S. Lesemann u.a. (Hrsg.): Ländliche Ökonomien

Cover
Titel
Ländliche Ökonomien. Arbeit und Gesellung in der frühneuzeitlichen Agrargesellschaft


Autor(en)
Lesemann, Silke; Lubinski, Axel
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Niels Grüne, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Vor etwa 15 Jahren hat die von Jan Peters ins Leben gerufene Max-Planck-Arbeitsgruppe „Ostelbische Gutsherrschaft als sozialhistorisches Phänomen“ (1992-1996) einen Paradigmenwechsel in der Untersuchung gutsherrschaftlich geprägter Agrarregionen eingeleitet.1 Durch ihre Ausrichtung an einer anthropologischen, akteurszentrierten Perspektive trug sie entscheidend dazu bei, diesen klassischen Gegenstandsbereich für methodische und inhaltliche Impulse aus der jüngeren Sozial- und Kulturgeschichte zu öffnen.2 Die Forschungsbemühungen setzten sich über das Bestehen der Arbeitsgruppe hinaus fort und fanden eine publizistische Heimat unter anderem in den „Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft“.3 Mit der vorliegenden, ursprünglich als Band 5 dieser Reihe geplanten Aufsatzsammlung zur ländlichen Ökonomie schließt sich mit einiger Verspätung nun in gewisser Weise der thematische Kreis.

Zu Beginn heben Silke Lesemann und Axel Lubinski als Kernziel hervor, die Analyse wirtschaftlichen Denkens und Handelns in frühmodernen dörflichen Gesellschaften auf Aspekte des Arbeitsalltags und des Ressourcentransfers zu lenken und der Einbettung ökonomischer Tätigkeiten in soziale Netzwerke genauere Beachtung zu schenken. Sie knüpfen explizit an eine in der neuen Agrargeschichte breite Tendenz an, sich angesichts der empirischen Evidenz vielfältiger Austauschprozesse zwischen ländlichen Haushalten und Individuen vom Modell des autarken ‚ganzen Hauses’ (Otto Brunner) zu lösen. Zur Konzeptualisierung der „lokale[n] Formen sozialer Beziehungen“ (S. 11) – besonders jenseits institutionell verfestigter Interaktionsmuster – führen die Herausgeber den von Heide Wunder vorgeschlagenen Begriff der ‚Gesellung’ ein.4 Als Referenzpunkt für die Einzelstudien soll er auf die Kohäsionskraft und den Verbindlichkeitsgrad relativ informeller Personengeflechte im ruralen Milieu verweisen, die vor allem aus den komplementären Wirtschaftspraktiken unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen erwuchsen, und damit zugleich die „Interessenhaftigkeit von Formen des Zusammenlebens und Agierens“ (S. 12) akzentuieren.

Den Herausgebern folgend lassen sich die zehn Aufsätze drei Themenblöcken zuordnen. Fünf Beiträge konzentrieren sich auf die Erscheinungsformen und Wahrnehmungen von Arbeit im ländlichen Raum. So illustriert Lieselott Enders am Beispiel der Prignitz, wie sich die Markt- und Rentabilitätsorientierung bäuerlicher Betriebe in Extensivierungs- und Intensivierungsbemühungen niederschlug. Jan Peters erläutert ebenfalls für die Prignitz – speziell die Herrschaft Plattenburg-Wilsnack – die Widersprüche und Kompromisse, die sich aus der Konfrontation bäuerlicher und gutsherrlicher Bedürfnisse hinsichtlich der Hofdienste von Untertanen ergaben. Mit den Rechtsgrundlagen und Formen unfreier Arbeit im Herzogtum Bayern beschäftigt sich Renate Blickle, die zwischen statusbedingten Dienstpflichten (z.B. Gesindezwangsdienst, Scharwerk, Militärdienst) und „urteilsbegründeter“ Zwangsarbeit (Kriminalstrafen) differenziert. Axel Lubinski beleuchtet die Ausprägung von Lohnarbeit im Mecklenburg-Strelitz des 18. Jahrhunderts. Für das Gesinde demonstriert er unter anderem, dass sich Bauernknechte gegen den Willen der Gutsherren häufig auf der Basis von Naturaldeputaten (Getreideaussaat) als „kleine Agrarproduzenten“ (S. 119) betätigen konnten, weil sie aufgrund von Arbeitskräfteknappheit und ihrer Einbindung in sozioökonomische Reziprozitätsnetze eine relativ günstige Verhandlungsposition besaßen. Marion W. Gray schließlich widmet sich anhand des königlichen Vorwerksdorfes Schlalach in Brandenburg den ökologischen Veränderungen, die sich seit den 1760er-Jahren infolge der Ansiedlung von Büdnern als einer neuen Schicht landwirtschaftlicher Lohnarbeiter und der damit zusammenhängenden intensivierten Bodennutzung abzeichneten. Gray rekurriert in diesem Themenblock auch als einziger ausdrücklich, wenngleich eher kursorisch auf den Begriff ‚Gesellung’ zur Charakterisierung des bäuerlich-herrschaftlichen Verhältnisses.

