A. Hilger: Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion

Titel
Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion 1941-1956. Kriegsgefangenenpolitik, Lageralltag und Erinnerung


Autor(en)
Hilger, Andreas
Erschienen
Anzahl Seiten
486 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joerg Morre, Gedenkstätte Bautzen

Das Buch erhebt den Anspruch einer umfassenden Darstellung von sowjetischer Kriegsgefangenenpolitik und deutschem Erleben der Kriegsgefangenschaft. Es wird die Geschichte der "Hauptabteilung für die Kriegsgefangenen- und Interniertenlager" (GUPVI) von den völkerrechtlichen Grundlagen angefangen (Kap. 1) über die vielseitigen Verwaltungsaufgaben (Kap. 3) bis hin zu der komplexen Zielsetzung der operativen Organe (Kap. 7) erzählt. Und es werden die typischen Stationen der Gefangenschaft in den Blick genommen: die Gefangennahme (Kap. 2), die Lebensbedingungen in den Lagern (Kap. 4), der Arbeitseinsatz (Kap. 5), die politische Schulung (Kap. 6) und die Lageratmosphäre (Kap. 8). Am Ende gibt es ein Kapitel über die sowjetische Repatriierungspolitik (Kap. 9) sowie ein weiteres über das Schicksal der Spätheimkehrer, das Hilger mit "Lager für verurteilte Kriegsgefangene 1950-1956" (Kap. 10) überschreibt. An dieser gewundenen Kapitelüberschrift zeigt sich das Bemühen des Autors, präjudizierende, aber eben doch allgemein gebräuchliche Ausdrücke zu vermeiden. Wissenschaftlich korrekt formuliert Hilger eingangs sein Anliegen: "Die vorliegende Arbeit untersucht einen zahlenmäßig erheblichen, sozial und altersmäßig inhomogen zusammengesetzten Personenkreis, dessen Vertreter den Krieg gegen die Sowjetunion führten und trotz ihrer spezifischen Perspektive einen unvergleichlich tiefen Einblick in das Leben in der UdSSR der Kriegs- und Nachkriegszeit erhielten: die deutschen Kriegsgefangenen." (S. 17)

Im Untertitel des Buches wird der Bogen weit gespannt von der sowjetischen Kriegsgefangenenpolitik hin zum individuellen Erleben. So gibt es im laufenden Text immer wieder eine Art Wiederholung, nämlich erst die Beschreibung der sowjetischen Politik und dann die Darstellung des Erlebten durch die Gefangenen. "Lageralltag und Erinnerung" schränkt Hilger dabei auf die Mikroebene des Stalingrader Gebietes ein. Das ist plausibel, weil damit die Funktionsweise einer allgemein beschriebenen Verwaltung faßbar wird. Das eindrucksvolle Literaturverzeichnis belegt zudem, daß von den publizierten Erinnerungen die meisten von ehemaligen Stalingrad-Kämpfern stammen und - das ist dann schon beachtenswert - rund ein Drittel aller von Hilger verwendeten Memoiren nach 1990 erschienen. Das Thema ist also mitnichten tot.

Dem Buch ist ein Anhang beigefügt, in dem Tabellen und Statistiken zu den Kriegsgefangenenzahlen, der Sterblichkeit, dem Arbeitseinsatz und der Repatriierung zu finden sind. Hier machen sich Hilgers intensive Studien in russischen Archiven bemerkbar. Dieses Verdienst wird auch nicht dadurch geschmälert, daß jüngst in Rußland ein umfassendes Kompendium von Dokumenten des GUPVI erschien 1. Hilger hat den Anhang sehr gut aufbereitet, und außerdem wird die russischsprachige Edition doch nicht allen Interessierten in Deutschland zugänglich sein.

