I. Götz, H. Honolka: Deutsche Identität und das Zusammenleben mit Fremden

Titel
Deutsche Identität und das Zusammenleben mit Fremden. Fallanalysen


Autor(en)
Götz, Irene; Honolka, Harro
Anzahl Seiten
265 S.
Preis
€ 27,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Manuela Ribeiro-Sanches, Departamento de Estudos Germanisticos Faculdade de, Letras da Universidade de Lisboa

Im Zeitalter der Globalisierung scheint das Nationale zunehmend wieder Oberhand zu gewinnen. Belege dafür, dass lokale Identitäten trotz einer stets behaupteten Tendenz der Nivellierung keineswegs verschwinden, lassen sich täglich finden. Kulturen, Regionen, Minderheiten und Lebenswelten, die als ausgestorben oder als von finance- oder mediascapes (Appadurai) korrumpiert gelten, wehren sich hartnäckig gegen die Kräfte des globalen Kapitalismus und scheinen sich durchaus manchmal auch durchsetzen zu können. Ob und wie sich lokale Identitäten äußern, ob sie sich hybrid, widersprüchlich oder als Patchwork artikulieren, hängt von den jeweiligen Verhältnissen ab, in denen sie sich entfalten, und den damit zusammenhängenden bzw. davon abhängigen Abwehrstrategien, die wiederum nicht zuletzt durch das Globale verursacht werden.

Eine Tatsache ist auch, dass das Nationale als eine entscheidende Komponente jenes Beharrens auf Identität weiter besteht. Und auch die nationale Identität ist von Widersprüchen und Ambivalenzen geprägt, etwa wenn regionale Autonomieansprüche dem nivellierenden Zugriff des Nationalen entgegengesetzt werden. Offensichtlich, so könnte man diese Beobachtung weiterführen, kann die Nation, unabhängig davon, wie sie gedacht wird, einen positiv bzw. negativ beladenen Begriff und Bezugspunkt bieten. Und dies führt zu der Frage, wie das, was unter Nation verstanden wird, jeweils unterschiedlich erlebt und begriffen werden kann, entsprechend eben der Erfahrungen in verschiedenen Kontinenten und Ländern. Benedict Anderson hat gezeigt, wie solche imagined communities des Nationalen von den ersten globalisierenden Kommunikationsmitteln gefördert wurden und dass solche modernisierenden Tendenzen selten dem Lokalen gerecht werden konnten.

In Deutschland scheinen globalisierende nivellierende Tendenzen keine Oberhand gewonnen zu haben. Vielmehr scheinen hier nationale und regionale Identitäten nebeneinander zu bestehen, was sich nicht zuletzt in einer homogenen Vorstellung von Deutschsein niederschlägt. Nationale Identifikationsangebote bestehen hier anscheinend neben anderen, ohne dass sich diese gegenseitig durchdringen oder gar in Frage stellen. Von einer solchen scharfen Grenze zwischen Eigenem und Fremden zu reden, was ebenfalls einem homogenen Begriff der Nation entsprechen könnte, ist allerdings nicht mit der Behauptung gleichzusetzen, dass das Nationale ohne Einwände oder Widersprüche begriffen und erlebt würde. Dass man sich in Deutschland nicht als Nationalist, sondern als Verfassungspatriot darstellen soll, entspricht offenbar einem Konsens, der aus der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit stammt und den die Forschung in ihren neueren Versuchen, sich diesen verpönten Begriff anzueignen, bestätigt. Man könnte behaupten, dass dementsprechend in der "verspäteten Nation" Identifikationsprozesse sichtbar werden, die eher durch widersprüchliche Kohärenz als durch Ambivalenz zu kennzeichnen wären.

Zu diesen Überlegungen wurde ich durch die Lektüre des von Honolka und Götz gemeinsam herausgegebenen Bandes veranlasst. Absicht der vorliegenden Studie ist es, das Verhältnis zwischen dem Verständnis von Nation und dem Zusammenleben mit Fremden herauszuarbeiten. Es handelt sich aber nicht um eine lediglich theoretisch verstandene Frage, sondern es geht den Autoren darum, anhand von lebensgeschichtlichen Interviews konkret danach zu fragen, inwieweit ein bestimmtes Verständnis von Nation das Verhalten gegenüber Ausländern positiv oder negativ beeinflusst.

