F. Bücher: Verargumentierte Geschichte

Cover
Titel
Verargumentierte Geschichte. Exempla Romana im politischen Diskurs der späten römischen Republik


Autor(en)
Bücher, Frank
Reihe
Hermes-Einzelschriften 96
Erschienen
Stuttgart 2006: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
363 S., 1 CD-ROM
Preis
€ 76,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roxana Kath, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Die in der Reihe Hermes-Einzelschriften erschienene Untersuchung von Frank Bücher, eine leicht überarbeitete Fassung seiner 2004 an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln eingereichten Dissertation, widmet sich den exempla Romana im politischen Diskurs der späten römischen Republik. Sie gliedert sich in drei Teile: Der erste Teil beschreibt die institutionellen Rahmenbedingungen der Rede (contio und comitia), die rhetorische Praxis sowie den sozialen Hintergrund der Akteure. Bücher führt die Thematik mit einer fiktiven Beschreibung eines Redeauftritts auf den Rostra ein (S. 16f.). Für die einzelnen Elemente der Handlung ließen sich jeweils entsprechende Quellenbelege finden, jedoch gibt keine Quelle ein solch geschlossenes Bild, wie es Bücher entwickelt. Im Anschluss präsentiert Bücher die historische Analyse, die das Szenario untermauert.

Der zweite Teil stellt die Grundlagen des römischen Exempla-Fundus dar: die römische Erinnerungskultur. Bücher beschreibt hier auf etwa 50 Seiten die Medien der Erinnerung innerhalb der Familientradition einerseits und in der Öffentlichkeit andererseits. Der Leser wird an die Omnipräsenz der Vergangenheit in Rom sowie die Unentrinnbarkeit der großen Vorbilder erinnert, die den Römer in Form von Ehrenstatuen und Münzbildern, bei Leichenbegängnissen und Triumphzügen sowie letztlich auch im Theater (fabula praetexta) und im Epos permanent daran gemahnten, zumindest die Leistungen der Vorfahren zu erreichen. Der zweite Teil schließt mit einer Betrachtung Ciceros als Historiker und bereitet damit die anschließende Analyse der Exempla in den ciceronischen Reden vor.

Der dritte, mit etwa 150 Seiten umfangreichste Teil befasst sich im engeren Sinne mit den Exempla und der „Verargumentierung“ der römischen Geschichte in der späten Republik. Im Anschluss an Überlegungen zur Definition der Exempla (S. 152–154) präsentiert Bücher die zentrale These seiner Arbeit: Entgegen unserer vielleicht bestehenden Erwartung und den Bekundungen der entsprechenden (theoretischen) Cicero-Passagen (inv. 1,49; part. 96; or. 120) eines Primats alter Exempla zeigt die Analyse von Ciceros politischen Reden einen zahlenmäßigen Vorrang der jüngeren Exempla: „Die exempla stammen zu ca. 60 Prozent aus Ciceros eigener Zeit und der vorhergehenden Generation. Der davorliegende, gut viermal so lange Zeitraum bis 133 v. Chr. weist also eine viel geringere exempla-Dichte auf. Cicero kann anscheinend vornehmlich jüngere exempla anführen, ohne auf argumentativen Nutzen verzichten zu müssen, auch wenn er andererseits in seinen Ausführungen über die exempla die auctoritas der alten Beispiele unterstrichen hat.“ (S. 158) Im Anschluss an Überlegungen zu den maiores bei Cicero verallgemeinert Bücher diese Einschätzung weiter: „Der geschichtliche Blick Ciceros auf die Republik und ihre überkommene Ordnung (mos maiorum) geht schwerpunktmäßig nicht in die weitere Vergangenheit zurück [...], sondern konzentriert sich auf einen Zeitraum von etwa zwei bis drei Generationen (nostra et patrum memoria) vor Ciceros Lebenszeit.“ (S. 168f.) Die tagespolitische Relevanz der jüngeren Exempla findet ihre Parallele im römischen Wahlkampf, wo die aktuellen Leistungen und die Nobilitas der unmittelbaren Vorfahren mehr wert sind als die großen Namen aus der Vorzeit. Dies verdeutlicht Bücher insbesondere in seiner Analyse der Rede Ciceros für Plancius (S. 300–302). Als eine zentrale Quelle für Ciceros historische Kenntnisse nennt Bücher den liber annalis des Atticus, der zugleich ein chronologisches Gerüst geboten habe (S. 145, S. 198 und S. 227). Büchers Analyse der einzelnen Exempla folgt auch weitgehend einer chronologischen Ordnung von der Königszeit bis in die späte Republik. Darüber hinaus vergleicht er die unterschiedliche Verwendung von Exempla durch Cicero in Senats- und Volksreden (S. 257). Die Arbeit schließt mit einer Untersuchung zur Neuschöpfung von Exempla am Ende der späten Republik sowie einer Zusammenfassung der Ergebnisse.