Das Thema Kriegsgefangenschaft ist nicht neu. Der Kundige erinnert sich, daß bereits in den fünfziger Jahren in der BRD eine Wissenschaftliche Kommission unter Leitung von Erich Maschke eine voluminöse Untersuchung der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges vorgelegt hat. Hilger hält dem entgegen, daß 40 Jahre später "nicht nur Details, sondern auch Dimensionen" korrigiert werden müßten (S. 21). Damit sind vor allem verläßliche Zahlenangaben gemeint, die Hilger in zahlreichen Tabellen im Text wie auch im Anhang präsentiert. Mit der Gnade der postsowjetischen Forschergeneration verweist Hilger auf die noch unbearbeiteten Bestände russischer Archive, denn die Maschke-Kommission habe seinerzeit zwei Aufgaben nicht lösen können: die Ziele und Methoden sowjetischer Kriegsgefangenenpolitik sowie die Differenzierung zeitlich und gruppenspezifisch unterschiedlicher Erfahrungen (S. 24).

Ein weiterer Einwand könnte sein, daß bereits Stefan Karner auf der Basis russischer Archivmaterialien seine Monographie über das GUPVI vorgelegt hat 2. Aber Hilger legt seine Untersuchung insgesamt breiter an. Er nimmt sich mehr Zeit, einzelne Aspekte der sowjetischen Aktenüberlieferung zu hinterfragen und kommt damit zu profunderen Urteilen.

Zu den besonders starken Kapiteln des Buches zählt das über die völkerrechtlichen Grundlagen (Kap. 1). Hilger macht überzeugend klar, daß die Sowjetunion das Kriegsgefangenenwesen zwar "intern, ohne formale Bindung an völkerrechtliche Vorschriften" (S. 50) regelte, aber durch die eigene Gesetzgebung eine sehr große Nähe zu eben diesen Vorschriften herbeiführte. Hilger erklärt das mit dem sowjetischen Wunsch nach größtmöglicher Souveränität. Er bleibt damit aber nicht stehen, sondern geht auch den Ausnahmen von der Regel nach: die Wechselwirkung von Propagandahetze und Übergriffen auf Gefangenen, vor allem Gefangenenerschießungen, die (schlechte) Unterbringung und Ernährung, die Ausbeutung durch den Arbeitseinsatz, das Verwirrspiel um die tatsächliche Zahl deutscher Kriegsgefangener und schließlich die lang hinausgezögerte Repatriierung. Fazit: Die Sowjetunion hielt grundsätzlich an den völkerrechtlichen Normen fest, ordnete sie aber im Zweifelsfall ihren nationalen Interessen unter (S. 71).

Auf ebenso überzeugende Weise beleuchtet Hilger das Problem des Arbeitseinsatzes deutscher Kriegsgefangener (Kap. 5). Der Arbeitseinsatz als Form der Wiedergutmachung für die von der deutschen Besatzungsmacht verursachten Kriegsschäden hatte für die Verwaltung der Kriegsgefangenen oberste Priorität. Allerdings hatte die Sowjetunion eine Planwirtschaft, stritten die zahlreichen Industrieministerien um die zusätzlichen Arbeitskräfte und hatten die Lagerverwaltungen die logistischen Probleme von Bewachung, Unterbringung, Ernährung und Gesundheitszustand der Kriegsgefangenen zu bewältigen. Die daraus resultierenden Planungs- und Kompetenzstreitigkeiten gepaart mit Unzulänglichkeiten auf allen Ebenen ließ den erhofften Nutzen für die sowjetische Volkswirtschaft letztlich nicht eintreten. Und aus Sicht der Gefangenen ergab sich ein Teufelskreis aus Zusatzverpflegung für Bestarbeit, politische Schulung und Repatriieungsversprechen zur Steigerung der Arbeitsmotivation einerseits und Unentbehrlichkeit für die sowjetische Wirtschaft, d.h. möglichst späte Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft, andererseits. Solche Kapitel zeigen eindrücklich, wie Kriegsgefangenenpolitik und Lageralltag zusammenhingen.

