Cover
Titel
Wege des Erinnerns. Was Straßennamen über das deutsche Geschichtsbewusstsein aussagen


Autor(en)
Pöppinghege, Rainer
Erschienen
Münster 2007: Agenda Verlag
Anzahl Seiten
141 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johanna Sänger, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Sammlung Industrielle Gestaltung

Straßennamen sind alltägliche Orientierungshilfen in der Stadt, denen niemand entgehen kann. Sie können aber auch ein erster Zugang zur Ortsgeschichte sein. So sind seit den 1980er-Jahren immer mehr Straßennamenlexika entstanden, Zeitungsartikel bringen Aufklärung über Lokalheroen und Flurnamenetymologie, Geschichtswerkstätten erforschen lokale Debatten, und Lehrer lassen ihre Schüler im Geschichtsunterricht den Umbenennungen von Straßen nachspüren. Dass es seit den 1990er-Jahren neben der lokalen auch eine zarte Konjunktur der vergleichenden Straßennamenforschung gibt, ist dem starken Interesse an Erinnerungsgeschichte zu verdanken. Hier sollte der Fokus nicht im Aufzählen der Verdienste von Straßennamenpatronen liegen, sondern im Vergleich von Namenstypen, den Anlässen und Hintergründen für Benennungen, dem Analysieren der Erinnerungszyklen. Die Erinnerungstheorie zählt öffentliche Namen ebenso wie Riten, Feste oder Denkmäler zu den Mnemotopen.1 Aus deutscher Perspektive versteht es sich, dass sich Straßennamenstudien seit 1990 vor allem den Wandlungen in Ostdeutschland gewidmet haben. Rainer Pöppinghege, der Autor des hier zu besprechenden Bandes, ist mit Recht verwundert (S. 12), dass Straßennamen keinen Platz in den „Deutschen Erinnerungsorten“ fanden.2 Diese Lücke versucht er mit „Wege des Erinnerns“ nun zu schließen.

Der schmale Band des Paderborner Historikers zielt darauf ab, deutsche Straßennamen „als Relikte der dominierenden Geschichtsbilder ihrer jeweiligen Entstehungszeit“ aufzuzeigen (Klappentext). Das Buch ist systematisch und chronologisch aufgebaut: Die Abschnitte 1-4 behandeln Methodik, Forschungsüberblick und Quellenbasis, die Geschichte der Straßenbenennung bis zur Französischen Revolution sowie Urbanisierungsprozesse und regionale Differenzen in Deutschland. Kapitel 5 skizziert die Geschichte des Benennungsrechts bis zur Gegenwart.

Die eigentliche Analyse setzt mit Kapitel 6 in der Gegenwart ein: Pöppinghege stellt „das Pantheon deutscher Straßennamen“, „die Top 50“ vor (S. 29ff.): Beginnend mit Schiller dominieren die Kulturheroen des 19. Jahrhunderts die ersten zehn Plätze, und auch insgesamt überwiegen Künstler, Wissenschaftler, Reformer. Friedrich Ebert erscheint als erster Politiker auf Platz 13. Bebel, Thälmann oder Marx stehen demnach quantitativ vor Konservativen wie Bismarck, Hindenburg oder Moltke. Die Ursache der bildungsbürgerlichen Prägung sieht Pöppinghege im hohen Wert der Bildung „als Instrument der nationalen Selbstfindung“ (S. 31) im 19. Jahrhundert, als viele Straßen angelegt wurden.

In den Abschnitten 7 bis 19 ordnet Pöppinghege die gefundenen Namenstypen ihren Entstehungszeiten im 19. und 20. Jahrhundert zu. So erklärt er anhand ihrer Straßennamen die „Borussifizierung Deutschlands“ (S. 33), beeinflusst vom königlichen Privileg der Benennung, dem Vorrang dynastischer Namen und den Kriegen der Reichseinigung. Die 1920er-Jahre waren gekennzeichnet vom Bau vieler Siedlungsgebiete, wofür Namen von Weltkriegshelden und Kolonialisten bis zu sozialdemokratischen Politikern vergeben wurden – insgesamt eine „Pluralisierung“ (S. 53). Ab 1933 gab es vielfach Straßenbenennungen nach NS-Funktionären und „Märtyrern der Bewegung“ (S. 63ff.). Die Nachkriegszeit war, je nach Besatzungsmacht, geprägt von Unentschiedenheit im Umgang mit dem preußischen Erbe (S. 80). Den gegenläufigen politischen Entwicklungen in Bundesrepublik und DDR sind die Kapitel 16-19 gewidmet, immer noch unterrepräsentierten Personengruppen (NS-Gegnern in den alten Bundesländern sowie generell Frauen) die Kapitel 20 und 21.

