B. Severin-Barboutie: Großherzogtum Berg

Cover
Titel
Französische Herrschaftspolitik und Modernisierung. Verwaltungs- und Verfassungsreformen im Großherzogtum Berg (1806-1813)


Autor(en)
Severin-Barboutie, Bettina
Reihe
Pariser Historische Studien 85
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Knauer, SFB 496 "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme", Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Zahlreiche Ausstellungen, Tagungen und Gedenkveranstaltungen in Erinnerung an die 200 Jahre zurückliegende napoleonische Herrschaft in Deutschland haben der Erforschung der so genannten Modellstaaten in letzter Zeit enormen Auftrieb verschafft.1 Während für das Königreich Westphalen durch Helmut Berding bereits seit 1973 eine moderne Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte vorliegt 2, war es um den zweitgrößten der von Napoleon geschaffenen Kunst- und Modellstaaten, das Großherzogtum Berg, bislang eher schlecht bestellt. Mangels Alternativen wurde noch 1999 die aus dem Anfang des Jahrhunderts stammende Monographie des Pariser Archivars Charles Schmidt ins Deutsche übersetzt.3 Mit Bettina Severin-Barbouties fundierter und detailreicher Studie zu den bergischen Verwaltungs- und Verfassungsreformen, die mit den Akten Jean Antoine Agar de Mercues, des ersten bergischen Finanzministers, einen bedeutenden und bislang unbekannten Quellenbestand erstmals auswertet (Fonds Mosbourg), wird diese Forschungslücke nun geschlossen.

In ihrer von Berding betreuten Giessener Dissertation unternimmt es Severin-Barboutie, das von der älteren Rheinbundforschung geprägte 4 und von ihr gemeinsam mit anderen Autoren komparatistisch fortentwickelte Modellstaatsaxiom5 für das von 1806 bis 1813 bestehende Großherzogtum Berg im Einzelfall zu überprüfen und von der Regierungsebene über die mittlere bis zur lokalen Verwaltung zu analysieren. Dabei kann sie zeigen, dass der bis zum Sommer 1808 das Großherzogtum regierende Schwager Napoleons, Joachim Murat, entgegen landläufiger Meinung ein ernstzunehmendes Interesse an den bergischen Reformprojekten besaß und eigene Modernisierungsimpulse setzte. Hierzu zählen verschiedene Versuche, dem Land nach westphälischem Vorbild eine moderne Konstitution zu geben, was allerdings am französischen Widerstand scheiterte. Erst als Prinz Murat erfahren musste, dass seine Regierungszeit in Düsseldorf dem Ende zuging, ließ sein Reforminteresse nach.

Severin-Barboutie verknüpft in der Arbeit drei Hauptgedankenstränge. Zunächst werden Entstehungsmotive und Aufgaben des aus den Herzogtümern Kleve und Berg sowie der Grafschaft Mark zusammengesetzten kurzlebigen Staatsgebildes herausgearbeitet, um diese hinsichtlich ihrer praktischen Durchführung in verschiedenen Herrschaftsphasen zu überprüfen. Geklärt werden soll, inwieweit Napoleon tatsächlich „Modellstaatsabsichten“ verfolgte, oder ob er seine Entscheidungen nicht – wie in der Forschung oft vermutet wurde – in erster Linie von „machtpolitischen Erwägungen abhängig machte“ (S. 12). Es geht Severin-Barboutie also um das konkrete Problem, wie sich „französische Herrschafts- und Reformpolitik zueinander verhielten“ (S. 12). Ein zweiter Themenkomplex verfolgt anhand von Verfassungsdiskussion, Verfassungsentwicklung und der Reorganisation der Verwaltung die Grundzüge bergischer Reformpolitik. Umfangreichster und zugleich interessantester Aspekt des Buches ist schließlich der Blick auf die unterste Verwaltungsebene. Auch hier trennt die Untersuchung genau zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die „Neugestaltung der Verwaltung vor Ort“ (S. 163) wird nicht nur nach den Einführungsmodalitäten, sondern auch im Anschluss an die „Aufbau- und Konsolidierungsphase“ (S. 201) beurteilt. Aufgrund ihrer profunden Quellenkenntnis gelingt es Severin-Barboutie, die strukturbedingten Herausforderungen und Widerstände darzustellen, die Direktoren und Munizipalräte im Dienste der zentralisierten, nicht länger landständische Interessen berücksichtigenden Verwaltung zu bewältigen hatten. Die Übernahme des französischen Regierungs- und Verwaltungsmodells, so eines der Ergebnisse der Arbeit, funktionierte nur, soweit sie die örtlichen Ausgangs- und Rahmenbedingungen mit einbezog. Wegen der unterschiedlichen Voraussetzungen in den einzelnen Territorien konnten die Reformen einerseits zu einem wirklichen Bruch bzw. Neuanfang führen, anderseits aber auch nur eine „Anpassung der Gesetzgebung an eine bereits weitgehend modifizierte Wirklichkeit“ bedeuten (S. 365). Bei der Auswahl des Personals führte die Rücksichtnahme auf regionale und lokale Traditionen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Obgleich dessen Rekrutierung im Großherzogtum Berg entsprechend dem französischem Vorbild nicht mehr nach Herkunft, sondern primär aufgrund persönlicher Eignung erfolgen sollte, empfahl Innenminister Graf Nesselrode die bevorzugte Aufnahme von Adeligen in die Kommunalverwaltung, sah er hierin doch ein geeignetes Mittel, „die alten Eliten für die französische Herrschaft zu gewinnen“ (S. 166).

