Cover
Titel
Children's World. Growing Up in Russia, 1890-1991


Autor(en)
Kelly, Catriona
Erschienen
Anzahl Seiten
736 S.
Preis
$ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Kucher, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Die renommierte Kulturhistorikerin und Literaturwissenschaftlerin Catriona Kelly hat ein neues Buch geschrieben, eine Monographie über die Geschichte der Kindheit in Russland im 20. Jahrhundert. Im Gegensatz zur Historiographie zu Westeuropa, für deren Historiker seit Philippe Ariès Studie „L’Enfant et la Vie Familiale sous L’Ancien Regime“ von 1960 das Phänomen Kindheit auf der Tagesordnung steht, ist die Kindheit für Russland und die Sowjetunion ein bislang nur punktuell sondiertes Terrain.1 Themen- und epochenübergreifende Studien zur Kindheit fehlen weitgehend oder beschränken sich auf Phasen der sowjetischen Kindheit. Kellys Buch ist somit eine Pionierleistung, die es unbedingt anzuerkennen gilt.

Es ist ein umfangreiches, sich über siebenhundert Seiten erstreckendes, fakten- sowie abbildungsgesättigtes Werk. Das Inhaltsverzeichnis suggeriert eine in übersichtliche drei Teile gegliederte Monographie: „Die Idee der Kindheit“, „Sich selbst überlassene Kinder“, „Kinder in der Familie“. Jeder dieser Teile ist wiederum chronologisch in vier Kapitel unterteilt, die entweder identische Zeiträume abdecken (1890-1917, 1917-1935, 1935-1953, 1953-1991) oder die aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen im Leben eines Kindes zur Strukturierung heranziehen. Ziel des Buches ist, so Catriona Kelly, eine „Geschichte des alltäglichen Lebens, wie es von Kindern in Russland im Verlauf des 20. Jahrhunderts erfahren wurde“ (S. 13). Die Autorin, der die Thematik der „Modernisierung der Kindheit“ (S. 14) ein fundamentales Anliegen ist, richtet ihren Hauptfokus auf russische sowie jüdische und tatarische Kinder, die im europäischen Russland lebten, und bespricht die Altersphase von der Geburt bis circa 14 Jahre. Mit einer theoretischen Verortung des Phänomens Kindheit, wie sie den meisten einschlägigen historischen Darstellungen vorangeht, hält sich Catriona Kelly nicht auf; sie verweist lediglich auf die unzureichende Aussagekraft einzelner Ansätze.

Im ersten Teil der Monographie werden die sich wandelnden Vorstellungen von Kindheit im Zarenreich und der Sowjetunion nachgezeichnet. Belegt wird das während der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts deutlich anwachsende Interesse an Kindern, das sich im Bereich der Pädagogik und Psychologie, dem wachsenden Schutz der Kinder durch die Gesetzgebung, der sich wandelnden Darstellung von Kindern in der Malerei, den Entwicklungen in der Kinderliteratur oder einer Kommerzialisierung der kindlichen Sphäre niederschlug. Die Machtübernahme durch die Bolschewiki 1917 führte zur Verbesserung der rechtlichen Stellung von Kindern, galten die jungen Sowjetbürger doch als „Garanten der lichten Zukunft“, deren korrekte Behandlung und Förderung als Indikator des „kulturellen Wachstums“ fungierte (S. 70).

Autoritäre Gesellschaftsstrukturen, die Erziehung zu politischem Bewusstsein, Wachsamkeit und Denunziation oder die Absenkung des Alters der Strafmündigkeit 1935 auf 12 Jahre spiegeln die politische Generallinie der Stalinzeit wider. Zu der gehörte aber auch die Belohnung mit Konsumgütern, Festen und spezielle Freizeitangeboten. Letzteres war Grund genug, dem zum Vater stilisierten Genossen Stalin für die vielzitierte „glückliche Kindheit“ zu danken (S. 93ff). Im Zuge der Entstalinisierung verschwanden die Stalinbilder aus den Kindergärten und wurden nicht selten durch das Konterfei von „Großväterchen Lenin“ ersetzt (S. 131). Am Ende der Sowjetunion war die Kindheit im Verständnis vieler keine glückliche Lebensphase mehr, sondern ein „wenig wünschenswertes Stadium von Abhängigkeit und Formbarkeit“ (S. 152). Manche Intellektuelle verglichen die Sowjetunion mit einem Kindergarten, in dem sich eine „infantilisierte Gesellschaft“ tummelte (S. 154).

Im zweiten Teil des Buches beschreibt Kelly Kinder, die ohne familiären Rückhalt dem Leben ausgesetzt waren. Sie schildert die dramatische Situation von Waisen und „Verwahrlosten“ (besprisornye), die im alten Russland von der Dorfgemeinschaft durchgeschleppt wurden, die bei Pflegefamilien oder in Waisenhäusern untergebracht waren oder auf den Straßen der Städte lebten. Das staatliche Wohlfahrtssystem war unzulänglich, die Kapazitäten privater Initiativen begrenzt, die medizinische Versorgung insgesamt mangelhaft und die Kindersterblichkeit im Vergleich zu anderen europäischen Ländern hoch. Nach 1917 wurde die institutionalisierte Fürsorge idealisiert und ideologisiert, man glaubte, jedes Kind könnte im Kollektiv „den Weg ins Leben“ (S. 200) schaffen.