Schließlich gibt Pöppinghege Hinweise auf den Wert von Straßennamen für die historische Bildung. Straßennamen haben immer ehrenden Charakter, so dass jede Zeit Positives in den Namenspaten finden muss: „Ein Straßenname sagt viel mehr aus über die Epochen, die er unbeschadet überstanden hat“ (S. 117), als über die später kritisierten Eigenschaften der Personen. Pöppinghege empfiehlt, umstrittene Straßennamen immer der Einzelfallprüfung auf ihre demokratische Tragfähigkeit zu unterziehen. Zu befürchten bleibt jedoch, dass auch in Zukunft für Politiker ein Abstimmungssieg über den politischen Gegner bedeutsamer ist als ein ausgewogenes historisches Urteil.

Das Buch zeigt auf engem Raum vor allem die Spiegelungen von Politik in Straßennamen. Flott geschrieben, macht es Gedächtnispolitik im 19. und 20. Jahrhundert auch zwischen politischen Zäsuren lebendig und verständlich. Und erstmals liegt hier ein Überblickswerk vor für die Straßenbenennungen in Westdeutschland nach 1945. Zugleich weckt es Interesse für die komplexen Zusammenhänge zwischen Stadtentwicklung und Siedlungsbau und den Erinnerungskulturen der Bauzeit. Pöppinghege bemüht sich für die Zeit nach 1945 um eine synchrone Darstellung der unterschiedlichen Tendenzen in Ost- und Westdeutschland, die besonders dort spannend sind, wo sie sich anhand ähnlicher Namenstypen (Widerstandskämpfer, Kapitel 20f.) wirklich vergleichen lassen.

Das positive Bild wird jedoch getrübt durch einige Schwächen, die auf grundsätzliche Probleme der Straßennamenforschung hinweisen. Dem selbstgesetzten Anspruch, Typen von Straßennamen vergleichend für ganz Deutschland zu erläutern, kann Pöppinghege trotz der Recherche über Postleitzahlen-Datenbank und Google Earth nur bedingt gerecht werden. Deren Suchmöglichkeiten sind kein Ersatz für Straßennamenlexika oder die Karteien und Akten in Stadtarchiven, denn ohne das Wissen um Ursachen und Daten von Benennungen geraten nicht nur Einzelbewertungen, sondern auch globale Analysen schief. Das Buch ist nicht wie angekündigt eine Analyse der Straßennamen von 125 deutschen Städten, sondern eine Synthese vorhandener Regionalstudien, ergänzt durch weitere Einzelbeispiele. Die meisten Beispiele sind mangels fehlender Quellenangaben nicht nachprüfbar, und die gedrängten Analysen bleiben oberflächlich. Das macht das Buch sicher lesbarer, mitunter aber auch ärgerlich: „Dass die Franzosen zwischen 1806 und 1813 in weiten Teilen Deutschlands gewirkt haben, bezeugen 62 Franzosen- bzw. Französische Straßen und Gassen.“ (S. 32) Vor dem Hintergrund des Franzosenhasses des 19. Jahrhunderts sind andere Erklärungen plausibler. Zumindest in Berlin geht die Französische Straße auf den nahen Dom der Hugenotten-Gemeinde und damit auf einen älteren Kulturkontakt zurück.3