Bücher gelingt es in seiner Darstellung, die enge, auch funktionale Verwandtschaft der Exempla mit anderen Erinnerungsmedien deutlich werden zu lassen, deren gemeinsamer Kern die Erinnerung der gentes ist. Dieser Bezug zur Familientradition prägt formal die Reihung der Exempla in Ketten – ähnlich der pompa funebris –, die Pluralnennung (z.B. Rulli, Decii, Corvini) sowie auch die konkrete Verwendung im politischen Alltag (S. 159 und S. 187ff.). Seinen Kontrahenten Clodius greift Cicero beispielsweise mit Verweis auf dessen Vorfahren Ap. Claudius Caecus an, dessen Vorbild er nicht gerecht werde (S. 183f.). In den Senatsreden habe Cicero dieses persönliche, emotionale Moment bewusst eingesetzt, um besser zu überzeugen, denn gerade hier hätten sich die Angehörigen der berühmten Familien befunden, die die Taten ihrer großen Vorfahren kannten und in lebendiger Erinnerung hielten (S. 234). Als eine wichtige Eigenschaft der Exempla hebt Bücher deren Ambivalenz und Mehrdeutigkeit hervor, durch die sie im politischen Alltagsgeschäft geradezu zu rhetorischen Waffen der verschiedenen Parteien wurden (S. 31 und S. 323). Bemerkenswert ist dabei, das die Exempla – obwohl sich die Kontrahenten in ihren Deutungskämpfen aus demselben Pool von Erinnerung bedienten – nicht zersetzend wirkten oder an Glaubwürdigkeit verloren. Durch den Bezug der Exempla auf die res publica als gemeinsamen Nenner konstituierten und bestärkten sie trotzdem die kollektive Identität der Römer.

Bücher bündelt in seiner Untersuchung verschiedene Forschungsperspektiven der letzten Jahre. Den Schwerpunkt bilden dabei sicherlich die Arbeiten zur römischen Erinnerungskultur aus dem unmittelbaren intellektuellen Umfeld des Autors.1 Ein weiterer Eckpfeiler sind die Arbeiten aus dem Dresdener Sonderforschungsbereiches 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ zum politischen System der Republik und dem mos maiorum.2 In der Rekonstruktion der Wirkungsweise der Exempla und der Redepraxis besteht zudem eine große Nähe zu den Arbeiten von Egon Flaig.3 Zu Beginn seiner Arbeit rekurriert Bücher methodisch auf die politische Kulturforschung, ohne jedoch die dort eingeführte Differenzierung zwischen ‚Politischer Struktur‘ und ‚politischer Kultur‘ aufzunehmen. So hätte er eine Vermischung von Elementen der Strukturebene (Institutionen) mit denen politischer Kultur (kognitive und emotionale Einstellungen der Bürger, Leitideen oder ähnliches) vermeiden können (z.B. S. 24).4 Des Weiteren führt Bücher zu Beginn die Debatte um den „politischen Charakter der römischen Republik“, die sich um die Thesen Fergus Millars rankt, als zentralen Fokus ein (S. 20). Leider wird diese Perspektive am Ende der Arbeit nicht wieder aufgegriffen bzw. werden die Ergebnisse der Arbeit nicht in Relation hierzu gesetzt. Das ist insofern schade, als dies die drei Teile besser verbunden hätte, die nunmehr recht lose nebeneinander stehen. Insgesamt wäre zudem eine weitere Straffung der beiden ersten Teile sinnvoll gewesen, da diese keine substantiell neuen Erkenntnisse liefern.

Die statistische Analyse, auf der auch die Hauptthesen des Buches beruhen, beschränkt sich leider auf Häufigkeitsauszählungen.5 Interessant wären aber auch Korrelationsanalysen gewesen, die die Überlegungen Büchers zu Wirkungsweise und Erfolg der Exempla statistisch hätten untermauern können. Welche Beispiele rufen welche Emotionen hervor? Welche sind in welchen Rede-Situationen bzw. vor welchem Publikum besonders effektiv? Derartige Untersuchungen sind mit einem hohen (nicht nur technischen) Aufwand verbunden und erfordern eine Reihe methodischer Vorannahmen und konkreter Fragen an das Material vor der Codierung. Für mögliche künftige Untersuchungen können die Ergebnisse von Büchers Untersuchung hier wichtige Anregungen geben. Insgesamt gibt Büchers Untersuchung dem Leser interessante Einblicke in zentrale Bereiche der politischen Kultur Roms und geht damit über die reine Analyse einzelner Exempla hinaus. Vielmehr stellt er sie in Relation zur römischen Erinnerungskultur und verdeutlicht deren Einsatz und Wirkung im politischen Alltag der späten Republik.

Anmerkungen:
1 Die Arbeit entstand im Rahmen des Kölner Graduierten Kollegs „Vormoderne Konzepte von Zeit und Vergangenheit“. Stellvertretend sollen hier die Arbeiten von Hans Beck (Karriere und Hierarchie, Berlin 2005), Karl-Joachim Hölkeskamp (Senatus Populusque Romanus, Die politische Kultur der Republik – Dimensionen und Deutungen, Stuttgart 2004) sowie Uwe Walter (Memoria und res publica – Studien zur Geschichtskultur im Republikanischen Rom, Köln 2002) hervorgehoben werden.
2 Vgl. u.a. Haltenhoff, Andreas; Heil, Andreas; Mutschler, Fritz-Heiner (Hrsg.), O tempora, o mores! Werte und römische Literatur in den letzten Jahrzehnten der Republik, Leipzig 2003; Linke, Bernhard; Stemmler, Michael (Hrsg.), Mos Maiorum, Untersuchungen zu den Formen der Identitätsstiftung und Stabilisierung in der römischen Republik, Stuttgart 2000.
3 Vgl. hierzu vor allem Flaig, Egon, Ritualisierte Politik, Zeichen, Gesten und Herrschaft im alten Rom, Göttingen 2003.
4 Vgl. hierzu u.a. Fuchs, Dieter, The Political Culture Paradigm, in: Dalton, Russel J.; Klingemann, Hans Dieter (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Behaviour, Oxford u.a. 2007, S. 161–184.
5 Dem Buch ist eine CD-ROM beigefügt, die die entsprechenden Tabellen zum Auftreten der Exempla in Ciceros Reden enthält.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch