M. Welke u.a. (Hrsg.): 400 Jahre Zeitung

Titel
400 Jahre Zeitung. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext


Herausgeber
Welke, Martin; Wilke, Jürgen
Reihe
Presse und Geschichte - Neue Beiträge 23
Erschienen
Bremen 2008: Edition Lumière
Anzahl Seiten
534 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Birkner, Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft, Universität Hamburg

Am Anfang war Gutenberg. Seine Kombination von bereits bekannten Verfahren zur Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern steht am Beginn der Moderne – gleichberechtigt neben den Lehren Luthers und der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus. Seine Zeitgenossen jedoch, wie Gutenberg selbst in der Kultur des Schreibens verhaftet, begeisterte die Perfektion des Drucks, nicht die Schnelligkeit.1 Erst gute 150 Jahre (1605) später erfand der Buchdrucker und Nachrichtenhändler Johann Carolus in Straßburg die Zeitung. Zum 400. Geburtstag des ersten Massenmediums ist nun ein Sammelband erschienen – mit dreijähriger Verspätung. Dafür erklärt der Klappentext selbstbewusst und nicht zu Unrecht, dass hiermit nun die erste „Übersicht zur Weltzeitungsgeschichte“ vorliegt.

Mitherausgeber Martin Welke beschreibt sehr anschaulich auch anhand bislang unbekannter Dokumente, wie 1605 „die Zeitung in die Welt kam“ (S. 66). Überliefert ist uns bis heute leider nur der komplette Jahrgang 1609, weshalb die „Relation“ lange mit dem „Aviso“ aus Wolfenbüttel (1609) um den Titel „erste Zeitung“ kämpfen musste. Diesem Kampf, von interessengeleiteten Wissenschaftlern geführt, widmet sich Welke ebenso wie dem bisher kulturgeschichtlich vernachlässigten „Schöpfer“ der Zeitung. Carolus erfand die Zeitung eher als Nebenprodukt und kaum zu früh. Der nur wenige Jahre später beginnende Dreißigjährige Krieg sorgte in ganz Europa für eine gesteigerte Nachfrage nach Nachrichten. Dieses Argument findet sich in den meisten Beiträgen zum internationalen Durchbruch des jungen Mediums. Denn ist die Zeitung einmal aus der Taufe gehoben, tritt sie, ähnlich wie Gutenbergs Presse zuvor, ihren Siegeszug durch Europa an, dann auch durch Nord- und schließlich Südamerika. In Mexiko steht die erste Presse der Neuen Welt, seit wann, da widersprechen sich die Beiträge von Jeffery A. Smith (1539, S. 264) und Carlos Barrera (1533, S. 282).2

Der Streifzug durch Europa beginnt mit Joop W. Koopmans Aufsatz in den Niederlanden, wo die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen für die frühmoderne Presse recht günstig waren (S. 124). Gemeinsam ist dennoch den meisten europäischen Ländern, dass die Mächtigen in der Zeitung im 17. und 18. Jahrhundert fast überall sowohl eine Bedrohung ihrer Herrschaft als auch ein Instrument zur Sicherung derselben sahen. Ein schönes Beispiel ist hierfür Frankreich, wie Anne Saada in ihrem Beitrag darstellt. In Dänemark hebt der Aufklärer Johann Friedrich Struensee die Zensur am 3. September 1770 auf (S. 189). Damit – und mit ihm selbst – ist es jedoch schon im Januar 1772 wieder vorbei (S. 198). Den Schweden geht es insgesamt nicht besser, aber immerhin können sie, so Ann-Katrin Hatje, mit der „Post- och Inrikes Tidningen“ die „älteste noch heute erscheinende Zeitung der Welt“ aufweisen (S. 210). Wie in Skandinavien spielt auch in Italien und Osteuropa die Sprache eine wichtige Rolle. Edgar Radtke beschäftigt sich explizit mit der „italienischen Zeitungssprache“, Eva Kowalská mit dem „slawischen Kulturkreis“. Die Aufsätze bauen zwar nicht wirklich aufeinander auf, doch erschließt sich bei aufmerksamer Lektüre die Geschichte der Zeitung tatsächlich im internationalen Kontext. Dass in diesem insgesamt hervorragenden Sammelband über die Entwicklung der Tagespresse ausgerechnet die erste Tageszeitung, die Einkommende Zeitung aus Leipzig (1650) so wenig prominent vertreten ist, bleibt kritisch anzumerken.

Wenn wir uns heute Sorgen machen um die Zukunft der Zeitung, so lehrt uns dieses liebevoll gestaltete Buch: Die Geschichte der Zeitung ist lange Zeit, ja eigentlich immer, auch die ihrer existenziellen Bedrohung. Jahrhunderte lang wurde sie verfolgt, verboten, zensiert, insbesondere auch die deutschsprachige Presse, die in der zweiten Hälfte des Sammelbandes im Mittelpunkt steht.

