T. Harlander (Hg.): Villa und Eigenheim

Titel
Villa und Eigenheim. Suburbaner Städtebau in Deutschland


Herausgeber
Harlander, Tilman
Erschienen
Anzahl Seiten
519 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinz Reif

Nach der Geschichte des Wohnens, deren fünf Bände zwischen 1996 und 1999 erschienen sind, hat die Wüstenrot-Stiftung ihre Förderung auf ein weiteres Forschungsfeld konzentriert, das in Deutschland – im Unterschied vor allem zu den englischsprachigen Ländern – bis heute in erstaunlichem Maße vernachlässigt worden ist: auf den säkularen Prozess der Suburbanisierung des Wohnens, den Zug an den grünen Stadtrand, ins eigene Haus, in Vorortsiedlungen, Garten- und Trabantenstädte. Noch heute, so das Vorwort zu diesem aufwendig gestalteten, glänzend bebilderten und preiswert zu erstehenden Band, sei dies der „von der Bevölkerung mehrheitlich geteilte Wohnwunsch“. Wer wird dem widersprechen wollen? Aber wie lässt sich das erklären? Die Nachteile dieses Massentrends liegen doch auf der Hand und sind in den letzten Dekaden auch zunehmend artikuliert und kritisiert worden: Zersiedelung des städtischen Umlands, Entmischung der Wohngebiete, Rückzug ins Privatistische, Erosion der innenstädtischen Funktionsvielfalt, Verödung der städtischen Zentren, Siedlungsstrukturen und Architekturen, die zunehmend ideenloser und monotoner werden, kaum mehr zu bewältigender Pendler-Strassenverkehr und vieles andere mehr.

In intellektuellen, an Stadtentwicklung interessierten Kreisen, nicht zuletzt in den mit urban studies befaßten Fachwissenschaften, bläst Suburbia schon seit längerem ein scharfer Wind entgegen. Die Forderung eines neuen, „nachhaltigen Städtebaus“ ist zur wirkungsmächtigen Politikformel geronnen, die von den Unternehmen, welche den Wohnungsbau fördern, auf Dauer nicht ignoriert werden kann. Bisweilen stellt sich bei der Lektüre suburbanisierungskritischer Beiträge in Feuilletons sowie in Fachpublikationen der Eindruck einer Paradigmenumkehr dar, genauer eines Austauschs von Feindbildern ein: An die Stelle der grauen, steinernen Mietskasernenstadt, die dem Zug an den Stadtrand seit dem 19. Jahrhundert seine Schubkraft und Rechtfertigung gab, tritt zunehmend die Negativvorstellung einer Stadtrandsiedlung, die Flächen frißt, öde Architektur bietet, den Menschen vereinzelt und sozial wie kulturell depraviert. Dem säkularen Zug ins Grüne, der zeitweise zweifellos Züge eines Kreuzzugs zurück zur Natur besaß, wird ein entschiedenes „Nicht weiter so!“ entgegengesetzt: Ein Zurück zur kompakten, komplexen und kommunikativen Stadt, im Namen von zivilgesellschaftlichem Engagement, zu sichernder Sozialibilität und erneuerter gesellschaftlicher Kreativität wie Produktivität.

Gründe genug also für eine Stiftung, die der Entwicklung des „Planens, Bauens und Wohnens“ besondere Aufmerksamkeit widmet, ein wissenschaftliches Projekt zu unterstützen, das sich auf die Suche macht nach Vorbildern „nachhaltigen Städtebaus höherer Dichte an der Peripherie“, nach den „deutschen Traditionen städtebaulich anspruchsvoller Formen des suburbanen Einzelhausbaus“ (S. 13) zwischen „Villa und Eigenheim“. Das heißt: Es geht hier nicht um eine weitere Architekturgeschichte des Einzelhauses, sondern um die nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit zu leistende Geschichte des Eigenhausbaus in seinen stadtgeschichtlichen Zusammenhängen. Tilman Harlander (Stuttgart), der Leiter des Projekts, hat für diesen langen Weg durch mehrere Jahrhunderte Suburbanisierungsgeschichte ein kompetentes Team zusammengestellt, aus jüngeren und älteren Kollegen (insbes. der Aachener Nestor des Stadtplanungsgeschichte, Gerhard Fehl), aus Stadtsoziologen, Stadtplanern, Architektur-, Stadtbau- und allgemeinen Stadthistorikern. Dieses Team hat – dies sei vorweggenommen – mit dem hier vorgelegten großen Überblick über fünf Perioden der Suburbanisierungsgeschichte (Vorgeschichte bis Mitte des 19. Jahrhunderts, Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Zeit, Deutschland nach 1945) beeindruckende wissenschaftliche Erträge erarbeitet, die der weiteren Forschung zweifellos starke Impulse geben, die Richtung weisen werden.

