M. R. Christ: The Bad Citizen in Classical Athens

Cover
Titel
The Bad Citizen in Classical Athens.


Autor(en)
Christ, Matthew R.
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 250 S.
Preis
$ 85.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ernst Baltrusch, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Zum Thema des hier zu besprechenden hervorragenden Buches möchte ich eine kurze Vorbemerkung machen: Demokratische Verfassungen definieren ausführlich die Grundrechte ihrer Bürger. Im Grundgesetz zum Beispiel werden diese gleich nach der Präambel in den Artikeln 1–19 aufgelistet. Die Grundrechte sind allerdings mit den Pflichten, die jeder Staatsbürger zu erfüllen hat, verbunden, unter anderem mit der Aufsichtspflicht der Eltern über ihre Kinder (Artikel 6), Wehrpflicht (Artikel 12) oder der Sozialbindung des Eigentums (Artikel 14,2); in der Weimarer Verfassung stehen einige Bürgerpflichten unter dem Abschnitt „Gemeinschaftsleben“, nämlich in den Artikeln 132–134 (Pflicht zur Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeiten, Wehrpflicht, Steuerpflicht). Pflichtvergessenheit oder -verletzung ist strafbar und ehrenrührig, macht also den Bürger „schlecht“. So steht das meines Wissens zwar nicht in den Verfassungen, aber den Titel eines „bad citizen“ verdienen solche Bürger eines Gemeinwesens, die sich aus egoistischen Motiven drücken, nicht zahlen wollen, „wegsehen“, feige sind; Diebe, Mörder oder sonstige Verbrecher sind zwar auch „schlechte Bürger“, aber nicht nur schlechte Bürger, sondern auch gegen andere als nur gegen den Staat schlecht, und Oppositionelle sind nicht unbedingt schlechte Bürger.

Um „the bad citizen in classical Athens“ in einem so konkretisierten Sinne geht es also in dem vorliegenden Buch des „associate professor of classical studies at Indiana University“ Matthew R. Christ, der bereits vor zehn Jahren mit einem Buch zur athenischen Demokratie hervorgetreten ist und seitdem zahlreiche Aufsätze zur Wehr- und Steuerpflicht in Athen publiziert hat.1 Eine profunde Kenntnis insbesondere der Quellen zeichnet dementsprechend auch das neue Buch aus, und die benötigt man auch, um sich in die Stimmung der Zeit zu den Bürgerpflichten hineinversetzen zu können; es ist in der Tat beeindruckend, was der Autor insbesondere aus den zeitgenössischen Texten wie Tragödien oder Reden zu seinem Thema herausholen kann. Das Konzept des „schlechten Bürgers“ ist gewonnen aus der thukydideischen Leichenrede des Perikles, jenem Hymnus auf die Demokratie und den idealen athenischen Bürger. Freiwillig, nein geradezu brennend erfüllt dieser perikleische Bürger seine Pflichten dem Gemeinwesen gegenüber, und bietet damit den Gegenentwurf zur staatlich erzwungenen Pflichterfüllung der Spartaner. Ausgehend von diesem perikleischen Konzept einer Identität von Eigen- und Staatsinteresse als Kennzeichen der athenischen Demokratie nimmt Christ seine kategoriale Unterscheidung von „gut“ und „schlecht“ vor – oder anders: Wer sein Eigeninteresse vor das öffentliche Interesse stellte, war in Athen ein „schlechter Bürger“. Mit dieser Definition möchte Christ, das liegt auf der Hand, auch die heutige Integration des Einzelnen in einem demokratischen Staat konfrontieren.

Der Aufbau des Buches ist auf dieses Konzept zugeschnitten, seine vier Teile entwickeln die Gegenthese zu Perikles, die da lautet: Die Athener handelten bei ihrem Umgang mit dem Staat nicht weniger egoistisch als alle anderen, und im Grunde setzt sich in modernen Demokratien nur das fort, was in der Ur-Demokratie seinen Anfang nahm: das Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und der Verpflichtung zur Übernahme wichtiger Bürgeraufgaben. Das ist nun alles andere als überraschend, doch ist hier wie so oft der Weg das Ziel. Der erste thematische Block (S. 15–44) definiert den an seinen eigenen Interessen orientierten Bürger („self-interested citizen“) als Voraussetzung für den „schlechten Bürger“. Moderne Liberale sehen das vielleicht anders, aber Christ gelingt es auf diese Weise, die oppositionellen Oligarchen, an die man bei dem Begriff des schlechten Bürgers zuerst denken könnte, herauszuhalten und sich auf das Gegensatzpaar Gemeinschaft-Eigeninteresse zu konzentrieren. Für Athen im Besonderen ist dieser Ansatz durchaus überraschend, aber gewinnbringend.2 Denn genau diese Antinomie dominiert in den folgenden Kapiteln.

