A. Rödder u.a. (Hrsg.): Alte Werte - Neue Werte

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Titel
Alte Werte - Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels


Herausgeber
Rödder, Andreas; Elz, Wolfgang
Erschienen
Göttingen 2008: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ursula Krey, Universität Bielefeld

Was sind „alte“ und „neue“ Werte? Diese Frage stellt sich unwillkürlich beim Blick auf den Titel des vorliegenden Sammelbandes. Antworten versprechen die Beiträge der vierzehn Experten und drei Expertinnen aus Wissenschaft und Praxis, die vom Herbst 2006 bis zum Frühjahr 2007 bei der Veranstaltungsreihe „Werte im Gespräch“ in Mainz auftraten. Tatsächlich hat sich die Debatte um den Wertewandel über die Sozialwissenschaften hinaus zu einem beliebten Thema für Talkshows und Gesprächsrunden entwickelt, in denen es zuweilen hoch hergeht: Werte wecken offensichtlich Emotionen und spalten die Gemüter. Umso begrüßenswerter ist der Versuch, in historisch fundierter Form „Schlaglichter des Wertewandels“ zu dokumentieren. Andreas Rödder, einer der beiden Herausgeber, analysiert in seiner informativen Einleitung die fundamentale Verunsicherung der westlichen Gesellschaften durch Postmoderne und Globalisierung. Er definiert Werte als „allgemeine und grundlegende Orientierungsrichtlinien, die für das Denken, Reden und Handeln der Menschen auf individueller und kollektiver Ebene als verbindlich akzeptiert, dabei explizit artikuliert oder implizit angenommen werden“ (S. 12). Anhand der Forschungsergebnisse Harald Welzers zur Ermordung der Juden im Zweiten Weltkrieg gelangt Rödder zur beunruhigenden Erkenntnis, dass binnen kürzester Zeit eine Umdeutung bisher gültiger Werte stattfinden könne: „Alles ist möglich – von der Menschenwürde bis zum Massenmord.“ (S. 24)

Vor dem Hintergrund dieser plakativen Ausgangsthese wird ein geradezu schwindelerregendes Panorama des „Gestaltwandels von Wertordnungen“ abgesteckt, das in den folgenden Beiträgen unter die Lupe genommen wird. Dabei erschweren heterogene Kategorien und inhaltliche Überschneidungen die Orientierung. Erkennbar ist immerhin die übergeordnete Absicht, die Kategorie der Menschenwürde als verbindliche Referenzgröße zu etablieren. Hans Joas belegt an der Entwicklung der europäischen Strafkultur und ihrer Rezeptionsgeschichte stringent den kulturellen Wandel im Verständnis des Sakralen, der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als Ausdruck einer Inklusion auf den Menschen gelenkt sei. Die „Sakralisierung der Person“ konkurriere allerdings ständig mit anderen Sakralisierungsangeboten, wie etwa der Nation oder der kommunistischen Utopie, des Faschismus und des Nationalsozialismus. Anhand aktueller Beispiele weist Joas auf die permanenten Gefährdungen der universalen Gültigkeit von Menschenrechten hin. Seine Argumentation zielt darauf ab, den Respekt vor dem Menschen als Kern der modernen Strafkultur zu betonen sowie Nutzenerwägungen als Basis des Rechts abzulehnen.

Weitere erkenntnisträchtige Indikatoren für den Wertewandel bietet der Rückblick auf das Verhältnis von Privatsphäre versus Öffentlichkeit. Andreas Wirsching relativiert mit seinen Ausführungen zur früheren Bedeutungsvielfalt der Begriffe „Familie“ und „Haus“ die Fixierung auf das bürgerliche Familienmodell. Die Gründe für die neuen Privatheitsformen anstelle der traditionellen Ehe bei zunehmender Erwerbstätigkeit der Frauen sowie einem Rückgang der Geburtenrate seien in epochalen Wandlungsprozessen zu suchen, die alle westlichen Gesellschaften erfasst hätten und das Ende der industriewirtschaftlich geprägten Moderne markierten. So betrachtet, sei die bürgerliche Kernfamilie nur eine Zwischenstation auf dem langwierigen Weg der Gestaltung des Zusammenlebens. Demgegenüber sieht Trutz von Trotha im fehlenden Nachwuchs sowie in der abnehmenden Verbindlichkeit der Beziehungsformen eine schwere Fehlentwicklung. Seine Kritik richtet sich auf ausbleibende Sanktionen im Falle abweichenden Verhaltens von (bisherigen) sozialen Normen. Das bewirke eine „Entfamiliarisierung der Frau“ (S. 88) und „Entprivatisierung der Familie“ mit der Folge expandierender Peergroups, Kommunikationsmedien sowie der Individualisierung. Die Unverbindlichkeit individueller Werte korreliere mit der Durchsetzungsfähigkeit des politischen, öffentlichen und insbesondere staatlichen Ordnungs- und Kontrollanspruchs.