Seit dem 17. Jahrhundert schafft die wachsende Zahl von Zeitungen die Voraussetzungen für Öffentlichkeit, wie Holger Böning in seinem Beitrag „Zeitung und Aufklärung“ argumentiert. Die Zeitungen strukturieren im 19. Jahrhundert zunehmend die „Informations- und Kommunikationsbeziehungen innerhalb der Gesellschaft“ (S. 311) so Josef Seethaler und Gabriele Melischek zu den „Zeitungen des Habsburgerreiches“. Einen großen Bogen schlägt Jürgen Wilke, der den Wandel von Inhalten und Formen in deutschen Zeitungen über vier Jahrhunderte beschreibt. Er vergleicht die Spartenstruktur der Blätter um 1910 mit jener der westdeutschen Zeitungen der späten 1960er Jahre (S. 365). Rudolf Stöber sieht in den großen Blättern der Jahrhundertwende die „Blaupause der modernen Presse vom Typus FAZ bis WAZ und ‚Bild’“ (S. 410). Es ist der Durchbruch der modernen Presse und des modernen Journalismus in Deutschland; behaftet jedoch mit einem Makel: „Die hochindustrialisierte periodische Publizistik ist unfähig, die Freiheit in unfreien Systemen zu verteidigen.“ (S. 429)

Das wird besonders deutlich im Nationalsozialismus, als die deutsche Presse zumeist zur Klaviatur von Goebbels verkommt. Bernd Sösemann eröffnet in seinem Beitrag zur Presse im Nationalsozialismus die anregende Perspektive einer „Neuen Zeitungsgeschichte“, die er im Rahmen einer „Geschichte der öffentlichen Kommunikation“ (S. 452ff.) verortet. Es bleibt zu hoffen, dass dieses spannende Konzept, welches im Beitrag jedoch so viel Raum einnimmt, dass man fast ein bisschen wenig über die Zeitungen im Dritten Reich erfährt, Nachahmung nicht nur bei der Erforschung von Diktaturen findet.

Heute wird das „orginäre Druckmedium Zeitung“ (S. 498) durch das Internet bedroht, durch ausbleibende Anzeigeneinnahmen und den Rückgang der Zeitungslektüre, längst nicht mehr nur bei Jüngeren. Dennoch meint Walter J. Schütz am Ende seines Beitrags zu den deutschen Zeitungen von 1945 bis 2005: „Zeitungen werden, wenn sie sich zunächst und vor allem als Informationsmedien verstehen, auch in Zukunft runde Geburtstage feiern können“ (S. 480). Seinem Ausblick schließen sich auch die beiden letzten, sehr kurzen, Beiträge an, die aus journalistischer Sicht (Werner D’Inka) und aus Verlagsperspektive (Volker Schulze) die Zukunft der Tagespresse betrachten. Dabei bleibt bemerkenswert, dass beide nicht die zunehmend – auch von Jürgen Habermas – vorgebrachte Idee aufgreifen, Qualitätspresse staatlich subventionieren zu lassen.3

Die in diesem Band versammelten Beiträge schaffen nicht gerade Vertrauen in den Staat, wenn es um eine freie Presse geht, und stimmen doch insgesamt vorsichtig optimistisch. 400 Jahre lang hat die Zeitung Krisen zu meistern gehabt und wurde immer wieder totgesagt. Totgesagte aber, so weiß der Volksmund, leben länger.

Anmerkungen:
1 Vgl. Stöber, Rudolf, Journalism paradigms before 1945, in: Hoyer, Svennik; Pöttker, Horst (Hrsg.), Diffusion of the news paradigm 1850-2000, Göteburg 2005, S. 147-156, hier S. 149.
2 The Cambridge History of Latin America datiert den Beginn der Presse in Mexico City und damit in Lateinamerika auf das Jahr 1535; vgl. Elliott, J. H., „Spain and America in the sixteenth and seventeenth centuries“, in: The Cambridge History of Latin America, Cambridge 1984, S. 287-339, hier S. 336; auch das Handbuch für die Geschichte Lateinamerikas erklärt, es habe schon 1535 einen Drucker in Mexiko gegeben, dort erscheint auch 1539 das erste Buch; vgl. Lavelle, Bernhard, „Kulturelles Leben“, in: Bernecker, Walther L. u.a. (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. Bd. 1. Mittel-, Südamerika und die Karibik bis 1760, hrsg. v. Horst Pietschmann, Stuttgart 1994, S. 504-521, hier S. 511.
3 Vgl. u.a. Habermas, Jürgen, Keine Demokratie kann sich das leisten, in: Süddeutsche Zeitung, 16.05.2007, S. 13.