E. Scherstjanoi (Hg.): Zwei Staaten, zwei Literaturen?

Cover
Titel
Zwei Staaten, zwei Literaturen?. Das internationale Kolloqium des Schriftstellerverbandes in der DDR, Dezember 1964. Eine Dokumentation


Herausgeber
Scherstjanoi, Elke
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Band 96
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
211 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der hier erstmals dokumentierten Schriftstellertagung „eine ähnliche Bedeutung“1 wie der Kafka-Konferenz in Liblice im Mai 1963 zuzusprechen, ist wohl die reichlich überzogene Einschätzung einer sich als „deutsche“ präsentierenden westdeutschen Kulturgeschichte. Denn weder ging es um die Rehabilitation und den marxistischen Zugang zum Werk eines modernen Klassikers, noch fanden „Opfer-“ und „Tätererfahrungen“ eines stalinistischen Schauprozesses unter dem Begriff der Entfremdung eine gemeinsame Sprache und einen neuen Zugriff auf die realsozialistische Gegenwart.2 Auch Elke Scherstjanoi sagt, dass das keine „kleine Kafka-Konferenz“ war (S. 42).

Gleichwohl fiel das internationale Kolloquium vom 1. bis 5. Dezember 1964 in Berlin in jene kurze Periode des Tauwetters zwischen 1962 und 1965 und war „eine der freimütigsten ostblockinternen Begegnungen in der Regie“ (S. 42) des Schriftstellerverbandes (DSV) der DDR. Es sollte der Vorbereitung eines internationalen Treffens von Schriftstellern anlässlich des 20. Jahrestages der Befreiung3 dienen wie auch dem nach dem Mauerbau abgebrochenen geistigen Dialog zwischen Ost und West. Die SED-Kulturfunktionäre gedachten damit, den Gegenstoß gegen die „revisionistischen Ansichten“ von Roger Garaudy, Ernst Fischer und Eduard Goldstücker zu initiieren und sich pauschal von der „reaktionären bürgerlichen Literatur“ der Bundesrepublik abzugrenzen. Zwar stand das Kolloquium unter dem Thema „Die Existenz zweier deutscher Staaten und die Lage in der Literatur“ und sollte wohl die Existenz einer sozialistischen Nationalliteratur in der DDR bestätigen. Aber schon der Vorstand des DSV hatte die literaturtheoretischen Ansprüche zurück genommen, und so konnten im Dezember 1964 zwischen 40 und 50 Teilnehmer im Haus des Lehrers am Alexanderplatz, unter ihnen vier Schriftsteller aus der UdSSR, je drei aus Polen, der CSSR und Rumänien und je zwei aus Ungarn und Jugoslawien, in einen offenen kulturpolitischen Meinungsaustausch eintreten.

Das Buch enthält vier aufschlussreiche Dokumente zur Vorbereitung des Kolloquiums im Rahmen des DSV aus den Monaten Oktober und November 1964. Den Hauptteil macht die redigierte Tonbandmitschrift des Kolloquiums mit 34 Beiträgen auf ca. 105 Seiten aus. Es folgen noch einmal fünf Dokumente zur „Auswertung“: eine Mitteilung Kurt Hagers an die SED-Führung (9. Dezember 1964), ein Bericht des Sekretariats des DSV vom Dezember 1964, ein Bericht der sowjetischen Delegation, ohne Datum, sowie zwei Artikel „Fragen an Schreibende“, Neues Deutschland, 8. Januar 1965, und Wolfgang Joho: „Notwendiges Streitgespräch. Bemerkungen zu einem internationalen Kolloquium“, Neue Deutsche Literatur 3/1965. Zwei Anhänge enthalten Kurzbiographien der Diskussionsteilnehmer aus der DDR sowie der ausländischen Diskussionsteilnehmer nebst einem hilfreichen Personenregister.

Einige ausländische Teilnehmer, wie Ludwig Kundera (CSSR), Egon Naganowski (Polen), Alexandru Stefanescu (Rumänien), Jurai Spitzer (CSSR), Juri Trifonow (UdSSR), Gabor Hainal (Ungarn), sprachen unverhohlen vom anhaltenden Dogmatismus in der ostdeutschen Kultur- und Editionspolitik sowie in der Literaturkritik und mahnten an, den Anschluss an die Weltliteratur auch in der DDR herzustellen. Für manche der ausländischen Schriftsteller war die Leitfrage des Kolloquiums nach den zwei deutschen Literaturen geradezu unverständlich. Auch unter den ostdeutschen Teilnehmern herrschte keineswegs Einverständnis. Die Meinungen über ästhetische Theorien, literarische Formen und politische Aufgaben der Schriftsteller gingen weit auseinander. So unterschiedliche Autoren wie Jurij Brezan, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Wolfgang Joho, Hermann Kant, Max Walter Schulz, Paul Wiens oder Christa Wolf waren durchaus zu einer kritischen Debatte und einem differenzierten Blick auf die Probleme des literarischen Schaffens in Ost und West bereit, während Günter Cwojdrak, Arno Hochmuth, Klaus Gysi und Alfred Kurella die Thesen des Hauptreferats von Hans Koch vom gewachsenen Ansehen der DDR und ihrer Literatur und der Existenz zweier deutscher Literaturen unterstützten.

Es ist das Verdienst von Elke Scherstjanoi, diese interessanten und aufschlussreichen Materialien aufgefunden, zusammengestellt und mit einem klugen Vorwort eingeleitet zu haben. Über die Auswirkungen der Ergebnisse des Kolloquiums auf das Internationale Schriftstellertreffen in Berlin und Weimar vom 12. bis 22. Mai 1965 hätte man gern mehr erfahren. Dass für den Moskowiter-Flügel in der SED-Führung das Kolloquium einer unter vielen Anlässen war, die Zügel am Ende des Jahres 1965 wieder anzuziehen, ist bekannt. Dagegen war das hier vorgestellte Kolloquium zumindest in Teilen Ausdruck einer schrittweisen Emanzipation der Literatur von der Politik. Wolfgang Joho hatte im März 1965 durchaus treffende „Lehren“ aus dem Kolloquium formuliert: „Es konnte mitunter bei den Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern aus der DDR das Gefühl aufkommen, wir säßen auf der Armsünderbank.“ (S. 185) Und er schlussfolgerte: „Unbequeme Fragen sind nicht dadurch aus der Welt zu schaffen, dass man, den berühmten drei Affen gleichend, Augen, Ohren und Mund vor ihnen verschließt.“ (S.189)

Anmerkungen:
1 Axel Schildt / Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 205.
2 Werner Mittenzwei, Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland von 1945 bis 2000, Leipzig 2001, S. 206ff.
3 Internationales Schriftstellertreffen Berlin und Weimar, 14.–22. Mai 1965. Protokoll, Berlin 1965.

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