S. Terwey: Moderner Antisemitismus in Großbritannien

Titel
Moderner Antisemitismus in Großbritannien 1899-1919.


Autor(en)
Terwey, Susanne
Erschienen
Anzahl Seiten
274 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Wyrwa, z. Zt. Gastprofessor am Fritz-Bauer-Institut an der Goethe Universität Frankfurt am Main

Großbritannien gilt als eines der wenigen Länder in Europa, in dem sich kein organisierter Antisemitismus herausbilden und keine antisemitische Bewegung Fuß fassen konnte. Tatsächlich war die relativ kleine Zahl von Juden, die nach der Wiederzulassung in Großbritannien eingewandert waren, sehr stark in die bürgerliche Gesellschaft integriert. Sie hatte einen deutlichen sozialen Aufstieg erfahren und war nicht zuletzt aufgrund der spezifischen kirchengeschichtlichen Situation des Landes auch als Religionsgemeinschaft anerkannt. Diese Situation änderte sich jedoch, als mit den Pogromen und Verfolgungen in Osteuropa eine starke Einwanderungswelle von osteuropäischen Juden nach Großbritannien einsetzte und das kulturelle Klima umzuschlagen drohte. Lebten um 1880 in Großbritannien nur etwa 60.000 Juden, so erreichte die Zahl bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges etwa 265.000. Welche Folgen dieser Anstieg für die politische Kultur und die öffentliche Meinung in Großbritannien hatte, ist in der aktuellen historischen Forschung kontrovers diskutiert worden. Während Einvernehmen darüber herrscht, dass es trotz des veränderten politischen Klimas in Großbritannien nicht zur Herausbildung einer antisemitischen politischen Bewegung gekommen ist, dreht sich die Diskussion vor allem darum, inwieweit sich im Zuge der Einwanderungsbewegung auch in Großbritannien antisemitische Vorurteile und negative Judenbilder in der Gesellschaft verbreitet haben.

Auf die für das Aufkommen antisemitischer Ressentiments in Großbritannien so zentrale Debatte über die Einwanderung, die im Kontext der Einführung des neuen Einbürgerungsgesetzes, dem Aliens Act von 1905, in der britischen Öffentlichkeit geführt wurde, geht Susanne Terwey jedoch lediglich in der Einleitung ein. Darin weist sie auch auf die antisemitischen Vorhaltungen hin, denen sich der britische Premierminister Benjamin Disraeli ausgesetzt sah.

Ihre Arbeit setzt mit den öffentlichen Debatten um den Krieg Großbritanniens in Südafrika von 1899 bis 1902 ein. Vor allem Kriegsgegner bedienten sich in diesen Auseinandersetzungen judenfeindlicher Motive sowie antisemitischer Stereotypen und hielten den Kriegsbefürwortern vor, allein jüdisch-kapitalistische Interessen zu vertreten. Im Folgenden wendet sich Terwey dem Judenbild in der zeitgenössischen Belletristik von der Mitte der 1890er-Jahre bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zu. In der fiktionalen Literatur, und hier wiederum insbesondere in dem seinerzeit ungemein beliebten Genre des Kriminal- und Spionageromans, so kann Terwey anschaulich zeigen, dominierte das Motiv des deutschen Juden als Spion. Jüdische Figuren erschienen darin etwa als Drahtzieher eines von Berlin aus initiierten und gegen Großbritannien gerichteten Komplottes.

Überzeugenderweise widmet Terwey in ihrer Rekonstruktion antisemitischen Bildern und Motiven der politischen Publizistik breiten Raum, wobei sie vor allem die Tätigkeit des Journalisten James Leopold Maxse und die von ihm herausgegebene konservative Zeitschrift „National Review“ analysiert. Maxse porträtiert sie als einen der „produktivsten britischen Antisemiten des frühen 20. Jahrhunderts“ (S. 108), der in seinen Schriften immer wieder vor einem angeblichen internationalen jüdischen Syndikat warnte und darüber lamentierte, dass eine Gruppe kosmopolitischer Juden England dirigiere, bis dann im Zuge des Krieges die Figur des „deutschen Juden“ in seinen Kampagnen in den Vordergrund trat. Auch wenn sich britische antisemitische Publizisten, wie Terwey zeigen kann, vom rassistischen oder religiös motivierten Antisemitismus kontinentaleuropäisch beziehungsweise deutscher Provenienz distanzierten, bildete sich an Hand der Präsenz von Juden in der britischen Gesellschaft, insbesondere in der Finanzbranche oder im Pressewesen, ein, wie Terwey prägnant formuliert, „antisemitisches Raisonieren“ (S. 139) heraus. Ein neues antisemitisches Element kam schließlich mit der Oktoberrevolution auch in Großbritannien in die politische Sprache, wobei hier nicht nur die Figur des jüdischen Bolschewisten im Vordergrund stand, sondern vielmehr das Motiv des deutschen Juden aufgegriffen wurde, der mit Unterstützung der Regierung in Berlin, die Revolution in Russland initiiert habe. Die Ereignisse erschienen in der antisemitischen britischen Presse somit als eine Revolution made in Germany, und nach dem Friedensschluss von Brest-Litowsk wurden die Juden als „Agenten des deutschen Separatfriedens“ (S. 147f.) diffamiert. Ausführlich beschäftigt sich Terwey mit der antisemitischen Schrift des Arztes und Publizisten John Henry Clarke „England unter der Ferse des Juden“ (1918), der dem radikal nationalistischen Lager Großbritanniens der Zwischenkriegszeit angehörte.

