Cover
Titel
Nüchternes Kalkül - Verzehrende Leidenschaft. Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert


Autor(en)
Pulz, Waltraud
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
X, 245 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marion Kobelt-Groch, Universität Hamburg

Längst scheint es nicht mehr ausschließlich Frauen zu erwischen: „Sport-Magersucht ergreift Männer in den besten Jahren“. Was die Lübecker-Nachrichten vom 17./18. Februar 2008 über eine Entwicklung zu berichten wissen, die zunächst Leistungssportlerinnen ergriffen habe und sich nunmehr auf den Breitensport und das männliche Geschlecht ausweite, zeigt, dass geschlechterorientierte Untersuchungen zum Thema Essstörungen und Magersucht ein durchaus ernstzunehmendes Thema sind. Dies gilt nicht nur für die aktuelle Debatte, sondern auch für die bislang wenig erforschte Geschichte dieses facettenreichen Phänomens. Die renommierte Volkskundlerin Waltraud Pulz vermeidet bewusst eine retrospektive Diagnose. Dennoch bietet ihr neues Buch, eine Untersuchung über nahrungsabstinente Frauen im 16. Jahrhundert, wichtige Erkenntnisse und Forschungsimpulse zum Thema Nahrungsenthaltung zwischen Kontinuität und Wandel.

Den Anstoß, sich dieses Themas anzunehmen, gaben ein in den 1970er-Jahren absolviertes Praktikum in einem Triester Krankenhaus und die Begegnung mit einer an Anorexia nervosa leidenden jungen Frau. Von da aus ist es ein zeitlich weiter, aber keineswegs abrupter Schritt zu jenen untersuchten sieben Frauen des 16. Jahrhunderts, die als individuelle Fälle im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. In insgesamt fünf Kapiteln einschließlich Einleitung versucht die Autorin, diesen Einzelschicksalen gerecht zu werden, wobei es nicht darum geht, ein homogenes Bild samt glättender Theorie zu entwerfen. Waltraud Pulz ist vielmehr daran gelegen, die einzelnen Fälle von Nahrungsabstinenz aus einem Spannungsverhältnis bzw. einer Oppositionsbeziehung heraus vorzustellen und zu interpretieren, die sich schon im Titel andeutet und auf drei Ebenen entfaltet. Zunächst einmal geht es um die religiösen Bezüge, die „als körperliches Zeichen von Heiligkeit gedeutete Nahrungslosigkeit“ (S. 11), gefolgt von jener durch „Berechnung und Passion“ charakterisierten Ebene, die über die Nahrungsabstinenten hinaus auch die soziale Umgebung einbezieht und in „passionierte VerehrerInnen und nüchterne SkeptikerInnen“ (S. 12) spaltete. Auf der dritten Ebene rücken eng miteinander verknüpfte Fragen zur Konstruktion der Geschlechterdifferenz und Funktion der Körpersprache ins Blickfeld: „Warum sind es hauptsächlich Frauen, die – mitunter bis zur Selbstzerstörung – Nahrungsenthaltung üben und/ oder fingieren?“ (S. 12)

