S. Rohdewald u.a. (Hrsg.): Litauen und Ruthenien

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Titel
Litauen und Ruthenien. Studien zu einer transkulturellen Kommunikationsregion (15.-18. Jahrhundert)


Herausgeber
Rohdewald, Stefan; Frick, David; Wiederkehr, Stefan
Reihe
Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 71
Erschienen
Wiesbaden 2007: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Yvonne Kleinmann, Institut für Slavistik (Emmy Noether-Forschungsgruppe), Universität Leipzig

Das Ziel des Sammelbandes ist hoch gesetzt. In der methodisch wie empirisch anspruchsvollen Einleitung stecken die Herausgeber ihr Interessenfeld auf der Grundlage und in Abgrenzung von einer breiten Forschungslandschaft ab. Sie nehmen sich vor, das Großfürstentum Litauen und die östlichen Gebiete der polnischen Krone im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit im Hinblick auf transkulturelle und transkonfessionelle Kommunikationsprozesse zu untersuchen. So speziell der Titel klingen mag – so subversiv ist die ihm zugrunde liegende Idee: Es geht darum, eine historische Region, deren Erforschung bis heute von konkurrierenden National- bzw. Imperialhistoriographien betrieben sowie vielfach teleologisch für die Legitimierung bzw. Delegitimierung von Staatsgründungen eingesetzt wurde und wird, losgelöst von Ländergeschichten als einen Kommunikationsraum mit eigenen Spezifika zu betrachten.

Die Herausgeber beziehen sich zum einen auf die Eigenschaft Litauens und Rutheniens als kulturelle Kontaktzone von ostslavisch, byzantinisch-orthodox geprägtem Osteuropa und westslavisch, lateinisch geprägtem Ostmitteleuropa. Zum anderen tragen sie der Tatsache Rechnung, dass es hier umfangreiche Siedlungen von Juden, Armeniern, Deutschen, Litauern, Tataren sowie anderer ethnoreligiöser Gruppen gab. Im Mittelpunkt des Interesses stehen die Formen der Kommunikation und der Koexistenz. Die polnisch-litauische Geschichte steht als Modell für eine Histoire croisée: die Verflechtung und Pluralisierung der Sichtweisen im Gegensatz zu engen nationalen Perspektiven. Damit geht der Erkenntnisanspruch weit über eine engere Regionalgeschichte hinaus.

Der methodische Entwurf des Bandes greift auf den in Kulturwissenschaften und Postcolonial Studies entwickelten Begriff “Kommunikationsregion” zurück, der von einem an Akteuren und sozialen Praktiken orientierten Raumkonzept ausgeht. Diesen erweitern die Herausgeber für ihre spezifische Fragestellung: „Inter- oder vielmehr transkulturelle Kommunikation soll hier somit für das Aushandeln von kulturellen Praktiken zwischen Angehörigen von auf den ersten Blick disparaten ethnokonfessionellen Gruppen in unterschiedlichen Handlungs- und Sprachfeldern stehen.“ Sie gehen so weit zu behaupten, ethnokonfessionelle Identität werde erst durch transkulturelle Kommunikationsprozesse konstruiert (S. 17). Diese These ist in einem größeren Zusammenhang mit der virulenten Kritik am Verständnis von Kulturen als statischen, scharf abgrenzbaren Einheiten verknüpft. Rohdewald, Frick und Wiederkehr favorisieren hingegen den Begriff “Transkulturalität” – daneben auch “Hybridität”, “Synkretismus” und “Kreolisierung” –, wenn sie von den kulturellen Praktiken sprechen, die aus der Kommunikation zwischen verschiedenen ethnokonfessionellen Gruppen hervorgehen. Einzuwenden ist hier, dass die radikale Dekonstruktion ethnokonfessioneller Identität mit der Untersuchung von Kommunikationsformen in einem gewissen Widerspruch steht, da letztere doch grundlegende Unterschiede zwischen den Beteiligten voraussetzt. Davon gehen auch die Herausgeber bei der Entwicklung ihrer konkreten Agenda aus. Sie fragen nach Sprach- und Handlungsfeldern, nach ökonomischen und ständischen Logiken – kurz: nach dem Verhandlungsspielraum angesichts kultureller Differenz. Aufgrund des expliziten Interesses an der Wahrnehmung der Akteure und an zeitgenössischen Begriffen erscheint der Fokus der Textauswahl auf mikrohistorischen Untersuchungen und Fallstudien vollends plausibel.

