussland, Ukraine)


Autor(en)
Gerhardt, Sebastian
Reihe
Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung 16
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 404 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffi Franke, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Der Begriff der Ostpolitik steht im deutschen Kontext – eng verknüpft mit den Namen Egon Bahrs und Willy Brandts – für den Beginn eines langsamen Wandels der Beziehungen der alten Bundesrepublik zu ihren östlichen Nachbarn seit den späten 1960er-Jahren, vor allem zur DDR, aber auch zu Polen. So wenig, wie die große Bedeutung der östlichen Dimension westdeutscher Außenpolitik für das Selbstverständnis des vereinten Deutschlands und die Gestaltung Europas in der gesamtdeutschen Diskussion bestritten wird, so wenig sind in diesem Zusammenhang die Inhalte, Strategien und historischen Bedingungen der Ostpolitik des zweitgrößten Nachbarn, der Republik Polen, bekannt. Welch große Rolle die „Polityka Wschodnia“ jedoch einerseits in den innerpolnischen Auseinandersetzungen, andererseits für die Verortung Polens in der erweiterten Europäischen Union und bei deren Umgang mit ihren neuen östlichen Nachbarn spielt, kann die vorliegende Studie von Sebastian Gerhardt ebenso differenziert wie faktenreich vermitteln.

Als Adressaten der polnischen Ostpolitik gelten in dieser Untersuchung neben Russland vor allem die Ukraine, Weißrussland und Litauen, wobei Gerhardt die vielfach unterstellte Russland-Fixierung dieser Politik zu differenzieren vermag. Im Mittelpunkt der Analyse steht der Zeitraum 1989 bis 2004. Die Arbeit orientiert sich theoretisch und methodisch am Ansatz des PAFE-Projektes an der Universität Trier 1, das sich der vergleichenden Außenpolitik-Forschung in Europa widmet und in dessen Rahmen die Studie entstanden ist. Ausgehend von einer „’moderat-konstruktivistischen’“ (S. 7) Position wird die Annahme vertreten, dass das außenpolitische Verhalten eines Staates maßgeblich durch die Diskurse um die nationale Identität geprägt ist. Ziel des Ansatzes ist es, zentrale „’Identitätselemente’“ (S. 8) und die „sie rechtfertigenden Argumentationsketten“ (ebd.) zu rekonstruieren. Dieser Ansatz wird modifiziert auf das Transformationsland Polen angewandt, da sich das PAFE-Projekt bisher vor allem mit den alten EU-Mitgliedstaaten beschäftigt hat.

Anhand dreier Fallstudien zur Minderheiten-, Handels- und Grenzsicherheitspolitik will der Autor die übergeordnete Frage danach beantworten, wie die polnische Ostpolitik konstruiert wird und welche Faktoren darauf hauptsächlich Einfluss nahmen. Aus der Kombination konstruktivistischer und rationalistischer Ansätze ergibt sich dabei eine Operationalisierung in Diskurs einerseits und außenpolitisches Verhalten andererseits, die in der Arbeit je getrennt untersucht werden. Die Verhaltensanalyse soll zentrale, a priori entwickelte Kriterien überprüfen, um eine Einordnung zu ermöglichen; die Diskursanalyse soll herausarbeiten, „von wem und auf welche Weise ein Ereignis in einer Gesellschaft thematisiert wurde“ (S. 17). Das Verhältnis zwischen diesen beiden Kategorien und die Frage mit welchem Ziel der beabsichtigte Vergleich zwischen ihnen angestellt werden soll, bleibt allerdings teilweise offen.

In einem historischen Überblick seit 1918 wird eingangs der Wandel der ostpolitischen Strategien verdeutlicht: von starken hegemonialen, kulturnationalistischen Strömungen der zweiten polnischen Republik, über den blutigen polnisch-ukrainischen Konflikt in den 1940er-Jahren, bis zum Einfrieren der Nachbarschaftsbeziehungen zur Zeit des Kalten Krieges einerseits und den exilpolnischen Konzepten aus dem Umkreis von Jerzy Giedroyc und der Pariser Exilzeitschrift „Kultura“ in den 1980er-Jahren andererseits, die eine Abkehr von Hegemoniebestrebungen und eine Hinwendung zu Versöhnung und Verantwortung markierten und damit die grundlegende Neuorientierung der polnischen Ostpolitik nach 1989 vorbereiteten.

Aus der Analyse dieser Entwicklung zwischen 1918 und 1989 abstrahiert der Autor vier „Identitätselemente“, die in den folgenden Kapiteln verfolgt werden: a) Polen zwischen Deutschland und Russland, b) Polentum, c) Polen als europäisches Land und d) Polen als Handelsstaat. Anhand der Fallstudien – Außenhandelspolitik/ Osthandel, Minderheiten- sowie Sicherheitspolitik am Beispiel der Diskussion um die Ostgrenze – werden zunächst die Diskurspositionen verschiedener außenpolitischer Akteure herausgearbeitet, anschließend das Verhaltensprofil der Akteure untersucht. Dazu zählen der Präsident, das Parlament, der Ministerrat sowie Medien und Öffentlichkeit. In der Analyse der außenpolitischen Entscheidungsstruktur des polnischen Staates nach 1989 kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass „vor allem bis 1995 [die] noch mangelnde Koordination zwischen den höchsten für die Außenpolitik zuständigen Organen [... in einer ... ] teilweise stark fragmentierte[n] außenpolitische[n] Diskursstruktur Polens“ (S. 117) resultierte, in der die Parteien eine nur geringe Rolle spielten, da Präsident und Regierung konfliktreich die Linien der polnischen Ostpolitik ausgehandelt hätten. Aus dieser Vielstimmigkeit heraus hätten sich aber zu Ende des Untersuchungszeitraums zunehmend konsensuale Muster stabilisiert.