Die Waisen des zweiten Weltkriegs galten im Unterschied zu Straßenkindern und Kriminellen als bemitleidenswerte Opfer, denen auch in Heimen eine positivere Haltung entgegengebracht wurde, so dass sich diese Kinder häufig anhaltend dem Staat gegenüber zu Dankbarkeit verpflichtet fühlten. Mit wachsendem Wohlstand seit den 1960er-Jahren waren es insbesondere „marginale“ (S. 267), kranke, behinderte oder von ihren Eltern vernachlässigte Kinder, die sich in staatlicher Obhut befanden. Der Zerfall der Sowjetunion verschärfte auch die materielle Situation der staatlichen Kinderfürsorge und die „Erosion des frühsowjetischen Kollektiv-Ideals“ (S. 271) sorgte für eine negative Bewertung der institutionellen Fürsorge.

Im letzten und umfangreichsten Teil der Monographie stehen die Kinder im Mittelpunkt, die innerhalb ihrer Familie aufwuchsen. Beschrieben werden Geburtsriten, das Ammenwesen, die Entwicklung der Pädiatrie, der Kampf der modernen Medizin mit traditionellen Bräuchen im alten Russland, die anhaltende Kraft des Aberglaubens, der mangelnde Mutterschutz oder die Namensgebung der Neugeborenen, die nach 1917 eine ideologische Umwertung erfuhr: Neugeborene hießen nun „Wladimir“ (nach Lenin), „Kim“ (Abkürzung für die Jugendinternationale) oder „Metallina“ (S. 332).

In der frühen Sowjetzeit gewann die (Klein-)Familie als Zufluchtsort vor der oft „militärischen und autoritären“ (S. 381) Atmosphäre am Arbeitsplatz an Bedeutung und das Verhältnis von Eltern und Kindern dadurch an Nähe. Den Kindergärten kam eine doppelte Bedeutung zu: Einerseits sollten sie Frauen die Berufstätigkeit ermöglichen und andererseits als „Wiegen des Neuen Alltags“ (S. 397) fungieren. Qualitative sowjetische Spielsachen blieben über Jahrzehnte Mangelware und Spielplätze gab es nur wenige, weshalb für Stadtkinder die Innenhöfe zum zentralen Bezugsort wurden. Im Laufe der Jahrzehnte nahm das spezifische Kulturangebot für die sowjetischen Kinder in Form von Kinofilmen, Radioprogrammen, Theateraufführungen sowie Fernsehsendungen bemerkenswert zu. Im letzten Kapitel beschreibt Kelly die „Jahre in der Schule“ (S. 495) und thematisiert in diesem Zusammenhang auch die verschiedenen Jugendgruppen von den vorrevolutionären Pfadfindern bis zu den Jungen Pionieren.

Am Ende fragt Kelly, in Anlehnung an Neil Postman, nach dem „Ende der Kindheit“ und stellt zunächst einmal fest, dass „die Geschichte der Kindheitserfahrung in Russland während des zwanzigsten Jahrhunderts ein Narrativ unbegrenzter Möglichkeiten ist, die je nach Generation, sozialem Status, Geschlecht und Alter differieren“ (S. 570). Das Ende der Sowjetunion bedeutete einen radikalen Einschnitt: Für die Wohlhabenden verbesserte sich das Schul- und Freizeitangebot, für die sozial Schwachen wurden finanziell bislang erschwingliche Aktivitäten unbezahlbar. Desweiteren schrumpfte der Raum für eine freie und unregulierte Kindheit: In Moskau ist es heute unvorstellbar, dass Kinder sich ohne Begleitung Erwachsener auf der Straße oder in den Höfen aufhalten.2

Catriona Kellys Buch ist eine Summe von Geschichten und Bildern zum Thema Kindheit in Russland, teilweise sehr anschaulich durch Interviews belegt. Anzumerken bleibt, dass die Zeit zwischen 1890 und 1953 über weite Strecken die ausführlichste Beachtung erfährt. Die vielen Abschnitte, in die das Buch unterhalb der Kapitelebene unterteilt ist, wirken mitunter wie Mosaiksteine, die sich jedoch nicht immer zu einem Bild zusammenfügen. Dem Schlusskapitel fehlt weitgehend eine Zusammenfassung der Ergebnisse, eine Bündelung der vielen Erzählstränge. Kelly beschränkt sich auf wenige, knappe Bemerkungen zur Spezifik der sowjetischen Kindheit, die sich allerdings nur bedingt ausmachen lässt, da sich viele der beschriebenen Entwicklungen sowohl bereits im imperialen Russland andeuteten als auch in anderen nationalen Kontexten zu finden sind. Trotz der Kritik bleibt Kellys Monographie ein Meilenstein, da es ihr gelungen ist, ein zentrales Thema zu positionieren und sie durch ihr beeindruckend breit angelegtes Buch zur Arbeit an weiteren Forschungsthemen einlädt.

Anmerkungen:
1 Vgl. exemplarisch: Clementine Creuziger, Childhood in Russia. Representation and Reality, Lanham 1996; Lisa A. Kirschenbaum, Small Comrades. Revolutionizing Childhood in Soviet Russia, 1917 - 1932, New York 2001; Alla Sal'nikova, Rossijskoe detstvo v XX veke. istorija, teoriija i praktika issledovanija, Kazan' 2007, Andrew Baruch Wachtel, The Battle for Childhood. Creation of a Russian Myth, Stanford 1990.
2 Vgl. dazu: Corinna Kuhr-Korolev, Aufwachsen in Moskau. Impressionen aus distanzierter Nähe, in: kultura, 5 (2008), S. 3-8.

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