Wie spiegelt sich das formulierte Programm in der Struktur des Buches und in den einzelnen Beiträgen wieder? Die Untergliederung in die Themen „Adelige und Städter“, „Kirche und Klerus“ sowie „Kult, Gesang und Malerei“ ist im Hinblick auf die einleitend aufgeworfenen Fragen kontraproduktiv, da sie sich an ständischen Kriterien orientiert und gerade die transdisziplinären und kulturgeschichtlichen Zugänge im letzten Teil an den ‚Katzentisch' der Geschichte setzt. Es sind aber vor allem diese Untersuchungen, die sich auf originelle Weise empirisch mit den Konzepten Kommunikationsregion, Kulturkontakt und Kulturtransfer auseinander setzen.

So untersucht Mathias Niendorf am Beispiel von Heiligenkulten im Großfürstentum Litauen Formen des religiösen Synkretismus – verstanden als Aufhebung von Systemgrenzen und Umdeutung fremder religiöser Elemente. Er konzentriert sich auf die kulturelle Praxis, die sich in Objekten, Handlungen und Sprache niederschlägt. Anhand der transkonfessionellen Ausbreitug der Kulte um die ostslavischen Heiligen Boris und Gleb, den Jagiellonenprinzen Kazimierz, den katholischen Heiligen Josafat Kuncevič etc. arbeitet er klar heraus, dass die ‚Adoption' eines Heiligen von katholischen Hierarchen als Fortsetzung der Kirchenunion von Brest (1596) betrieben wurde, hingegen durch Orthodoxe bzw. Unierte oft selektiv erfolgte und politischen Konjunkturen sowie Umdeutungen unterworfen war.

Achim Rabus widmet sich aus musikwissenschaftlicher und philologischer Perspektive den “kanty”, das heißt jenen ostslavischen geistlichen Gesängen, die im 17. und 18. Jahrhundert sowohl in den ruthenenischen Gebieten Polen-Litauens als auch in Moskau weite Verbreitung fanden. Er charakterisiert diese Liedgattung musikalisch wie sprachlich als Hybrid ost- und westkirchlicher Elemente und identifiziert insbesondere Protestanten, Jesuiten, unierte Basilianer sowie Kiewer Gelehrte als Akteure des Kulturkontakts. Kompatibel im griechisch-katholischen und im orthodoxen Zusammenhang, so Rabus, war das Textrepertoire der “kanty”, weil sie in der Regel keine konfessionelle Position bezogen. Darüber hinaus respektierten ihre ruthenischen Bearbeiter die Lautgestalt des Kirchenslavischen (lingua sacra), während sie die Lexik an die Volkssprache anglichen. So gelang es ihnen, der traditionellen liturgischen Rolle des Kirchenslavischen und dem neuen Anspruch auf Volkssprachlichkeit im Gottesdienst gerecht zu werden.

Die Frage nach einem transkonfessionellen Kommunikationsraum reflektieren auch einige stadtgeschichtliche Beiträge. Myron Kapral' unternimmt mit einer komparativen Betrachtung der Assimilation von Armeniern, Ruthenen und Juden an das dominante polnisch-katholische Milieu in L'viv eine Analyse, die über eine klassische Beziehungsgeschichte hinausgeht. Anhand der Kriterien sozialer Aufstieg, Glaubenswechsel und transkonfessionelle Ehe weist er nach, dass ethnokonfessionelle Trennlinien im frühneuzeitlichen L'viv in gewissem Maße verhandelbar waren. Am Beispiel der Juden, denen ohne den Akt der Konversion weder die Nobilitierung noch die Ehe mit einem christlichen Partner offen stand, veranschaulicht er jedoch auch die Grenzen des Transkulturellen.