Den Ausgangspunkt bildet die interdisziplinäre Forschung über das Nationale, die im Anschluss an das Wiedererstarken nationaler Strömungen seit den 1980er Jahren in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern durchgeführt wurde. Dass in Deutschland der Begriff Nation weiterhin ein umstrittenes Thema darstellt, wird durch die einleitenden Bemerkungen zum ersten Kapitel ("Die öffentliche und wissenschaftliche Beschäftigung mit der Untersuchungsfrage") deutlich. Hier wird darauf hingewiesen, wie das Nationale sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in der politikwissenschaftlichen und soziologischen Forschung zunehmend problematischer wurde. Rückblickend auf die Ereignisse der 1990er Jahre, insbesondere die deutsche "Wiedervereinigung" mit ihren Folgen für eine angeblich labile deutsche Identität, aber auch auf die Entwicklungen im post-kommunistischen Europa, zeigte sich, dass der lockerere Umgang mit dem Nationalen, den man während der 1980er Jahre wiedergewonnen hatte (S. 12-13), zunehmend fragwürdig erscheinen musste. Ebenso erwies sich der Verdacht einer überzogenen "Ethnisierung" immer mehr als berechtigt.

Diese Tendenzen wurden durch die Suche nach den möglichen Berührungspunkten zwischen nationaler Identität und den Abwehrmechanismen, die angesichts der Ströme neuerer Einwanderer in Deutschland mobilisiert wurden, bestätigt - trotz aller Vorbehalte gegen die "Regenerierung eines deutschen Sonderbewusstseins" (Habermas, zit. S. 13) oder der "als dringlich begriffen[en] Abwehr einer 'nationalen Wiedergeburt'" (S. 13). Die deutsche Tabuisierung des Nationalen macht es den Autoren zufolge um so notwendiger, nach Nation und nationaler Identität zu fragen, besonders angesichts der Schlussfolgerungen einer vorurteilsloseren Forschung, dass die Nation weiter eine durchaus positive Identifikationsmöglichkeit darstellt.

Den beiden Autoren zufolge wurde allerdings bisher wenig nach dem Einfluss gefragt, "den der immer wieder geführte öffentliche Diskurs über das Thema 'deutsche Identität' auf die Wahrnehmung der Menschen hatte". Die "Rolle des Zusammenwirkens verschiedener kollektiver Identitäten neben der nationalen" und der Einfluss von mikro- bzw. makrokontextuellen Faktoren, wie Modernisierung, Globalisierung, Medien und wirtschaftliche Knappheit, blieben bislang, obwohl erkannt, "empirisch klärungsbedürftig"(S. 27). Ein entscheidendes Moment des vorgelegten Bandes ist die Interdisziplinarität: Es werden Resultate unterschiedlicher Gebiete, die sich mit dem Thema der nationalen Identität beschäftigt haben, herangezogen, namentlich der Soziologie, der Sozialpsychologie, der Politischen Psychologie und der Volkskunde, deren qualitative Ansätze die Befragung methodisch leiten. In der Gegenüberstellung der Forschungserträge werden nicht nur die unterschiedlichen Tendenzen der verschiedenen Disziplinen deutlich, sondern auch deren jeweilige Orientierungsrahmen. Während Soziologen sich eher an globalen oder transnationalen Beispielen zu orientieren scheinen, waren Volkskundler und Historiker in erster Linie an der spezifisch deutschen Art interessiert, Identität zu konstruieren und zu gestalten.

Das zweite Kapitel widmet sich Arbeitsbegriffen und Methodik. Hervorgehoben wird, dass die Grundlage des Bandes ein Forschungsprojekt bildete, das sich zum Ziel setzte, "Erfahrungen zu sammeln, wie sich das für Deutsche schwierige Thema der nationalen Identität mit qualitativen Methoden erforschen lässt". Es handelt sich also nicht um quantitative demoskopische Umfragen, sondern um Interviews, die mit qualitativen Methoden der gestellten Frage nachgehen. Mit den ausführlichen Informationen zur Methodik wollen die Autoren den Lesenden nicht nur den Entstehungskontext der Interviews verdeutlichen, sondern sie auch mit dem Vorgehen bei der Auswertung vertraut machen. Ein zentrales Moment der Studie bildet der Rückgriff auf Interviews "mit Personen aus dem eigenen Bekanntenkreis, (S. 29), ein von den Autoren eingeführtes Verfahren, das es ermöglichen soll, ein entspannteres Verhältnis zwischen Beobachter und Beobachteten herzustellen bzw. Korrekturen der Aussagen durch die Einbettung in das Wissen um die Lebenswelt der Interviewten zu erlauben. Der Ansatz beabsichtigt außerdem, Rationalisierungsstrategien zu relativieren und widersprüchliche Einschätzungen herauszuarbeiten. Dabei sollen möglicherweise bestehende Spannungen zwischen den letzteren und den konkreten lebensweltlichen Verhältnissen entziffert werden, um daraus einen differenzierteren Einblick zu gewinnen und zu eilfertige Schlussfolgerungen zu vermeiden angesichts eines bis vor kurzem tabuisierten bzw. bis jetzt problematischen Themas. Daher werden die Auswahl der Befragten, die Vorbereitung der Interviews und die Deutung der gesammelten Aussagen detailliert dargestellt.

Die insgesamt 40 Interviewten gehören verschiedenen Altersgruppen und Lebenswelten an und vertreten unterschiedliche politische Einstellungen. Der größte Teil stammt aus Süddeutschland, namentlich aus Bayern, die anderen aus Osteuropa, etwa dem sog. Sudetenland und der früheren Tschechoslowakei, oder aus der ehemaligen DDR.

Der dritte Teil des Buches widmet sich der Interpretation der erhobenen Daten, wobei einige allgemeine Schlussfolgerungen gezogen werden. Besonders interessieren dabei diejenigen, die sich mit der nationalen Identität befassen. Die Autoren kennzeichnen sie als durchaus "ambivalent", da die Befragten insgesamt dazu tendieren, sich widersprüchlich und reflektiert zu ihrer nationalen Identität zu äußern. Schuldgefühle angesichts der nationalsozialistischen Vergangenheit werden mit der Thematisierung der Scham, die man als Deutscher im Ausland empfindet, in Verbindung gesetzt. Doch fehlt auch nicht ein gewisser Stolz auf das Deutschsein, das häufig mit Wohlstand, Effizienz, Leistungsfähigkeit, Ordnung und Sauberkeit in Verbindung gebracht wird. Besonders interessant ist hier, wie die in den Medien verbreitete Meinung, dass Ostdeutsche eher zu "dezidierter Ausländerfeindlichkeit" (S. 111) tendieren, durch drei Fallstudien korrigiert wird. Die Fremdheitsgefühle im vereinten Deutschland ermöglichen es diesen Interviewpartnern, solidarische Gefühle mit Ausländern und Strategien des Umgangs mit Fremden zu entwickeln.

Das vierte und letzte Kapitel enthält eine Auswahl der Interviews mit Bekannten, die anhand der im zweiten Teil erwähnten Vorgehensweisen interpretiert werden, so dass die Lesenden sowohl die "biographischen und lebensweltlichen Aspekte", die "Darstellung der kollektiven Identifizierung des Befragten" (S. 119) als auch "die persönlichen Motive und Impulse" (S. 220) bei aller Gefahr der "'Ethnisierung' des gesellschaftlichen Diskurses" (S. 119) erkennen können.

Das Kapitel ist um so aufschlussreicher, als - dank der detaillierten Angabe über Erhebung wie Auswertung der Interviews - Kontexte und Zusammenhänge nachvollzogen und relativiert werden können. Herausgearbeitet wird von den Autoren, dass Alter, Herkunft, Erlebnisse und Erfahrungen konstitutive Momente von Identität und Ausgrenzung sind. Dies erlaubt es, die vermeintlichen Ambivalenzen, die die deutsche Identität gemäß den Autoren kennzeichnen (S. 57 ff.), in Frage zu stellen, da die Interviews und Portraits das Gegenteil zu belegen scheinen: Trotz aller Widersprüche bestehen zwischen dem "Eigenen" und dem "Fremden" weiter feste Grenzen, die konsequenterweise dazu führen, dass "Hybridität" und "Patchwork"-Identität - gegen alle Reden von Soziologen und anderen Sozialwissenschaftlern - selten nachweisbar sind (S. 117). Vielmehr scheinen die mit "integrierten Identitäten" Ausgestatteten (S. 74) "vor allem im Ausland an Deutschland zu leiden" (S. 58).

Was uns zu der Schlussfolgerung führt, dass die aufgrund der üblichen nationalen Identifikationsprozesse integeren bzw. integrierten Identitäten - trotz aller regionalen oder europäischen bzw. kosmopolitischen Identifikationsmomente - eben dazu führen müssen, dass "weder [...] häufige Hinweise auf eine tendenzielle Unschärfe in der Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden, wie einige Modernisierungstheoretiker annehmen, noch auf eine starke Tendenz zur 'Enträumlichung' Kollektiver Identitäten" zu finden sind (S. 117). Kann das Oszillieren zwischen Schuld/Scham und Stolz auf das Deutschsein als Ambivalenz verstanden werden oder muss es eher als undialogisches, dialektisches Identitätskonstrukt gedeutet werden, das des "Wir und Ihr"-Bilds um so mehr bedarf, als jegliches Überschreiten von Grenzen den Verdacht von Entsagung an aufklärerische Potentiale zu verraten droht?

Es sei noch hinzugefügt, dass die Autoren trotz aller Vorbehalte gegenüber zu eilfertigen Schlussfolgerungen doch ab und zu einen gewissen Optimismus vertreten (S. 59-62), was die Folgen von Identifikationsprozessen in einem nationalen Rahmen anbelangt. Dabei werden u. E. Kontakte zu Ausländern nicht differenziert genug betrachtet: Denn eine Sache ist der Umgang mit einem Franzosen, Deutschen, Engländer oder Nordamerikaner, eine andere der mit einem "Gastarbeiter" aus dem Süden oder aus dem Osten, wobei ein wichtiger Faktor wie "Rasse" von den Autoren fast nicht beachtet wird.

Der Band hat zweifelsohne den Vorteil, einen wichtigen Ausgangspunkt für weitere, vergleichende Forschungen zu liefern, die manche Resultate - und in dieser Rezension versuchsweise angeführte Fragen - relativieren und ergänzen bzw. diesen widersprechen können.

Man erlaube solche "ambivalenten" Äußerungen seitens einer "hybriden" Rezensentin, einer portugiesischen Germanistin, die darauf bestehen möchte, dass Auseinandersetzungen und Erfahrungen mit der Fremde es erlauben, stabile Identitätsgrenzen durch labilere hybride Identifikationsprozesse zu ersetzen. Dass hybride bzw. Patchwork-Identitäten ausländerfeindliches Verhalten nicht ausschließen, wird auch anhand zweier Fallstudien von den Autoren gezeigt. Doch sollten dieser Einzelfälle nicht zu stark gewichtet werden. Der Vorteil von hybriden und Patchwork-Identitäten scheint aufgrund der Aufregung um doppelte Staatsbürgerschaft und der neueren Debatte zur deutschen "Leitkultur" um so deutlicher zu sein.

Dies ist allerdings nicht ohne manches Zögern aus einem "postkolonialen" Portugal geschrieben, wo die Verklärung eines vermuteten, aber wenig erforschten "Lusotropikalismus", nämlich tradierte Vorstellungen von einem vermeintlichen, selten in Frage gestellten toleranten hybriden Nationalismus, eine dringend notwendige reflektiertere Auseinandersetzung mit ausländerfeindlichen Praktiken verhindert. Was auch so verstanden werden könnte, um zu den einleitenden Bemerkungen zurückzukommen, dass im Zeitalter der Globalisierung, nationale und andere Identifikationsprozesse und -strategien und die entsprechenden Folgen sich nur schwer verallgemeinern lassen.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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