Auch wenn es vorrangig um Einzelschicksale geht, verliert die Autorin Übereinstimmungen und Entwicklungen nie aus dem Auge. So sei beispielsweise fast allen Fällen von Nahrungsabstinenz eine schwere Krankheit vorausgegangen (S. 86), und alle in extremer Nahrungsenthaltung sich übenden Frauen des 16. und 17. Jahrhunderts stammten aus eher „einfachen sozialen Verhältnissen“ (S. 162). Dies ändert nichts daran, dass die im seitenstarken II. Kapitel ertönende „Partitur frühneuzeitlicher Nahrungsabstinenz“ (S. 14-136) stimmlich äußerst heterogen ausfällt. Der erste Fall führt nach Augsburg, in die Heimatstadt Anna Laminits (um 1480-1518), die als Kupplerin und lebende Heilige von sich reden machte. Sie gab vor, allein von der Eucharistie zu leben. Der Schwindel flog auf. Anna Laminit gehörte zu jenen vier unter den insgesamt sieben Frauen, die des Betrugs überführt wurden. Allerdings kam sie vergleichsweise glimpflich davon. Auf Anna Ulmer (1527-1564), die mit ihrer Mutter gemeinsame Sache gemacht hatte und ebenfalls entlarvt wurde, warteten Pranger und Turm. Zudem wurde ihr in beide Wangen das Stadtzeichen eingebrannt. Gestorben ist sie vermutlich an den Folgen einer Geburt. Überführt wurden auch Barbara Kremers (um 1563-?) und die als vergeistigt geltende Eva Fliegen (um 1575-1635), die sich angeblich jahrelang von rein spiritueller Nahrung einschließlich Düften ernährt hatte und so in den Geruch der Heiligkeit gekommen war. Zu Unrecht, wie sich letztlich herausstellte. Die Sache stank zum Himmel, bei einer Wohnungsdurchsuchung fand man nicht nur Lebensmittel, sondern auch einen Topf mit Exkrementen. Anders lagen die Dinge im Falle des „Wundermädchens“ Margareta Weiss (1529-?), das gleich den meisten Protagonistinnen dieses Buches über eine anfängliche Krankheit zur Nahrungsabstinenz geraten war. Seit Weihnachten 1539 soll sie nichts mehr gegessen, im darauf folgenden Jahr auch nichts mehr getrunken haben (S. 38). Weder Exorzismus noch peinlich genaue Überwachung führten letztlich zur Klärung dieses speziellen Falles, der mit einem offenen Schluss endet. Wann und woran Margareta Weiss starb, ist unbekannt. Auch Catharina Binder (um 1557-?) gelangte über den Prozess reduzierter Nahrungsaufnahme zur Abstinenz und in den Ruf der Heiligkeit. Jesuiten, Nonnen und Laien hätten sie besucht und Weissagungen erbeten. Sie selbst habe nach Einschätzung der Autorin dem Luthertum nahegestanden und sei auch von Lutheranern als lebende Heilige verehrt worden (S. 93). Gleich anderen Frauen, die durch Nahrungsabstinenz in den Status von Heiligen gerieten, wurde Catharina Binder eine Aufmerksamkeit zuteil, die ihr als unverheirateter Tochter eines Leibeigenen niemals zugekommen wäre. Aufschlussreich ist im Zusammenhang mit diesem Fall, dass Lutheraner und Reformierte über Jahre hinweg versuchten, Catharina Binder vor dem Hintergrund religiöser Spannungen für sich zu vereinnahmen (S. 101). Beschlossen wird der Reigen nahrungsabstinenter Frauen durch Apollonia Schreier (um 1584-?), die einem Untersuchungsbericht zufolge an einem ‚ödematösen Tumor‘ litt, der ihren Bauch auf wunderbare Weise hatte anschwellen lassen. Betrügerische Machenschaften im Einvernehmen mit der Mutter ließen sich letztlich nicht nachweisen. Krankheit oder Wunder? Wie alle anderen Fälle gab auch Apollonia Schreiers Nahrungsabstinenz genügend Anlass zu Spekulationen und Verdächtigungen, die allesamt vorgestellt und hinsichtlich ihres jeweils standortgebundenen Charakters eingehend hinterfragt und in ihrer Vielschichtigkeit analysiert werden.

Warum handelt dieses Buch allein von nahrungsabstinenten Frauen? Im III. Kapitel geht es um geschlechtsspezifische bzw. auf Geschlechterkonstruktion abhebende Fragen und historische Entwicklungen im Kontext des sich äußerst heterogen präsentierenden Phänomens der Nahrungsverweigerung, die einer wachsenden Anzahl von Berichten zufolge seit dem 17. und verstärkt im 18. Jahrhundert auch Männer erfasste (S. 144). Während sie sich gemeinhin über einen verstärkten Nahrungsbedarf in ihrer Geschlechtsidentität bestätigten und soziale Anerkennung fanden, verschafften sich einzelne Frauen durch Nahrungsabstinenz Zuwendung und Aufmerksamkeit. Um die „heilige Anorexie“ oder besser um die schillernde Verbindung von Heiligkeit, Simulation und ‚Weiblichkeit‘ geht es noch einmal speziell im IV. Kapitel. Waltraud Pulz weist unter anderem darauf hin, dass eine „Karriere“ als Heilige für Frauen in den Unter- und Mittelschichten die Chance eröffnete, zu materiellem Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung zu gelangen, und zeigt darüber hinaus, wie eng in einzelnen Fällen die „Welt des Heiligen und des Dämonischen“ miteinander verwoben waren. Welchem Bereich die einzelnen Frauen zugeordnet wurden, darüber entschieden ausnahmslos Männer: Ärzte, Theologen und Juristen (S. 165).

Das abschließende V. Kapitel enthält nicht nur Abbildungen zeitgenössischer Porträts und Berichte über die in der Untersuchung behandelten nahrungsabstinenten Frauen, sondern steckt jenen zeitlich bis in die Gegenwart reichenden Rahmen ab, der weitere genderorientierte und körpergeschichtlich ausgerichtete Forschungen notwendig erscheinen lässt: “Warum sich auch heute hauptsächlich Frauen extremen Formen von Nahrungsenthaltung unterziehen, bleibt angesichts des Forschungsstands als lang anhaltende formale Kontinuität erklärungsbedürftig.“ (S. 191)

Die dicht gearbeitete, äußerst innovative Untersuchung stellt eine Herausforderung für den Leser dar, der sich immer wieder im Dschungel fremdsprachiger Quellenbelege orientieren und bewähren muss, will er den argumentativen Faden nicht verlieren. Sicher wäre es sinnvoll gewesen, entscheidende Passagen zu übersetzen. Dies gilt auch für die Literaturangaben. Doch es lohnt sich unbedingt, die Herausforderung anzunehmen.

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