Die schwächeren Kapitel des Buches sind die, in denen versucht wird, komplexe Phänomene auf griffige Wertungen zu reduzieren. Die politische Schulung (Kap. 6) umreißt Hilger mit "Überwachung, Schulung und Repression" (S. 221). In diesem Kapitel wird der Bogen überspannt, indem die Anfänge der Antifa 1941/42, das Nationalkomitee Freies Deutschland 1943-45, die Ausweitung antifaschistischer Schulungen ab 1946, die Rekrutierung von Volkspolizisten für die SBZ 1948 und der Kadereinsatz für die SED nach der Repatriierung unter ein Label gezwängt werden. Zäsuren, Opportunitätserwägungen sowie Einflüsse durch die sowjetische Außenpolitik zu Kriegs- und Nachkriegszeiten - ein großer Unterschied - gehen dabei verloren. Gemäß seines Ansatzes bezieht Hilger auch die Wahrnehmung der Antifa-Schüler mit ein, was ihn aber auch nicht weiter bringt: "Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Thesen und Zielen der antifaschistischen Arbeit hat es offensichtlich während der Gefangenschaft so gut wie nicht gegeben." (S. 254) In diesem Fall kann die Darstellung Hilgers nicht über die von Robel innerhalb der Maschke-Komission vorgelegte Arbeit hinausweisen 3.

Etwas mißverständlich bleibt das Kapitel, das die operativ-cekistischen Organe behandelt (Kap. 7). Nach einer knappen Beschreibung der "Organe" folgt eine für sich genommen sehr gut geschriebene Darstellung der sowjetischen Ermittlungsmethoden bei der Verfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen. Das ist wirklich lesenswert, trifft jedoch nur einen Bruchteil dessen, was die "Organe" gemacht haben. Der zweite Teil des Kapitels leitet dann über zu der Frage, "Die deutschen Kriegsgefangenen: Opfer oder Täter?" (S. 283 ff.), und entfernt sich damit doch sehr weit von der Kapitelüberschrift. Dem Leser wird ein bunter Strauß Themen geboten, die für sich genommen auch gut bearbeitet werden, aber was das nun mit der operativ-cekistischen Arbeit zu tun hat, bleibt ein wenig diffus. Fast schon entschuldigend resümiert Hilger am Ende des Kapitels: "Es war die politische Interpretation aller Vergehen und Verbrechen, die so unterschiedliche Aufgabenbereiche wie Fluchtprävention, Produktivitätssteigerung und Aufklärung von Kriegsverbrechen unter einem Dach zusammenhielt." (S. 255)

Die hier geäußerte Kritik sollte nicht zu schwer wiegen. Die Schwächen des Buches resultieren eher daraus, daß der hohe Anspruch einer alles umfassenden Monographie auch mit 40 Jahren Abstand und mit Zugang zu russischen Archiven nicht ganz einzulösen ist. Bei Arbeiten, die auf russischen Quellen basieren, ist zudem immer in Rechnung zu stellen, daß der Archivzugang nie für alle für das Thema notwendigen Bestände gegeben ist. Hilger läßt sich daher auch auf eine, wie er selber sagt "forschungspolitisch bedenkliche Tatsache" (S. 30) ein, nämlich unbelegte Veröffentlichungen aus russischen Archiven zu übernehmen 4. Die Not des Autors ist verständlich, hätte aber durch ein "weniger ist mehr" kompensiert werden können. Dennoch bleibt Hilgers Buch ein umfassendes Werk, das den gegenwärtigen Stand der Forschung über die deutschen Kriegsgefangenen exzellent zusammenfaßt und mit einer bislang noch nicht dagewesenen Fülle von Quellen russischer Provenienz zusammenbringt.

Anmerkungen:
1 Voennoplennye v SSSR 1939-1956. Dokumenty i materialy, hg. v. M.M. Zagorul'ko, Moskau 2000
2 Stefan Karner: Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956, Wien/München 1995
3 Gert Robel: Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Antifa (Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges 8), München 1974
4 Damit sind vor allem die in Deutschland erschienen Publikationen Leonid Reschins gemeint: General zwischen den Fronten. Walter von Seydlitz in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und haft 1943-1955, Berlin 1995; Feldmarschall im Kreuzverhör. Friedrich Paulus in sowjetischer Gefangenschaft 1943-1953, Berlin 1996

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