Mit dem entgegengesetzten Fall – dem Zerbrechen ehelicher Gemeinschaft – befasst sich David Frick in einer Untersuchung zu Vilnius. Mikrohistorisch untersucht er drei Fallbeispiele aus Gerichtsbüchern des 17. Jahrhunderts, die ehelichen Konfliktsituationen gelten. Diese kontextualisierend kommt er zu dem Schluss, dass sich die theologischen Lehrmeinungen der einzelnen Konfessionen zu Ehe bzw. Scheidung stark voneinander unterschieden, aber insbesondere das katholische Scheidungsverbot in der Rechtspraxis wiederholt ignoriert wurde. Anhand der präsentierten Fälle belegt er außerdem, wie intensiv römisch- und griechisch-katholische Bürger ungeachtet der Brester Kirchenunion mit orthodoxen Bürgern familiär verbunden blieben. Damit liefert er triftige Gründe gegen eine Anwendung des Konfessionalisierungsparadigmas auf das frühneuzeitliche Ostmitteleuropa. In diesem Sinne argumentiert auch Stefan Rohdewald in seiner präzisen Studie zur transkonfessionellen Aktivität des Polacker Magistrats im 17. Jahrhundert.

Krzysztof Stopka und Ekaterina Emeliantseva nähern sich der Frage des Transkulturellen von der Peripherie der Macht. Stopka betrachtet die Interaktion von Polen, Armeniern und Ruthenen in Kam''janec'-Podil's'kyj um 1600 aus der Perspektive überwiegend armenischer Quellen. Diese befragt er auf ausgesuchte „interethnische Situationen“ (S. 74), z.B. Nachbarschaft, Wirtschaft, städtische Institutionen und Sprache. Mittels genauer Analysen rekonstruiert er das politische System, das es ermöglichte, den Funktionsraum Stadt transkulturell zu gestalten. Religiöse Spannungen – so Stopka – seien dank der Untergliederung in drei rechtlich und konfessionell definierte “nationes” im Vergleich zu Auseinandersetzungen um Wirtschaftsprivilegien sowie Fragen der politischen Vertretung und des sozialen Prestiges selten gewesen. Ganz anders liegt der Fall der Warschauer Frankisten im späten 18. Jahrhundert, die Emeliantseva als Herausforderung der theologischen Grenzen zwischen Christen und Juden untersucht. In Anlehnung an Till van Rahdens Konzept der “situativen Ethnizität” fasst sie die Alltagsstrategien der Konvertiten unter dem Begriff situative Religiosität”. Auf diese Weise vermag sie die sowohl in der jüdischen Tradition als auch im katholischen Ritus verankerten Praktiken der Warschauer Frankisten in Abhängigkeit von der jeweiligen sozialen Situation als spezifische Lebenswelt zu interpretieren.

Ein letzter Schwerpunkt des Bandes liegt auf der Betrachtung der Brester Kirchenunion und ihrer Umsetzung als transkonfessionelles Phänomen. Antoni Mironowicz lenkt die Aufmerksamkeit auf die besondere Problematik der Orthodoxie in Polen-Litauen nach dem Abschluss der Union. Im Gegensatz zur katholischen Kirche schrieb ihr Kirchenrecht die Beteiligung von Geistlichen und Laien an Beschlüssen vor. Am Beispiel des Bischöfe von Przemyśl, L'viv und Luc'k demonstriert Mironowicz anschaulich, welche Konflikte etwa um den Besitz jener orthodoxen Geistlichen entbrannten, die der Union vorerst nicht beitraten. Auch Jacek Krochmal betrachtet in seiner langfristigen Analyse der Beziehungen zwischen Katholiken und Orthodoxen in der Diözese Przemyśl eine administrative Einheit, deren orthodoxer Klerus sich der Union erst am Ende des 17. Jahrhunderts anschloss. Insbesondere befasst er sich mit dem Wettstreit um die Position der „herrschenden Kirche“, mit dem Kampf um konkrete Kirchengebäude, mit der dualen Herrschaft eines unierten und eines orthodoxen Erzbischofs und schließlich mit der Rivalität zwischen lateinischem und griechischem Klerus innerhalb einer Kirche im 18. Jahrhundert. In diesem Sinne ist die Geschichte der Brester Union als permanente transkonfessionelle Kommunikation zu begreifen.

Die Stärke des Bandes liegt in einer methodisch durchdachten Einleitung und in der Präsentation origineller empirischer Forschung. Beide sind oft, doch nicht durchgängig aufeinander bezogen. Eine anderes Arrangement der einzelnen Beiträge hätte das eingangs formulierte Programm auch strukturell stärker hervortreten lassen.

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