Auch Bernhard Bueb bezieht eine kulturkritische, normative Gegenposition. In einem kurzen Abriss der Geschichte des Internats Schloss Salem verknüpft er die Ideale der Reformpädagogik wie Mut, Toleranz, Gemeinsinn mit den bürgerlichen Sekundärtugenden Askese, Arbeit und rationaler Lebensführung als Fundament des Zusammenlebens. Dagegen akzentuiert Heinz-Elmar Tenorth die gesellschaftliche Hochachtung der Bildung als Wert an sich, während die Bildungsinhalte höchst unterschiedlich wahrgenommen würden. Auch er hält mehr Leistung unter den Bedingungen einer pluralisierten Gesellschaft für unverzichtbar. Ebenso entscheidend sei jedoch Kritikfähigkeit, verbunden mit Respekt und Anerkennung der Vielfalt von Kulturen, Lebenswelten und Milieus.

Wie sehr die „bürgerlichen Werte“ in den europäischen Institutionen, Konventionen und Praktiken verankert sind, zeigen gleich mehrere Beiträge. Andreas Schulz fokussiert die Wertewelt des Bürgertums, deren langfristige Durchsetzungsfähigkeit auf ihre außerordentliche Flexibilität zurückzuführen sei. So sei beispielsweise das frühere Ideal der geistigen und materiellen Selbstständigkeit durch Bedürfnisse nach Sicherheit und Anpassung aufgeweicht worden. Ein zentrales bürgerliches Feindbild verkörperten lange die Arbeiter und ihre Interessenvertretungen, wie Klaus Tenfelde eindringlich schildert. Sie wurden durch die „Konstrukteure von Werten“ (S. 40, S. 42) aus der bürgerlichen und staatlichen Sozialreform, der literarischen Welt, den Kirchen sowie der Unternehmerschaft mit ihrer betrieblichen Sozialpolitik geprägt. Die Stärke der politischen Arbeiterbewegungen begreift Tenfelde als wesentlichen Bestandteil der Entwicklung des Sozialstaats in Europa.

Gerhard A. Ritter beschäftigt sich mit dem gewandelten europäischen Nationalstaatsverständnis. Die Europäische Union betrachtet er nicht nur als Zweckverband, sondern auch als „Wertegemeinschaft“ (S. 122). Um das „Modell Deutschland“ fortzuführen, sei eine Rückbesinnung auf „ältere Werte wie die Orientierung am Gemeinwohl, die Leistungsbereitschaft und die Eigenverantwortung gegenüber neuen hedonistischen Werten wie dem Vorrang der Freizeit gegenüber der Arbeit und der Fixierung auf den Staat als wichtigsten oder gar alleinigen Träger der Daseinsvorsorge“ notwendig (S. 125). Hans-Peter Schwarz vergleicht die „Werthorizonte des europäischen Nationalstaates“ im Jahr 1958 mit denen von 2008. Er kommt zum Ergebnis, dass sich die Erwartungen an den Nationalstaat partiell aufgelöst hätten, während die supranationalen europäischen Institutionen eine früher kaum vorstellbare Wirkungsmacht entfalten würden. Das „Übergangssystem“ von 1958 sei 2008 zugunsten der Europäischen Union entschieden, mit geteilter Souveränität und offenen Staaten. Ein „unreflektierter Pazifismus“ (S. 134) sei unter den Wählern Europas verbreitet, nicht zuletzt aufgrund problematischer militärischer Einsätze in Serbien, Afghanistan und dem Irak.

