St. J. Heyworth (Hrsg.): Sexti Properti Elegi

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Titel
Sexti Properti Elegi.


Herausgeber
Heyworth, Stephen J.
Reihe
Oxford Classical Texts
Erschienen
Oxford u.a. 2007: Oxford University Press
Anzahl Seiten
LXXXII, 217 S.
Preis
£ 18,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Die griechischen christlichen Schriftsteller, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Ein rundes Jahrtausend – von der Spätantike bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts – war Properz so gut wie vergessen. Das Blatt wendet sich in der aetas Ovidiana, jenem epochalen Umbruch der europäischen Literatur, die sich inspiriert von antiken Stoffen und Texten weltlichen Sujets zuwendet, namentlich der Liebe. Die Wiedergeburt Ovids führt auch zur Wiederentdeckung von Tibull und Properz. Doch die Überlieferung hat dem an apokryphen Anspielungen und subtilen Verweisen reichen, für kompositorische Experimente offenen Text übel mitgespielt. Eine Unzahl von Worten und Wendungen wurden banalisiert oder verfälscht, Verse, Distichen, ganze Partien wurden verstellt oder gingen verloren. Zuletzt hing Properzens Schicksal am dünnen Faden einer arg mitgenommenen (und zu allem Unglück vermutlich anonym tradierten) Handschrift, in der ganze Gedichte durcheinander geraten 1 und wahrscheinlich auch substantielle Teile eines ganzen Buchs verloren gegangen waren. Mit anderen Worten: Die mit rund 150 Handschriften so breite Überlieferung des Dichters geht zurück auf einen konkurrenzlos fehler- und lückenhaften Archetyp, der sich im gotischen Nordfrankreich verorten lässt, am ehesten im Tal der Loire, das in der Überlieferung der großen lateinischen Dichter eine Schlüsselrolle gespielt hat.2

Die Konsequenzen beschreibt Heyworth treffend: „The text of Propertius is one of the worst transmitted of the classical Latin authors; any edition must therefore be seen as provisional, a contribution to a continuing debate“ (S. VII). Sein (englisches) Vorwort resümiert Befund und Geschichte der Handschriften (in die sich berühmte Namen eingeschrieben haben: Richard de Fournival, Poggio Bracciolini, Niccolò Niccoli, Coluccio Salutati oder auch Petrarca)3 und sucht zumindest in Annäherung die Abhängigkeitsverhältnisse zu klären. Im Kielwasser von James L. Butricas Untersuchungen 4 konstituiert Heyworth (mit manchen Retuschen) neben der zentralen Handschrift N und der Familie P(i) eine dritte Linie L(ambda) von Handschriften des 15. Jahrhunderts, die angeblich unabhängig von der älteren Überlieferung Zugang zum Archetyp hatten (die graphische Umsetzung dieses Befundes untertitelt er vorsichtig als „A possible stemma of the Propertian tradition“, S. LXXVIII).

Heyworth hat eine große Zahl von Handschriften ausgewertet. Text und Apparat stützen sich im Wesentlich auf 16 Textzeugen und zwei mittelalterliche Florilegien. Trotz vieler Konjekturen ist der Apparat ein Muster an Übersichtlichkeit (nur sehr selten lässt das sparsame Verweissystem rätseln, auf welches Wort genau eine Konjektur sich bezieht): bei abhängigen Handschriften verzichtet er auf individuelle Lesarten, die zur Rekonstruktion des Archetyps nichts beitragen (sie finden sich in der Regel in älteren Apparaten). Zur Entlastung des Apparates trägt auch ein ‚Index orthographicus‘ bei, der das Dickicht der Varianten lichtet und den Text konsequent nach den Vorgaben des OLD ausrichtet (selbstredend ohne Anspruch, Properzens Schriftbild zu rekonstruieren, vgl. S. LIV–LV).