Eine größere Rolle spielt das Konzept in den zwei Studien von Anke Hufschmidt und Silke Lesemann zur Soziabilität des Landadels. Hufschmidt veranschaulicht, wie der räumlich zerstreute Adel der Grafschaft Lippe sich im 16. und 17. Jahrhundert bestimmte Kommunikationsweisen aneignete, um die amorphen Potentiale von Verwandtschaft und Freundschaft – in der zeitgenössischen Bedeutung matrilinearer Verwandtschaft (S. 181f.) – innerhalb begrenzter Verkehrskreise zu mobilisieren. Sie spricht daher analog zur lokalen Gesellung im Umfeld gemeindlicher Nachbarschaft von „ständische[n] Kleinformen“ (S. 151), die sich etwa in „Feierlichkeiten als Foren adeliger Öffentlichkeit“ (S. 158) und in Briefkorrespondenzen realisierten. Ähnliche Vorgänge beschreibt Lesemann für die Altmark um 1800. Hier kam nun allerdings unter gewandelten Diskursbedingungen auch im Adel weitaus stärker die moderne emphatische Freundschaftsidee im Sinne einer „freiwillig einzugehenden emotionalen Bindung“ (S. 180) zum Tragen, die eine zumindest rhetorische Intimisierung individueller Beziehungen förderte. Ausführlicher behandelt Lesemann zudem die ökonomische Funktionalisierung solcher Kontakte etwa für die Anbahnung von Kreditgeschäften.

Die letzten drei Aufsätze wenden sich den Mechanismen bäuerlicher Besitztransfers zu. Susanne Rappe-Weber belegt für das Dorf Hehlen an der Weser, dass sich in der Sondersituation nach dem Dreißigjährigen Krieg Hofübergaben vergleichsweise selten auf den als typisch geltenden Pfaden der Vererbung innerhalb der Familie oder der Wiederverehelichung vollzogen. Sie warnt deswegen vor einer ungeprüften Rückprojektion der andersartigen und besser erforschten Konstellationen nach 1700. Als „frühneuzeitliche Gesellungsform“ wird in diesem Kontext das genealogisch definierte Kollektiv der „hoferbenden Personen“ und der „weichenden Erben“ (S. 200) begriffen. Auf die Erbpraxis richten sich auch die Betrachtungen von Susanne Rouette zum münsterländischen Kirchspiel Diestedde im 18. und 19. Jahrhundert. Unter dem Blickwinkel einer „Dekonstruktion agrarromantischer Ideologeme“ (S. 223) zeigt sie in quantitativen Analysen und Fallschilderungen, dass die Durchbrechung agnatischer Abstammungslinien in der Hofnachfolge lange eher die Regel als die Ausnahme war, zum einen wegen häufiger Wiederheiraten, aber auch aufgrund erweiterter rechtlicher Möglichkeiten zur Abfindung von Kindern aus erster Ehe. Dana Štefanová stützt sich auf die Auswertung von Ausgedingeregelungen in bäuerlichen Kaufverträgen aus drei Dörfern der nordböhmischen Gutsherrschaft Frýdlant zwischen 1550 und 1750. Sie geht vorrangig der Frage nach, in welchem Umfang sich den Austräglern im Rahmen einer „Subökonomie der Altenteiler“ (S. 284) Chancen zu eigenständiger landwirtschaftlicher oder agrargewerblicher Arbeit boten. Von ‚Gesellung’ ist indes weder in Rouettes erhellender Darstellung noch bei Štefanová die Rede.