Diese Überlegungen werden in der Rubrik „Militär und Zivilität“ von Ute Frevert empirisch bestätigt. Sie skizziert den gegenseitigen Prozess der Zivilisierung des Militärs und der Militarisierung der Zivilgesellschaft seit dem 19. Jahrhundert. Die militärischen Werte in der „Schule der Männlichkeit“ umfassten einen Tugend- und Verhaltenskanon wie Gehorsam, Kameradschaft, Mut und Tapferkeit, aber auch Königs- und Vaterlandstreue, Gottvertrauen und die Verteidigung der „Ehre“. Zugleich erinnert Frevert an den klassischen Wertekanon ziviler Gesellschaften wie zwischenmenschlichen Respekt, Höflichkeit, Zivilcourage und Solidarität bis hin zu Normen der Rechtsstaatlichkeit wie Ehrlichkeit, Vertragstreue, Zuverlässigkeit. Klaus Naumann ergänzt Freverts Darstellung; als ehemaliger Angehöriger der Bundeswehr, Generalinspekteur und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses hält er das Militär für unverzichtbar. Während die Rolle der Bundeswehr im Kalten Krieg klar definiert gewesen und durch die Einsatzbereitschaft ein wesentlicher Beitrag zum Friedenserhalt geleistet worden sei, sei der gegenwärtige Einsatz der Bundeswehr kaum vermittelbar. Die Vorstellung einer Gesellschaft, die meine, alle Konflikte dieser Welt seien durch „Dialog und Verhandlung“ zu lösen, verurteilt er als Illusion (S. 153). Naumann plädiert für eine untrennbare Allianz des Schutzauftrags, der Einhaltung nationaler und internationaler Rechtsnormen sowie des christlichen Glaubens.

Die religiösen Traditionslinien werden in der gegenwärtigen Wertedebatte immer wieder beschworen, während die großen Kirchen zugleich über einen rapiden Mitgliederschwund klagen. Karl Gabriel setzt sich mit der Säkularisierungsthese auseinander und argumentiert, dass die Entkirchlichung mit einer Pluralisierung und Individualisierung der Religion einhergehe. So engagierten sich christliche „Bewegungsgruppen“ für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung zunehmend in der Öffentlichkeit. Er sieht sogar Anhaltspunkte für ein entstehendes internationales religiöses Referenzsystem. Als zukünftige Herausforderungen nennt Gabriel den Umgang mit anderen Religionen und der konfessionellen Konkurrenz, die Beschäftigung mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften sowie die Aussöhnung mit dem modernen Verfassungsstaat. Daniel Deckers fordert mehr Selbstkritik der Kirchen und Konzentration auf ihre klassischen Kompetenzfelder. Als Korrektiv zur inflationären Verwendung des Wertebegriffs plädiert er für den Gebrauch „regulativer Ideen“ und verweist auf die Abstufung zwischen „Wert“ und „Würde“. Am Beispiel der „Menschenrechte“ zeigt Deckers, dass diese keinen Wert verkörpern, „der sich im Handeln realisiert, sondern ein ‚Gut’, das dem Handeln vorausliegt“ (S. 109). Menschenrechte könnten daher nur ge- oder missachtet werden. Diese Aspekte werden in der abschließenden Diskussion zur Frage der „Leitkultur“ kontrovers aufgegriffen, an der Claudia Roth, Christoph Böhr und Rabeya Müller mit eigenen Statements teilnehmen. Darin verbinden sich politische Zielvorstellungen mit religiösen Bekenntnissen und Appellen für eine gesellschaftliche Integration des Islam.

Was sind nun „alte“ und „neue“ Werte? Bereits die Klassifizierung ist das Produkt einer Bewertung, je nach Standort mit positiven oder negativen Konnotationen. Über eine Standortbestimmung hinaus besagt die Klassifikation jedoch wenig über die Beharrungskraft und Wandlungsfähigkeit von Werten. Die heterogenen Beiträge des Sammelbandes lassen neben dem Wertepluralismus eine Verlagerung der Privatsphäre in die Öffentlichkeit erkennen. Hierbei wird die Überlegenheit des Traditionsbestandes ziviler Werte plausibel, ebenso das unausgeschöpfte Wertepotenzial der Religionen. Dagegen werden gesellschaftliche Kernbereiche wie Ökonomie und Ökologie fast völlig ausgeblendet. Inzwischen hat die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise auch die Wertedebatte zusätzlich angefacht und das Risikobewusstsein sowie das Sicherheitsbedürfnis verstärkt. Vielleicht erwachsen daraus neue Chancen für einen konsensfähigen ethischen Mindeststandard als normative Grundlage einer Zivilgesellschaft. Für diese Herausforderung bietet das Spektrum der vorliegenden Reflexionen konstruktive Anregungen.

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