Wie Terwey zeigt, gingen in der Sprache britischer Judenfeinde insbesondere während des Krieges germanophobische und antisemitische Motive ineinander über. In der britisch-jüdischen Wochenzeitung „The Jewish World“ versuchten englische Juden daher, ihre Verbundenheit mit Großbritannien zu unterstreichen, und wiesen insbesondere die Unterstellung einer Affinität der Juden für das Deutsche Reich zurück. Gleichwohl kam es während des Krieges gar zu Ausbrüchen antisemitischer Gewalt in Großbritannien, wobei Terwey sowohl die Unruhen, zu denen es nach der Versenkung des Passagierschiffes „Lusitania“ im Mai 1915 in zahlreichen Städten Englands gekommen war, als auch die antisemitischen Gewaltexzesse von 1917, die in der englischen Industriestadt Leeds wie in London ausgebrochen waren, rekapituliert.

Im letzten Kapitel schließlich untersucht sie die Veränderungen des britischen Staatsbürgerschaftsrechts, wie sie sich unter dem Einfluss antisemitischer Stimmungen in Großbritannien bis 1919 vollzogen haben. Terwey macht für diese Entwicklung eine Abkehr von dem für die britische Nation noch bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges maßgeblichen Prinzip des Jus Soli und eine Hinwendung zum Prinzip des Jus Sanguinis aus. Mit dem Ersten Weltkrieg wurde in der britischen Öffentlichkeit die Frage der Britischen Nation und ihr Verhältnis zur Einwanderung neu verhandelt, was zu einer kulturellen und nicht mehr staatsbürgerlichen Neudefinition von Britishness führte.

Im Mittelpunkt der spezifisch britischen antisemitischen Rhetorik, so fasst Terwey ihre Ergebnisse abschließend zusammen, stand das Negativbild des „deutschen Juden“; Antisemitismus und Germanophobie gingen in der Sprache britischer Judenfeinde eine enge Verbindung ein. Trotz der großen Einwanderungsraten osteuropäischer Juden, so die These Terweys, entwickelten britische Judenfeinde paradoxerweise jedoch kein spezifisch negatives Bild des osteuropäischen Juden.

Terwey hat für ihre Studie über den Antisemitismus in der britischen Gesellschaft eine große Zahl sehr unterschiedlicher Texte ausgewertet und ein besonderes Gespür für die Analyse von Zeitungen als historische Quellen bewiesen. Sie hat nicht nur einen wichtigen Beitrag zu den eingangs genannten geschichtswissenschaftlichen Debatten über die Besonderheiten des britischen Antisemitismus geliefert, sondern bietet zugleich reichhaltige Aspekte und vielfältige Hinweise für europäisch vergleichende Fragestellungen und Synthesen.

Gleichwohl bleiben einige Fragen offen und andere Aspekte eher unterbelichtet. So ist Terwey zwar immer wieder auf die Rolle der Kirche und die Bedeutung der Religion eingegangen; jedoch bleiben ihre Ausführungen in diesem Zusammenhang ergänzungsbedürftig, da sie die spezifische kirchliche Situation Großbritanniens ausklammert und weder die besondere Rolle der anglikanischen Kirche noch die Bedeutung des innerprotestantischen Pluralismus oder den spezifisch britischen Antikatholizismus in ihre Überlegungen einbezieht. Weitere Hinweise wären ferner zur politischen Verortung des britischen Antisemitismus hilfreich. Wenn Terwey in ihrer Zusammenfassung schreibt, dass sich die antisemitischen Äußerungen im linken und liberalen politischen Lager kaum von denen konservativer oder rechts von der Mitte angesiedelter Autoren unterschieden, so zeigt ihre Durchführung selbst jedoch nicht unerheblich Differenzen zwischen diesen Milieus, zumal insgesamt Stimmen aus dem konservativen Lager zu überwiegen scheinen.

Terwey weist immer wieder auf das duale Judenbild britischer Antisemiten hin, die den „nationalen“ und den „internationalen Juden“ unterschieden, wobei häufig auch eingebürgerte Juden als „internationale Juden“ diffamiert und ausgegrenzt wurden. Insofern wäre ihre These, dass britische Judenfeinde sich nicht gegen die Grundsätze der Emanzipation stellten, doch zu konkretisieren. Wenn Terwey schreibt, dass der Antisemitismus zu einem „Spiegel kollektiver nationaler Identität“ (S. 247) wurde und die „Neubestimmung nationaler Zugehörigkeit“ (ebd.) im Focus der antisemitischen Rhetorik stand, so zeigt gerade ihr Kapitel über die antisemitischen Motive im Kampf gegen den Kolonialkrieg in Südafrika, wie sehr eher kapitalismuskritische als nationalistische Positionen in diese eingingen. Terwey weist schließlich darauf hin, dass britische Antisemiten für sich den Terminus Antisemitismus ablehnten, und sie entwickelt daraus die These, dass Großbritannien das einzige Gemeinwesen gewesen sei, in dem der Begriff Antisemitismus schon vor dem Holocaust Tabu war und negativ belegt gewesen sei (S. 14). Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass auch weite Teile des konservativen, bildungsbürgerlichen Lagers in Deutschland den Terminus Antisemitismus abgelehnt haben, weil dieser allzu sehr mit dem sogenannten Radauantisemitismus assoziiert wurde, sich in diesen Kreisen gleichwohl eine antisemitische Gesellschaftsstimmung durchgesetzt hatte. Zu kritisieren wäre abschließend vor allem der Verlag, der jegliche Lektoratstätigkeit an diesem Buch hat vermissen lassen. Eine sprachliche Überarbeitung hätte der Studie sehr gut getan.

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