Severin-Barboutie hat eine quellengesättigte, hochinformative und stilistisch beeindruckende Verwaltungsgeschichte eines typischen, zugleich aber von verschiedenen Besonderheiten geprägten napoleonischen Modellstaats verfasst, die nahtlos an vergleichbare Unternehmungen für Frankreichs rheinische Departements anschließt.6 Was der Leser gleichwohl vermisst, sind Gedanken zu kulturellen Praktiken und symbolischen Veränderungen, die mit dem Wechsel zum französischen Herrschaftssystem einhergingen. Neben vereinzelten Hinweisen auf die um 1800 nicht nur in Berg, sondern in weiten Teilen Europas verbreitete Einführung von Regierungs- und Beamtenuniformen oder mit Symbolen der Restauration konnotierte lokale Widerstandsaktionen fehlen Überlegungen zum Loyalitäts-, Bürokratisierungs- und Modernisierungspotential politischer Zeremonien und Rituale, die mit der Einsetzung, Vereidigung oder Amtsaufnahme höherer Staatsdiener – nicht nur in napoleonischer Zeit – einhergingen. Symbolpolitische Analysen wie sie beispielsweise Christopher Buchholz für den napoleonischen Staatskult im linksrheinischen Deutschland angestellt hat, ließen sich sicherlich auch für das Großherzogtum Berg fruchtbar machen.7

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Veltzke, Veit ( Hrsg.), Napoleon. Trikolore und Kaiseradler über Rhein und Weser, Köln u.a. 2007; Dethlefs, Gerd; Owzar, Armin; Weiß, Gisela (Hrsg.), Modell und Wirklichkeit. Politik, Kultur und Gesellschaft im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen (Forschungen zur Regionalgeschichte, 56), Paderborn u.a. 2008; Ausstellungskatalog Eissenhauer, Michael (Hrsg.), König Lustik!? Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen; Ausstellung Museumslandschaft Hessen Kassel, 19.03.-29.06.2008, München 2008.
2 Berding, Helmut, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen (1807-1813), Göttingen 1973.
3 Schmidt, Charles, Das Großherzogtum Berg 1806-1813. Eine Studie zur französischen Vorherrschaft in Deutschland unter Napoleon I. Aus dem Französischen übersetzt von Lothar Kellermann, Neustadt a.d. Aisch 1999 (zuerst Paris 1905).
4 Wohlfeil, Rainer, Napoleonische Modellstaaten, in: Grote, Wolfgang von (Hrsg.), Napoleon I. und die Staatenwelt seiner Zeit, Freiburg i.Br. 1969, S. 33-53.
5 Severin, Bettina, Modellstaatspolitik im rheinbündischen Deutschland, Berg, Westfalen und Frankfurt im Vergleich, in: Francia 24 (1997), 2, S. 181-203; auf einzelstaatlicher Ebene Berding, Helmut, Das Königreich Westfalen als Modellstaat, in: Ders., Aufklären durch Geschichte. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1990, S. 215-230; Engelbrecht, Jörg, Das Großherzogtum Berg als napoleonischer Modellstaat, in: Klueting, Harm (Hrsg.), 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss. Säkularisation, Mediatisierung und Modernisierung zwischen Altem Reich und neuer Staatlichkeit, Münster 2005, S. 253-264.
6 Graumann, Sabine, Französische Verwaltung am Niederrhein. Das Roerdepartement 1798-1814, Essen 1990.
7 Buchholz, Christopher, Französischer Staatskult 1792-1813 im linksrheinischen Deutschland. Mit Vergleichen zu den Nachbardepartements der habsburgischen Niederlande, Frankfurt a.M. u.a. 1997.

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