Zunächst geht es um die „Wehrdienstverweigerung“ (S. 45–87). Dieses – nicht unbedingt mit Athen assoziierte – Phänomen wird in zwei Schritten untersucht, nämlich zum einen als Problem der Athenischen Demokratie, zum anderen in seiner Verarbeitung in der athenischen Tragödie. Letzteres ist, wenn denn die Tragödie wirklich „politische Pädagogik“ leistet, durchaus sinnvoll, und das überaus häufige Motiv des unwilligen Rekruten weist auf die Prominenz des Problems in der Demokratie hin (S. 85); hier trägt Christ zum Verständnis der athenischen Ordnung erheblich bei, der (mehrfach zitierte) Satz des Aristoteles aus der Nikomachischen Ethik (1163a1): „Alle Menschen (oder die meisten) wünschen das Edle, aber wählen das Nützliche“ hat auch hier seine Gültigkeit. Kapitel III behandelt die mit der Wehrdienstverweigerung verwandte Feigheit vor dem Feind (S. 88–142). Das Quellenmaterial für diesen Komplex ist nahezu unerschöpflich, was die Ausführlichkeit erklärt. Zunächst untersucht Christ sensibel die verschiedenen Phasen einer Schlacht, in denen sich Möglichkeiten für Flucht, Feigheit, Drückebergerei etc. boten, oftmals aber eine realistische Beurteilung schwer, Verleumdung dagegen leicht war. Entsprechend unsicher, oftmals sogar lax war der Umgang mit dem Problem zu Hause in Athen. Gewiss standen besonders die Generäle unter der Kontrolle der Stadt (Arginusen-Prozess), aber es gab durchaus spezielle Prozessformen über Feigheit oder Desertion, die das perikleische Idealbild des jederzeit kampfbereiten Atheners modifizieren.

Das letzte, umfangreichste Kapitel handelt von der fragwürdigen Steuermoral der reichen Athener (S. 143–204). Hier kann Christ an umfangreiche eigene Forschungen zum athenischen Haushalt und zum Steuerwesen anknüpfen.3 Steuerpflichtig waren die Reichen über bekannte Institutionen wie Eisphora, Choregie, Trierarchie. Die Steuermoral war, folgt man Christ, aus reinem Egoismus heraus nicht sehr gut. Sehr wohl, findet Christ, seien die Athener homines oeconomici gewesen, und hätten sich bei jeder sich bietenden Möglichkeit gedrückt. Allerdings muss man gerade auf diesem Gebiet der Steuereinziehung die große Lückenhaftigkeit unserer Quellen beklagen, so dass sich letzten Endes kaum quantifizierbare Aussagen über die Steuermoral machen lassen. Dennoch sind bereits die von Christ vorgebrachten Quellenzitate in ihrer schieren Anzahl durchaus aussagekräftig, abgesehen davon dass das Kapitel auch die Entwicklung der Steuern und ihrer Einziehung von 508 (Kleisthenes) bis 321 v.Chr. ausführlich untersucht.

Vor allem kann Christ die Reformen bezüglich Eisphora und Trierarchie, in geringerem Maße auch der Choregie als Reaktionen auf Spannungen zwischen Steuerzahlern und Staat erklären. So können spezielle Einrichtungen wie die Antidosis neu gedeutet werden, nämlich nicht, wie bislang angenommen, als ein Institut, das die Steuergerechtigkeit unter den Reichen sichern helfen sollte, sondern vielmehr als ein demokratisches Mittel, um die Reichen überhaupt zur Leistung zu zwingen. Letzteres sei ein zentrales Ziel vieler demokratischer Reformen gewesen. Das gesamte Steuersystem sieht Christ auf dem Prinzip der Philotimia basieren, das heißt einer Art Kosten-Nutzen-Rechnung, bei der man für finanzielle (oder andere) Leistungen für den Staat „Ehre“ und „Dank“ zurückerhielt. Dieses System sei aber defizitär gewesen, da die Reichen eigene Kosten-Nutzen-Rechnungen anstellten; Ansehen und Dank der Gesellschaft sei oft nicht genug gewesen, um eine Leiturgie zu übernehmen. Deshalb versuchte man sie zu umgehen, etwa indem man seine wahren Vermögensverhältnisse verschwieg oder indem man Beziehungen spielen ließ oder andere Personen als geeigneter für die Aufgabe namhaft machte.

Die Umgehung von Bürgerpflichten im demokratischen Athen war – vielleicht unter dem Eindruck der Leichenrede des Perikles – ein Desiderat der Forschung. Sehr pragmatisch und quellennah hat sich Christ dieses Desiderates angenommen und dabei ein differenziertes Bild von der Opferbereitschaft der Bürger aller gesellschaftlichen Schichten für das Gemeinwesen gezeichnet. Dabei sind für die einzelnen diskutierten Bereiche, wie die Wehrdienstverweigerung oder die Steuerpflicht, neue Erkenntnisse erzielt worden. Die moderne Forschung ist, wie inzwischen im angelsächsischen Bereich üblich, aufgearbeitet und diskutiert worden, soweit sie englischsprachig ist; dass fremdsprachige Literatur nicht berücksichtigt wird, ist kein Einzelfall.4 Das mindert in diesem Falle angesichts der Eigenständigkeit und Quellenorientierung den Wert des Buches in keiner Weise – für die zukünftige Diskussion über den athenischen Bürger etwa im Vergleich zu Bürgern anderer griechischer Städte ist es unverzichtbar – kurz: ein hervorragendes Buch.

Anmerkungen:
1 Christ, Matthew R., The Litigious Athenian, Baltimore 1998.
2 Zu einem Bild größerer Selbstlosigkeit des Atheners zum Beispiel Herman, Gabriel, Morality and Behavior in Democratic Athens. A Social History, Cambridge 2006.
3 Vgl. ausführlich jetzt Christ, Matthew R., The Evolution of the Eisphora in Classical Athens, in: Classical Quarterly 57 (2007), S. 53–69.
4 So fehlt etwa das wichtige Buch von Spielvogel, Jörg, Wirtschaft und Geld bei Aristophanes. Untersuchungen zu den ökonomischen Bedingungen in Athen im Übergang vom 5. zum 4. Jh. v.Chr., Frankfurt am Main 2001.

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