Doch wie sieht nun der neue Text aus? Gerade bei Properz toben wahre Grabenkämpfe zwischen ‚konservativen‘ und ‚Konjekturalkritikern‘. Auf welche Seite Heyworth sich geschlagen hat, verraten bereits die ersten Seiten. Sie stehen für sein Programm, einer schlechten und mitunter katastrophalen Überlieferung einen durchgängig verständlichen Wortlaut abzutrotzen. So wird man im Text vergebens nach Cruces suchen; doch er wimmelt von Konjekturen, von denen etliche auf das Konto des Herausgebers gehen (allein im Text finden sich über 100 Konjekturen von Heyworth; rund 125 weitere verzeichnet der Apparat).5 Von welcher Qualität sie sind, mögen einige Beispiele aus den beiden ersten Büchern belegen, die auf alle Fälle bedenkenswert, teilweise überzeugend und mitunter schlagend sind:

1,1,33: nam [in codd.] me nostra Venus noctes exercet amaras. Das begründende nam verleiht dem Satz eindeutig mehr Nachdruck.

1,3,26: malaque [munera codd.] de prono saepe uoluta sinu. Properz legt der schlafenden Cynthia Äpfel in die Hand (Zeile 24 furtiva […] poma), die im textus receptus dann gleich zweimal munera heißen (Zeile 25–26). Die Variatio malaque hätte Properz gefallen.

1,7,11: me laudet [laudent codd.] doctae solitum [Markland: solum codd.] placuisse puellae. Heyworth stellt das Distichon Vers 13–14 vor Vers 11–12, was den Gedankengang sichtlich glättet. Nach dem ersten Singular me legat usw. (Vers 13) ist freilich der zweite quasi unvermeidlich.

1,10,13: non solum uestros didici recitare [reticere codd.] calores [Dousa iun.: dolores codd.]. In glühenden Farben feiert Properz die Liebesnacht seines Kollegen Gallus, um ihm im textus receptus dann zu versichern, er werde ‚Schweigen bewahren über seine Qualen‘. Dank Heyworth und einer vergessenen Konjektur aus dem 16. Jahrhundert gewinnt das Bild mit einem Schlag Sinn: Properz will Gallus’ „Leidenschaft besingen“.

2,1,47–48: laus in amore mori; laus altera, si datur uno / posse frui: fruar o semper [solus codd.] amore meo. Das sentenzhafte Trikolon klingt eigenwillig aus: Warum will Properz seine Liebe „allein“ genießen? Im Kontext deutlich besser macht sich Heyworth’ „immerdar“.

2,5,3: hoc merui spectare [sperare codd.]?. Properz will von Cynthia wissen, ob sie sich ihren Ausschweifungen wirklich vor aller Augen hingebe. Wie passt dazu das im textus receptus folgende sperare? Heyworth’ spectare macht nur Sinn, wenn Vers 1–2 als rhetorische Frage gemeint ist (wogegen nichts spricht) – dann aber erheblich mehr als die Überlieferung.

2,5,18: at tu per dominae Iunonis dulcia iura / parce tuis animis, uita, nocere mihi [tibi codd.]. Ein so banaler und im Kontext so schlagender Eingriff, dass man sich verwundert fragt, warum bis dato niemand das Naheliegende sah.

2,8,31: uiderat ille fugam et [fugas oder fuga codd.] stratos in litore Achiuos. Die Lesart fugā war die erste Wahl früherer Herausgeber. Mit fugam et gewinnt die Szene deutlich an Dramatik.

2,12,11: ante ferit quoniam tutos [tuti codd.] quam cernimus hostem, „denn uns, die wir uns sicher wähnen, trifft (Amor), bevor wir den Feind wahrnehmen“. Heyworth’ kleine Retusche verwandelt die attributive Bestimmung des Temporalsatzes ins Objekt des übergeordneten Satzes – eine Konjektur, die den arglosen Leser so jäh trifft wie Amors Pfeil. Definitiv eine seiner besten!

2,18,5: quid mea si iam actis [canis codd.] aetas canesceret annis […] ?. „Was, wenn mein Alter ergraute dank der bereits verflossenen Jahre?“ Das in allen Handschriften überlieferte canis (sc. annis) ist letztlich redundant und vermutlich ein Echo des Verbs (can-).6 Doch was hat es verdrängt? Actis leuchtet nicht nur paläographisch ein (die bestechende Ähnlichkeit mit dem benachbarten aetas), es passt auch inhaltlich.