Insgesamt deckt der Band somit ein heterogenes Themenspektrum ab. Zwar überzeugen die meisten Studien durch Informationsdichte und argumentative Stringenz; ferner bildet der Aspekt ‚Arbeit’ für über die Hälfte der Aufsätze eine wichtige inhaltliche Klammer. Da aber nur eine Minderheit der Autorinnen und Autoren das im Titel und von den Herausgebern exponierte Modell der ‚Gesellung’ ernsthaft auslotet, wird man das Buch kaum im erhofften Maße als Test für dessen erkenntnisförderndes Potenzial lesen können. Man mag überhaupt daran zweifeln, ob eine gesonderte Kategorie durchweg hilfreich ist, um den lange unterbelichteten „lokalen Kleinformen“ (S. 11) die erwünschte gesellschaftsgeschichtliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Denn die forschungsstrategisch zu begrüßende Fokussierung dank eines eigenen Etiketts birgt zugleich die Gefahr, dass die örtliche Interaktionssphäre als ein außer- oder vorgesellschaftlicher Raum entworfen wird. Den Intentionen der Erfinderin allerdings liefe dies zweifellos zuwider. Heide Wunder kommt es vielmehr mit dem Begriff der ‚Gesellung’ darauf an, die in Detailuntersuchungen winkenden Aufschlüsse über institutionell schwach determinierte und deshalb makroanalytisch schwierig fassbare Handlungsfelder für eine Deutung von Strukturen und Wandlungsprozessen auf höheren Aggregationsebenen zu nutzen. Jedoch rückt die in der Einleitung anklingende Engführung auf stabile Verpflichtungszusammenhänge den Ansatz wieder in eine ungewollte Nähe zu dualistischen Theorietraditionen, in denen der ländlich-dörfliche Bereich als Hort von ‚Gemeinschaft’ und ‚Vergemeinschaftung’ figuriert.5 Eine systematischere Diskussion des Gesellungskonzepts und seine konsequente Erprobung in den Einzelbeiträgen hätten daher den Wert des Bandes für eine mikrohistorische Fundierung gesellschaftsgeschichtlicher Interpretationen noch einmal spürbar gesteigert.

Anmerkungen:
1 Vgl. die drei grundlegenden Sammelbände: Peters, Jan (Hrsg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995; ders. (Hrsg.), Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Über Resistenz- und Herrschaftsverhalten in ländlichen Sozialgebilden der frühen Neuzeit, Göttingen 1995; ders. (Hrsg.), Gutsherrschaftsgesellschaften im europäischen Vergleich, Berlin 1997.
2 Zur Herangehensweise und wesentlichen Befunden Peters, Jan, Gutsherrschaftsgeschichte in historisch-anthropologischer Perspektive, in: ders. (Hrsg.), Gutsherrschaft, S. 3-21; ders., Neue Ansätze zur Erforschung der Geschichte der ländlichen Gesellschaft, in: Enders, Lieselott; Neitmann, Klaus (Hrsg.), Brandenburgische Landesgeschichte heute, Potsdam 1999, S. 33-68.
3 Die Reihe ist allerdings offenbar nach vier Bänden eingestellt worden: Rudert, Thomas; Zückert, Hartmut (Hrsg.), Gemeindeleben. Dörfer und kleine Städte im östlichen Deutschland (16.-18. Jahrhundert), Köln 2001; Eriksson, Magnus; Krug-Richter, Barbara (Hrsg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.-19. Jahrhundert), Köln 2003; Klußmann, Jan (Hrsg.), Leibeigenschaft. Bäuerliche Unfreiheit in der frühen Neuzeit, Köln 2002; Kaak, Heinrich; Schattkowsky, Martina (Hrsg.), Herrschaft. Machtentfaltung über adligen und fürstlichen Grundbesitz in der frühen Neuzeit, Köln 2003.
4 Vgl. Wunder, Heide, Das Selbstverständliche denken. Ein Vorschlag zur vergleichenden Analyse ländlicher Gesellschaften in der Frühen Neuzeit, ausgehend vom „Modell ostelbische Gutsherrschaft“, in: Peters, Jan (Hrsg.), Gutsherrschaft, S. 23-49.
5 Zudem ist der Ausdruck ‚Gesellung’ – wie auch Anke Hufschmidt konzediert (S. 150) – in der Soziologie gerade für lose Beziehungsgeflechte mit geringer Bindungskraft gebräuchlich. Es leuchtet daher wenig ein, warum seine Applikation in historischen Untersuchungen mit einer interdisziplinär irritierenden Sinnverschiebung einhergehen soll.

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