Titel
Untersuchungen zu Topographie und Sachkultur des mittelalterlichen Zwickau. Die Ausgrabungen im Nordwesten des Stadtkerns


Autor(en)
Beutmann, Jens
Reihe
Veröffentlichungen des Landesamtes für Archäöologe mit Landesmuseum für Vorgeschichte
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Thomas Kühtreiber, Institut für Realienkunde, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Die Monographie ist das Produkt einer an der Universität Freiburg verfassten Dissertation, welche vordergründig die Bearbeitung dreier 1993-1998 durchgeführter Grabungen im nordwestlichen Stadtviertel von Zwickau zum Ziel hatte. Dementsprechend stand Jens Beutmann beim Verfassen seiner Dissertation wohl vor dem Dilemma, wie aus einer durch die Befund- und Fundzusammensetzung limitierten Quellenlage eine einer Abschlussarbeit an einer Universität würdige zentrale Fragestellung entwickelt werden könne. Die Antwort sei hiermit vorweggenommen: Jens Beutmann hat dieses Problem mehr als nur bravourös gelöst, indem er eine der brennendsten Fragen heutiger archäologischer Denkmalpflege – wie können Großgrabungen mit Massenfunden in absehbarer Zeit und mit vertretbarem publikatorischem Aufwand der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden? – nicht nur vorexerziert hat, sondern auch Wege zur einer möglichen Lösung in diesem Buch nachvollziehbar ausdiskutiert.

Im Spannungsfeld zwischen einer möglichst kompletten Edition aller Befunde und Funde und einem fragestellungsgeleiteten Ansatz der wissenschaftlichen Bearbeitung entschied sich Beutmann für letzteren Zugang, wobei er Wert auf möglichst hohe Transparenz der Quellenauswahl sowie damit verbundener Quellenkritik legte. Im Vordergrund standen somit Fragen nach der Sachkultur als Quelle zur Konstruktion städtischer Alltagsgeschichte sowie überregionaler Fragen zur Stadtwerdung, wie Sozialtopographie, Handwerk, Parzellengefüge und Bebauungsstrukturen. Entsprechend diesen Vorgaben ist die Monographie zunächst in einen methodischen Teil zur Befund- und Fundvorlage (S. 16-38), gefolgt von Auswertungskapiteln zur Chronologie (S. 39-54), zur städtischen Sachkultur (S. 55-165) und zu den oben erwähnten stadtgeschichtlichen Kapiteln (S. 166-204) gegliedert, dem ein Auswahlkatalog zu den abgebildeten Funden folgt.

Für diese auswahlbasierte Auswertung bildeten über 170.000 keramische Fundstücke und tausende weitere Objekte anderer Materialgruppen eine statistisch ausreichende Grundlage, deren Nachvollziehbarkeit durch Veröffentlichung der Funddatenbank auf der Homepage des Landesamtes für Archäologie in Sachsen ermöglicht wurde.1 Gerade beim Hauptfundgut – der Keramik – erweist sich die fragestellungsbezogene, intentionelle Fundauswahl als methodisch problematisch: Stringenter wäre es, für die statistische Bewertung zunächst nur sehr fundreiche Befunde heranzuziehen, und aus diesen für die statistische Bestimmung der Techno- und Phänotypen ein Sample von mindestens 5% der Gesamtmenge ohne Rücksicht auf die etwaige Verteilung herauszuziehen. In einem zweiten Schritt könnte für die Berücksichtigung von Ganzgefäßen, seltenen Typen usw. eine Gesamtdurchsicht erfolgen, allerdings darf die Vorlage und Diskussion dieser Objekte nur ergänzend erfolgen und nicht für die statistisch gestützte Gesamtcharakterisierung herangezogen werden. Damit erscheint dem Rezensenten der nächste Schritt, nämlich die Abgrenzung und Charakterisierung der Perioden mittels Seriation der in den Befunden/stratigraphischen Einheiten enthaltenen technischen und formalen Merkmale, besser abgesichert.

Eine große Stärke der Beutmannschen Herangehensweise ist dabei zweifellos die klare Trennung zwischen Relativ- und Absolutchronologie, wobei letzterer auch die vergleichende Funddatierung hinzugerechnet wird. Dabei hält Beutmann ein Plädoyer für die bevorzugte Heranziehung extern datierter Funde, das heißt von Vergleichsfunden aus dendrochronologisch oder münzdatierten Kontexten, um damit das vor allem in der Keramikforschung leidige Erstellen von Einzelfundnachweisen auf Basis von Zitierketten ohne Berücksichtigung der Datierungsqualität zu vermeiden.

Der Versuch der Darstellung eines Lebensbildes, das „möglichst viele Aspekte der Sachkultur als Teil der „Alltagsgeschichte“ im spätmittelalterlichen (und frühneuzeitlichen) Zwickau enthält“ (S. 55), erfolgt durch Integration von Befunden und Funden in gemeinsamen Kapiteln, was als sehr innovativ angesehen werden kann. Dargelegt werden die Überlegungen nach Objektgruppen, Funktions- und Lebensbereichen, die mit wenig Aufwand zu einer stringenteren Gliederung nur nach Tätigkeitsbereichen strukturierbar wäre. In dem lobenswerten Ansatz, die Objekte nach ihrem „Sitz im Leben“ und nicht nach Materialgruppen zu behandeln, geht leider bei dem Versuch, eine möglichst große Breite an Quellenbelegen zur Rekonstruktion des städtischen Alltags in Zwickau heranzuziehen, die Diskussion der einzelnen Fundobjekte hinsichtlich ihrer tatsächlichen Aussagekraft zum jeweiligen Thema etwas unter.

Unter den synthetischen Abschlusskapiteln sei besonders jenes über die Aussagemöglichkeiten zur Sozialtopographie aus archäologischer Sicht (S. 166-178) als für die Leser/innenschaft gewinnbringend hervorgehoben: Der Versuch, soziale Schichtungen in städtischem Kontext räumlich differenziert herauszuarbeiten, hat sich in den letzten Jahren in der Stadtarchäologie als einer der interessantesten Zugänge entwickelt. Jens Beutmann verweist zunächst, Bezug nehmend auf einen Grundsatzartikel von Brenner2, auf drei unterschiedliche Herangehensweisen, die entweder auf Fundmaterialien als Sozialindikatoren oder auf den Standort von Gebäuden innerhalb der Stadt als Medium sozialer Differenzierung fokussieren. Beutmann versucht, diese Ansätze zu verknüpfen, wobei die große Fundmenge als Grundlage einer – andernorts nur eingeforderten – quantifizierenden Analyse dient. Dank der großen Datenmengen spielen individuelle Faktoren bei der Entstehung des archäologischen Kontexts nur eine untergeordnete Rolle, und es können somit fundortbezogene Überlieferungsfaktoren als Basis einer sozialhistorischen Interpretation herangezogen werden. Dafür wurden von Beutmann verschiedene, als relevant erachtete Fundgruppen auf dem modernen Parzellenplan kartiert und in Relation zur Zahl an Keramikindividuen der jeweiligen Parzelle und Periode in eine Kennzahl (Index) gebracht. Eine Clusteranalyse mit den Fundgruppen erbrachte überraschenderweise, dass Backsteine, Keramik und Tierknochen als Sozialindikatoren von untergeordneter Bedeutung sind (S. 172). Der Vergleich erhöhter sozialer Indizes auf archäologischer Basis mit aus den Lehnbüchern von 1536 ermittelten Hausbesitzern, Berufen und Steuerklassen zeigte allerdings nur näherungsweise Übereinstimmungen, sodass Beutmann konstatiert, dass die Aussagen weder räumlich noch zeitlich sehr exakt sind. Er äußert allerdings die Hoffnung, dass bei Anwendung der Methode bei Fundauswertungen in anderen Stadtvierteln bzw. anderen Siedlungskontexten möglicherweise in Zukunft konkretere Aussagen möglich sein werden.

Im abschließenden Kapitel zur Stadtgenese gelingt es Beutmann überzeugend, ein neues Bild zur Stadtwerdung mit einer hohen Dynamik in der Frühphase des 12. Jahrhunderts zu entwerfen. Der Wandel von einer vermutlich um eine Kirche konzentrierten Kernsiedlung in Niederungslage als möglicher „Grenzhandelsplatz“ an einem Altweg zu einem klar strukturierten städtischen Gebilde im Laufe von 2-3 Generationen entspricht zwar dem von Jerzy Piekalski3 entwickelten Modell von der „Frühstadt“ als mehrteiligem Siedlungskomplex zur hoch- und spätmittelalterlichen Rechtsstadt; Beutmann betont aber zu Recht, dass es sich bei diesen Umstrukturierungen keineswegs um eine allmähliche Entwicklung, wie Piekalski meint, sondern um einen „klar umrissenen, stadtplanerischen Akt“ (S. 204) handeln muss, da hier auch massiv in Eigentumsrechte eingegriffen werden musste. Gerade dies ist ein Fakt, der für den Wandel der hoch- zur spätmittelalterlichen Stadt noch zu wenig diskutiert und auf Basis der vielen neuen Grabungsergebnisse in Verbindung mit der Stadtgeschichtsforschung diskutiert werden sollte.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Buch viele, noch dazu unpretentiös formulierte, methodische und theoretische Ansätze enthält, die nicht nur angedacht, sondern auch angewandt wurden. Die in dieser Rezension angebrachten kritischen Anmerkungen verstehen sich daher als Anregung zu einer weiterführenden Diskussion und nicht als Hinweis auf etwaige qualitative Mängel der Arbeit – im Gegenteil: Noch selten hat der Rezensent eine vermeintliche „Grabungsaufarbeitung“ als methodisch so gewinnbringend empfunden, weshalb das Buch uneingeschränkt als Lektüre empfohlen werden kann.

Anmerkungen:
1 Vgl. <http://www.archaeologie.sachsen.de/Themenportal/893.htm> (03.07.2009).
2 Claus Brenner, Archäologische Sozialtopographie der Stadt. Überlegungen zu Forschungsstand und Methode, in: Zwischen den Zeiten. Archäologische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters in Mitteleuropa. Festschrift für Barbara Scholkmann, Internationale Archäologie. Studia honoraria 15, Rahden i. Westfalen 2001, S. 363-377.
3 Jerzy Piekalski, Von Köln nach Krakau. Der topographische Wandel früher Städte, Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters Beiheft 13, Bonn 2001, S. 244 f.

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