2,20,31: sitque [atque codd.] inter Tityi uolucres mea poena iacere [uagetur codd.]. Vier Exempla setzen ins Bild, wie die Unterwelt Properz strafen soll, falls er Cynthia untreu wird. Die rätselhafte Buße Vers 31 vermochte freilich keiner der Exegeten wirklich befriedigend zu erklären.7 Ob Heyworth den ursprünglichen Wortlaut trifft, muss offen bleiben. Doch auf alle Fälle hat sein Vorschlag Stil.

2,27,8: cum Mauors dubius [dubias codd.] miscet utrimque manus. Dem Leben droht vielerlei Gefahr, etwa Bürgerkrieg, „wenn Mars von beiden Seiten unentschiedene [ohne Enallage sinngemäß ‚mit ungewissem Ausgang‘] Schlachtreihen zusammenprallen lässt“. So die Überlieferung. Heyworth’ „unentschiedener Mars“ ist eine attraktive Alternative.

2,32,15: et sonitus [leuiter codd.] nymphis tota crepitantibus urbe. Properz beschreibt romantische Plätze in Rom, beispielsweise Brunnen mit der „Musik ihrer plätschernden Fluten“. Heyworth’ sonitus ist gewagt, jedoch leuiter in mehr als einer Hinsicht überlegen (wie passt „sanft“ zu dem lauten Plätschern?). Doch wirklich „überall in der Stadt“? Tota … urbe scheint ein Echo von Vers 24 (in tota […] urbe). Properz hat eher einen bestimmten Brunnen vor Augen. Dann aber ist Heinsius’ toto […] orbe quasi de rigueur.

Zwanzig Jahre Arbeit, vor allem aber viel Inspiration und Intuition sind in Heyworth’ neuen Properz geflossen, ähnlich wie in Tarrants Metamorphoses. Und wie der neue Ovid aus Harvard markiert auch der radikale Oxforder Properz einen Einschnitt. Kalt lassen dürfte er niemanden. Man kann ihn hassen (doch selbst konservative Stimmen werden ihm das hohe philologische Niveau schwerlich absprechen) oder man wird ihn lieben – eher zweiteres. Wer den Band eine Weile auf Schreib- und Nachttisch hatte, mag ihn nicht mehr missen. Denn Heyworth rückt Properz ein gutes Stück aus den Schatten der dunklen Jahrhunderte, und wir lesen ihn wie mit neuen Augen.

Anmerkungen:
1 Ein notorisches Beispiel für ein zerpflücktes Gedicht zitiert Heyworth zum Vergleich in der Lesart der maßgeblichen Handschrift N, Elegie 3,7 (S. 193-195).
2 Dort, auf alle Fälle aber in Nordfrankreich beginnt der Text in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu zirkulieren. Nicht von ungefähr finden sich die ersten sicheren Verweise auf Properz bei dem antikebegeisterten Bischof von Chartres, John of Salisbury (ca. 1120-1180). Und der älteste erhaltene Textzeuge N wird um 1200 in Nordfrankreich kopiert.
3 Pflichtlektüre ist die kleine Geschichte der Properzkritik seit der Renaissance (S. LVI-LXI), in der Scaliger und Heinsius Ehrenplätze einnehmen.
4 Butrica, James L., The manuscript tradition of Propertius, Toronto 1984. Zu Kritik an Butricas Ergebnissen vgl. u.a. La Penna, Antonio, in: Gnomon 61 (1989), S. 118-126; Murgia, Charles E., The division of Propertius 2, in: Materiali e discussioni per l’analisi dei testi classici 45 (2000), S. 147-242, hier S. 195-222.
5 Rechnet man Umstellungen und Tilgungen von Versen und ähnliches mit, kommt man auf insgesamt rund 280 realisierte oder in Betracht gezogene Eingriffe.
6canesceretN, caneret die übrigen Handschriften (zu weiteren Varianten vgl. die kritischen Apparate).
7 So z.B. Camps, William A., Propertius, Elegies Book II, Cambridge 1967, S. 148: „mea poena = dum ego punior“; weitere ältere Erklärungsversuche dokumentiert Fedeli, Paolo, Properzio, Elegie Libro II, Cambridge 2005, S. 606f.

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