Die Analyse von Diskurs- und Verhaltensprofil verdeutlicht zentrale Entwicklungslinien der polnischen Ostpolitik. Die frühe Anerkennung der Unabhängigkeit der neuen polnischen Nachbarn folgte einerseits den von den „Kultura“-Autoren entwickelten Linien, gleichzeitig war dies auch angetrieben von der Aussicht, die direkte Nachbarschaft zu Russland durch einen „cordon démocratique“ (S. 172, so Czesław Bielecki) abzufedern. In der nachfolgenden Zeit erwies sich die konkrete Ausgestaltung des Verhältnisses zu den neuen Nachbarn als unterschiedlich schwierig. Vor allem Fragen nach der gemeinsamen Geschichte und die Situation der polnischen Minderheit führten im Verhältnis zu Litauen zu Irritationen. Für den Aussöhnungsprozess wurden wiederholt sowohl die deutsch-polnische als auch die deutsch-französische Verständigung als Modell gewertet.

Der Osthandel wurde dann zunehmend als Instrument zum Aufbau besonderer, so genannter „strategischer“ Beziehungen Polens zu den neuen Nachbarn gesehen, verlor aber real im Kontext des gesamten Außen- und Osthandels zunehmend an Gewicht. Der grenzüberschreitende Handel besaß vor allem regionale Bedeutung für die unmittelbar an die Ukraine und Weißrussland angrenzenden Gebiete. Auf nationaler Ebene erlangten dafür zunehmend entwicklungspolitische Strategien Relevanz, die sich inhaltlich und strukturell an westlichen Mustern orientierten und teilweise auch mit westlicher Finanzierung, unter anderem durch USAID, vorangetrieben wurden. Nicht nur hier verstand sich Polen zunehmend als Mittler im Transfer von als europäisch apostrophierten Werten und Wissen von West nach Ost. Im Kontext der voranschreitenden EU- und NATO-Beitrittsprozesse verschränkte sich die Bedeutung sicherheits- und handelspolitischer Fragen.

In der Debatte um die polnische Ostgrenze wird deutlich, dass bereits vor der konkreten Konfrontation mit den Schengen-Regelungen innerhalb Polens die „Zivilisierung“ (S. 195) dieser Grenze thematisiert wurde. Illegale Migration und illegaler Grenzhandel wurden schon Mitte der 1990er-Jahre als Bedrohung für die Sicherheit der eigenen Bürger eingestuft. Ende der 1990er-Jahre verlagerten sich die Argumentationsmuster vor dem Hintergrund des zunehmenden Drucks, EU-konforme migrations- und grenzpolitische Regelungen umzusetzen. Nun begann Polen, die offene Grenze als Grundvoraussetzung für eine funktionierende strategische Partnerschaft, insbesondere mit der Ukraine, zu betrachten und auf die Verantwortung der EU für die Verstärkung von Grenzsicherheitsmaßnahmen zu verweisen.

Eine unverkennbare Bedeutung für die polnische Ostpolitik besaß die Warschauer Auslandspolenpolitik. Die Polonia – die im Ausland lebenden Polen – genoss bei allen politischen Gruppen großen Rückhalt und wurde auch staatlich erheblich unterstützt. Polonia-Verbände im In- und Ausland erwiesen sich dabei mitunter als mächtige Lobbyorganisationen, die einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die polnische Außenpolitik besaßen. Insbesondere im Verhältnis zu Litauen, aber auch zu Weißrussland und der Ukraine standen deren Vertreter in einigen Fällen der Entwicklung der strategischen Partnerschaften skeptisch gegenüber.

Grundsätzlich verschob sich die polnische Selbstwahrnehmung von der in der Zwischenkriegszeit einflussreichen Vorstellung, zwischen Deutschland und Russland als zwei feindlichen Mächten eingekeilt zu sein, hin zu einem Selbstverständnis als europäischer Staat, der eine wichtige Rolle als Brücke zwischen Ost und West wahrnehmen könnte. Trotz der Vielstimmigkeit der ostpolitischen Diskussionen um diese Themenfelder ist der nachhaltige Einfluss der „Kultura“-Tradition und ihre Übersetzung in das veränderte Kräftefeld der europäischen Politik als unbestritten anzusehen. Diesen vor dem Hintergrund weiter zurückreichender polnischer ostpolitischer Traditionen erstaunlichen Wandel nachzuvollziehen war Anliegen und ist Verdienst dieser Arbeit.

Die Studie eröffnet einen facettenreichen Einblick in die historischen, diskursiven und strategischen Muster der polnischen Ostpolitik. Die Differenzierung zwischen einzelnen Politikfeldern, verschiedenen Akteuren und unterschiedlichen Phasen der Entwicklung entlarvt die Rede von „den“ Polen, die seit dem Beitritt des Landes zur EU immer wieder für Unverständnis und Verunsicherung sorgten, als verkürzt und wenig verständig. Jenseits der Beschwörung des Schreckbildes der
polnischen "Nationalisten" und „Europaskeptiker“ werden hier die vielschichtigen Bedingungen und Grundlagen polnischer Ost- und Außenpolitik analysiert und die große Versöhnungsleistung der letzen 20 Jahre in Erinnerung gerufen.

Anmerkung:
1 <http://www.politik.uni-trier.de/forschung/pafe.php> (04.12.2008)

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