Die Behandlung der DDR leidet an der Unkenntnis Pöppingheges über deren Benennungspolitik, so dass leider kein gesamtdeutscher Vergleich zustande gekommen ist: „Umbenennungen“ von Stalinstraßen „folgten in fast allen DDR-Städten“ eben nicht 1953 „auf dem Fuße“ (S. 90), sondern heimlich erst 1961.4 Straßenbenennungen nach deutschen Dichtern und Denkern waren in der DDR zwar wohlgelitten, aber bereits vorhanden – etwa das Rostocker Komponistenviertel seit 1936 (S. 92).5 Gleiches gilt für Scharnhorst, Yorck und Gneisenau. Gar zu salopp werden auch die Themenviertel nach sozialistischen Vorbildern in Hoyerswerda klassifiziert: „Mit dieser komplexen Lösung sollte offenbar der Minderwertigkeitskomplex der Staatsführung überdeckt werden.“ (S. 25) Die als „Pluralisierung des Widerstandsgedenkens“ (S. 96) beschriebenen Umbenennungen nach 1989 können nicht verständlich machen, warum welche Namen von Kommunisten erhalten blieben.

Pöppinghege wird auch dem Anspruch nur bedingt gerecht, Straßennamen als Erinnerungsorte darzustellen, denn er verzichtet fast gänzlich auf die Darstellung der engen Bezüge zu anderen Medien des kulturellen Gedächtnisses. An vielen Benennungen ließe sich die Verbindung mit städtischen oder nationalen Jubiläen zeigen. Dass „Waterloo-Straßen“ im 19. Jahrhundert fast ausschließlich in den damaligen preußischen Provinzen entstanden, in den ehemaligen Rheinbundstaaten jedoch nicht, ist ein interessanter Befund, der auf die differenzierte Erinnerung an die napoleonische Zeit verweist. Die Konjunktur von Personen- und Schlachtennamen der Befreiungskriege wurde jedoch nicht nur durch den „deutsch-dänischen Krieg von 1864 befeuert“ (S. 42). 1863 begingen Kriegsveteranen und Monarchisten das 50. Jubiläum der Schlacht bei Leipzig, 1864 das der Einnahme von Paris, 1865 das des Sieges bei Waterloo. Dies löste nicht nur eine Flut an gedruckten Festgesängen und Reden aus, sondern führte auch zu Straßenbenennungen, etwa dem Themenviertel am Kreuzberg in Berlin.

Mit der Konzentration auf eine verhältnismäßig kleine Anzahl von Namen politischer Akteure, Orte und Ereignisse bewegt sich Pöppinghege zudem auf bekannten Wegen. Das weitgehende Ausblenden oder Abwerten von Märchennamen („Infantilisierung“, S. 115), geographischen und Naturnamen verschenkt stadtsoziologische und mentalitätsgeschichtliche Einsichten und ignoriert die Ergebnisse der sprachwissenschaftlichen Straßennamenforschung.6

Wer also einen ersten Einstieg in das Thema sucht, ist mit Pöppingheges historisch strukturiertem Buch gut bedient. Man sollte es jedoch vor allem als Angebot zu eigenem Nachdenken und Nachprüfen lesen.

Anmerkungen:
1 Vgl. jüngst etwa Jaworski, Rudolf; Stachel, Peter (Hrsg.), Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich, Berlin 2007.
2 François, Etienne; Schulze, Hagen (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001. Vgl. hingegen im französischen Vorbildprojekt: Milo, Daniel S., Le nom des rues, in: Nora, Pierre (Hrsg.), Les lieux de mémoire, Bd. 2: La Nation, Paris 1986, S. 283-315.
3 Art. „Französische Straße“, in: Gärtner, Karl-Heinz u.a., Berliner Straßennamen. Ein Nachschlagewerk für die östlichen Bezirke, 2., aktualisierte und erweiterte Aufl. Berlin 1995, S. 266.
4 Sänger, Johanna, Heldenkult und Heimatliebe. Straßen- und Ehrennamen im offiziellen Gedächtnis der DDR, Berlin 2006, S. 163-166.
5 Vgl. Bohl, Hans-Werner u.a., Lexikon Rostocker Straßennamen, Rostock 1995.
6 Beispielhaft dafür: Eichler, Ernst u.a. (Hrsg.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik, 2 Bde., Berlin 1996; Bering, Dietz, Grundlegung kulturwissenschaftlicher Studien über Straßennamen: Der Projektentwurf von 1989, in: Eichhoff, Jürgen u.a. (Hrsg.), Name und Gesellschaft. Soziale und historische Aspekte der Namengebung und Namenentwicklung, Mannheim 2001, S. 270-281.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension