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Titel
Zwischen zwei Welten?. Übertritte von Juden zum Christentum im Spiegel von Konversionserzählungen des 17. und 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Carl, Gesine
Reihe
Tromsöer Studien zur Kulturwissenschaft 10
Erschienen
Hannover 2007: Wehrhahn Verlag
Anzahl Seiten
572 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Bock, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Konversionen im Sinne individueller Glaubenswechsel haben sich in den letzten Jahren zu einem populären Untersuchungsobjekt der Frühneuzeitforschung entwickelt.1 Das wachsende Interesse an religiösen Grenzgängern und -überschreitern speist sich dabei auch aus einer kulturwissenschaftlichen Neigung zu Grenzbereichen und Grauzonen, zu Uneindeutigem und schwer Kategorisierbarem, deren Bedeutung für vormoderne Glaubenswelten (wieder-)entdeckt wird, nachdem solche Phänomene durch Forschungsrichtungen wie die Konfessionalisierungsforschung aus dem Blick geraten waren. Das derzeitige Forschungsinteresse an Konversionen sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei formalen Glaubenswechseln in der Frühen Neuzeit um ein – in Relation zu Bevölkerungszahlen – seltenes Phänomen handelte, insbesondere im Fall von Übertritten von Juden zum Christentum. Entsprechend ihrer Seltenheit erregten solche Fälle aber oft über den lokalen Raum hinausgehende Aufmerksamkeit.

Gesine Carl widmet sich in ihrer Saarbrücker Dissertation der faszinierenden Gattung der frühneuzeitlichen Konversionsberichte, bei denen der Grat zwischen individueller Gestaltung und topischer, (kontrovers-)theologisch bestimmter narrativer Gestaltung oft sehr schmal ist, was den Historiker vor die methodische Herausforderung stellt, das eine vom anderen zu scheiden und gleichzeitig die Frage aufwirft, ob eine solche Trennung nicht vielleicht auch anachronistisch sein kann.

Dieser Herausforderung stellt sich Gesine Carl sehr gründlich. In ihrer bewusst im Grenzgebiet zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft angesiedelten Studie zu Erzählungen über Konversionen von Juden zum Christentum im mitteleuropäischen Raum wendet sie konsequent die „Methode der Lektüre ‚zwischen den Zeilen‘“ (S. 538) an. Sie bezieht sich auf die einschlägigen Publikationen in diesem Bereich 2 und stellt ihrer Untersuchung eine differenzierte Auseinandersetzung mit wichtigen theoretischen Arbeiten der Religionssoziologie und -psychologie voran (William James, John Lofland, Rodney Stark, David A. Snow, Richard Machalek, Lewis R. Rambo, Thomas Luckmann, Bernd Ulmer, Franz Wiesberger, Monika Wohlrab-Sahr).

Die Hauptfragen der Studie betreffen die Verankerung der Konvertiten in mehreren Beziehungsnetzwerken, die Wahrnehmung der Glaubenswechsel durch die Betroffenen selbst ebenso wie durch ihre jüdischen und christlichen Zeitgenossen und schließlich die Etablierung der Konvertiten in ihrer neuen Beziehungswelt. Die Arbeit gliedert sich in zwei große Teile: Im ersten Teil (S. 78-237) werden 35 Erzählungen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, durch die sich die Konversionen von 41 Personen erschließen lassen, systematisch nach verschiedenen Analysekategorien ausgewertet. Dem wird im zweiten Teil (S. 238-526) eine extensive Fallstudie des Konvertiten Christian Salomon Duitsch (1734-1795) gegenübergestellt und nach analogen Kriterien analysiert. Das im ersten Teil ausgewertete Quellenkorpus lässt sich noch einmal unterscheiden in Autobiographien – also Selbstzeugnisse – und Biographien über Konvertiten, die zumeist von den deren Lehrern und Konversionsbegleitern abgefasst wurden. Obwohl Carl diese beiden Quellentypen, die doch recht unterschiedliche Sichtweisen auf einen Glaubensübertritt vermuten lassen, im einzelnen stets mitbedenkt, geht die Unterscheidung in der Fülle der ausgewerteten Details manchmal unter; hier wäre eine systematischere Berücksichtigung hilfreich gewesen.

Sehr sorgfältig und mit Gespür für Zwischentöne analysiert Carl ihr Quellenkorpus, wobei sie zunächst die geographische und zeitliche Verteilung der Konversionsfälle, die Altersstruktur und die sozialen Hintergründe der 32 Konvertiten und 9 Konvertitinnen erörtert. Es folgen detaillierte Auswertungen der Darstellung des Konversionsprozesses (Auslöser der Auseinandersetzung mit dem Christentum, Weg zur Entscheidung, Taufunterricht und Taufe, ggf. Namenwechsel), des Lebens nach der Taufe, der Reaktionen von Juden auf die Taufe, der Begegnungen mit Christen und der Kontakte zu anderen Konvertiten. Die Ausführungen werden abgerundet durch eine Analyse der Adressaten, Schreibmotive und Textgestaltung der Konversionserzählungen.

Auf fast 300 Seiten wird dann exemplarisch und akribisch der lange und konfliktreiche Konversionsprozess des Christian Salomon Duitsch anhand seiner zweibändigen, sehr erfolgreichen Autobiographie (Amsterdam 1768 und 1771) analysiert. In dieser stellt der im ungarischen Temeswar geborene ehemalige Rabbiner in literarisch talentierter, dramatischer und emotionaler Sprache seine Odyssee durch halb Europa dar, die 1767 mit der Taufe in Amsterdam endete und 1777 zur Übernahme der reformierten Pfarrei Mijdrecht führte. Duitschs lebendige Darstellung seiner Lebensgeschichte, die von den Leitmotiven der Wüstenwanderung und der göttlichen Lenkung strukturiert wird, gewährt ungewöhnliche Einblicke in das zerrissene Gefühls- und Seelenleben eines Geistlichen auf dem Weg zum Glaubenswechsel. Der (kommerzielle) Erfolg seiner Konversionserzählung weist auch darauf hin, dass hier ein Konvertit sehr nah am Puls einer Zeit zu schreiben verstand, in der Empfindsamkeit, Schwärmerei und eine psychologisch sensible Selbstdarstellung hoch geschätzt wurden, wie sie ihren wirkungsvollsten Ausdruck in den „Confessions“ des (Konvertiten) Jean-Jacques Rousseau fanden. Diese Verbindungslinie wird von Gesine Carl nicht gezogen, doch thematisiert sie ähnlich gelagerte Einflüsse pietistischen Schreibens auf Duitschs Autobiographie.

Allgemein mag der Leser eine stärkere Historisierung der Befunde vermissen. Welche inhaltlichen, argumentativen und narrativen Elemente, die Carl gewissenhaft herausarbeitet, wurden nur zu der jeweiligen Entstehungszeit der Konversionserzählungen angewandt, bei welchen handelt es sich um längerfristig gebräuchliche Bestandteile und warum? Um hier eine Orientierung zu erlangen, hätten vorhandene historische Vergleichsstudien herangezogen werden können. 3 Auch in der Auseinandersetzung mit den modernen Konversionstheorien – bei der Carl zu der nicht ganz überraschenden Schlussfolgerung kommt, dass sich einige Aspekte auf ihr Quellenkorpus anwenden lassen, einige gar nicht und andere wiederum teilweise – wäre eine stärkere historische Kontextualisierung wünschenswert gewesen. Vielleicht ist demnächst die Zeit reif, sich an einer die spezifischen Rahmenbedingungen berücksichtigenden ‚vormodernen Konversionstheorie‘ zu versuchen?

Weiterhin lässt sich fragen, inwiefern Carls Ergebnisse spezifisch für Übertritte vom Judentum zum Christentum gelten. Forschungen zu innerchristlichen Konversionen zeigen auf, dass viele Elemente, die Carl als charakteristisch für die Lebenssituation eines Konvertiten in seiner Stellung „zwischen zwei Welten“ identifizieren kann, auch für Konfessionswechsler jener Zeit galten: die Darstellung der Konversionsmotive und des Konversionsprozesses, das von vielen Seiten entgegen gebrachte Misstrauen, die Erfahrung von Fremdheit und sozialer Isolation, die Abhängigkeit von Gönnern und finanzieller Unterstützung, die Integrationsschwierigkeiten u.a. 4 Ist es im übrigen ein Zufall, dass von Carls 42 untersuchten Konversionsfällen 35 zum Luthertum, drei zum Reformiertentum und nur einer zum Katholizismus stattfanden (bei drei unklaren Fällen)? Lassen sich hier Zusammenhänge zwischen der angenommenen Konfession, der Zahl tatsächlich erfolgter Glaubensübertritte und einer schriftlichen Auseinandersetzung mit diesem Schritt konstatieren? Welche Einflüsse überwogen bei der Abfassung eines Konversionsberichts hinsichtlich Motivation, Adressaten und Narration: die des ursprünglichen Glaubens des Konvertiten oder dessen, zu dem er übertrat?

Die Autorin bedient sich durchgängig einer literarisch ambitionierten Sprache, von der man finden mag, dass sie sich gelegentlich zu sehr der metaphernreichen Sprache des untersuchten Quellenkorpus annähert. Auch geraten ihre Ausführungen zuweilen etwas weitschweifig, so dass eine kürzende Straffung dem Buch nicht geschadet hätte. Schließlich sei eine formale Anmerkung gestattet: Vermutlich wegen Platzmangels sind die vielen längeren und langen Quellenausschnitte in sehr kleiner Schriftgröße abgedruckt, wodurch die ermüdenden Augen zum Überspringen verführt werden – was schade ist, verbirgt sich doch gerade hier ‚im Kleingedruckten‘ so mancher Schatz.

Gesine Carl liefert mit ihrer profunden Arbeit wichtige Erkenntnisse und Impulse nicht nur für die Konversions- und Selbstzeugnisforschung, sondern auch für die Geschichte der Emotionen im Zeitalter der Aufklärung. Mit ihrer Fülle an detaillierten Ergebnissen regt sie weiterführende Fragen an, die die historische Konversionsforschung aufgreifen kann.

Anmerkungen:

1 Vgl. nur: Lotz-Heumann, Ute; Mißfelder, Jan-Friedrich; Pohlig, Matthias (Hrsg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2007; Siebenhüner, Kim, Glaubenswechsel in der Frühen Neuzeit. Chancen und Tendenzen einer historischen Konversionsforschung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 34 (2007), S. 243-272.
2 Graf, Johannes (Hrsg.), Judaeus conversus. Christlich-jüdische Konvertitenautobiographien des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1997; Carlebach, Elisha, Divided Souls. Jewish Converts from Judaism in Germany, 1500-1750; New Haven 2001; Braden, Jutta; Ries, Rotraud (Hrsg.), Juden – Christen – Juden-Christen. Konversionen in der Frühen Neuzeit, in: Aschkenas 15 (2005), S. 257-433.
3 Vgl. z.B.: Fredriksen, Paula, Paul and Augustine: Conversion Narratives, Orthodox Traditions, and the Retrospective Self, in: Journal of Theological Studies 37 (1986), S. 3-34; Riley, Patrick, Character and conversion in autobiography: Augustine, Montaigne, Descartes, Rousseau and Sartre, Charlottesville 2004; Hindmarsh, Bruce D., The evangelical conversion narrative: Spiritual autobiography in early modern England, Oxford 2005.
4 Vgl. hierzu: Bock, Heike, Konversionen in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. Ein Vergleich von Zürich und Luzern, Diss. Univ. Luzern 2007; dies., Konversion: Motive, Argumente und Normen. Zur Selbstdarstellung von Proselyten in Zürcher Bittschriften des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Kaufmann, Thomas; Schubert, Anselm; von Greyerz; Kaspar (Hrsg.), Frühneuzeitliche Konfessionskulturen, Gütersloh 2008, S. 153-174 .

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