Es wächst in letzter Zeit die Zahl jener neumodernen Briefkasten-Sammelbände, die unter einem eher nichtssagenden Titel eine Folge von disparaten Aufsätzen addieren. Von diesem Typus hebt sich das hier vorzustellende Buch wohltuend ab. Ein klar formuliertes, nicht allzu komplexes Konzept bestimmt Art wie Anordnung der 38 Aufsätze, verpflichtet ihre Autoren auf eine einheitliche Perspektive, richtet sie aus auf die Erarbeitung eines gemeinsamen Ertrags. Der Gegenstand Suburbanisierung wird von allen Autoren durchgängig aus drei Perspektiven heraus erfaßt und dargestellt: zeitspezifische Eigenart und Dynamik, wohnungsbaupolitische Dimensionen und städtebauliche Qualitäten des Suburbanisierungsprozesses. Jede Periode wird dementsprechend mit drei Aufsätzen, verfasst von ausgewiesenen Kennern (z.B. Harald Bodenschatz und Clemens Zimmermann für das Kaiserreich, Gerd Kuhn für die Weimarer Republik und Tilman Harlander für die NS-Zeit) vorgestellt, wobei sich allerdings Überschneidungen und Wiederholungen nicht ganz vermeiden lassen. Daran schließen sich dann Fallstudien an, fünf zur Suburbanisierungsdynamik des Kaiserreichs, fünf zur Weimarer Republik, drei zur NS-Zeit und elf (!) zur Zeit nach 1945. Dieses Ungleichgewicht, zu dem noch für das Kaiserreich und die Weimarer Republik ein Übergewicht Berlins hinzutritt, spiegelt zum einen Standortstruktur und Arbeitsschwerpunkte der gegenwärtigen Forschungsinstitutionen wider, die sich mit urban studies beschäftigen (Stuttgart, Aachen, Hamburg, Frankfurt, Berlin), ist zum anderen aber auch der enormen Pluralisierung, Komplexität und neuen Unübersichtlichkeit geschuldet, welche die Suburbanisierungsdynamik nach 1945 gewann.

Aus der Vielzahl der Ergebnisse können hier nur wenige Haupttrends herausgehoben werden: es dauerte – wie der dicht und originell argumentierende Aufsatz von Gerhard Fehl eindrucksvoll zeigt – Jahrhunderte, bis die städtische Peripherie, das unmittelbare städtische Umland extra muros, den Ruch der Zwielichtigkeit verlor und sich Schritt für Schritt zum Ort privilegierten Wohnens, zunächst saisonal, dann dauerhaft wandelte. Im Kaiserreich gelang weitsichtig und differenziert planenden Terrainunternehmern des Villenbaus – unter dem wirkungsmächtigen Leitbild der Entdichtung und Dezentralisierung der Großstadt – die Entwicklung städtebaulich, siedlungsräumlich und architektonisch qualitätvoller, zumeist aber auch hochexklusiver Villenkolonien. Das Reformkonzept der „Gartenstadt“ transformierte nach 1900 dieses Vorbild auf ein sozial wesentlich offeneres Kleinsiedlungsformat. Die Weimarer Republik wurde zur Hochzeit des in umfassende städtebauliche Perspektiven integrierten, kommunal wie staatlich geförderten, gemeinnützigen Wohnungsbaus für „Minderbemittelte“. Die nun gebauten suburbanen Kleinhaussiedlungen folgten weiterhin dem Leitbild der Entdichtung, waren aber auch weiterhin – lediglich auf einem anderen sozialen level – sozial homogen, folgten nun allerdings nicht mehr dem Wohnideal der Privatheit, sondern dem der Gemeinschaftsbildung. Der Wohnungsbau des Nationalsozialismus blieb bis 1939/40 – als wachsende Engpässe und Notlagen zum revival des Mietgeschosswohnungsbaus zwangen – dezidiert Kleinsiedlungsbau, nun allerdings mit neu akzentuierter volkspolitischer Begründung („Wiederverwurzelung in der Scholle“). Das Ideal der Volksgemeinschaft gab dem Prinzip der Mischung eine neue Plausibilität. Doch wuchs, je länger desto mehr, die Diskrepanz zwischen vollmundigen Planungen und kargen Realisierungsquoten. Nach 1945 erreichte der suburbane Eigenheimbau im Zeichen der Massenmobilisierung der Bundesrepublik – was die reine Zahl an Häusern, vor allem aber auch die soziale Schichtung der Eigenheimbauer angeht – bisher ungeahnte Dimensionen, überflutete eine Welle wilden wie organisierten suburbanen Siedlungsbaus die kommunalen Bemühungen um Steuerung der neuen Siedlungsdynamik, die in zunehmendem Maße ihre siedlungsgestalterischen wie architektonischen Qualitäten einbüßte. Erst seit den 1980er/90er Jahren, in einer entschiedenen Gegenbewegung gegen diese Übel der Massenproduktion, findet eine Rückbesinnung auf die – von dieser Studie detailliert herausgearbeiteten – positiven städtebaulichen Traditionen und Standards statt, erhalten im Rahmen des privaten wie öffentlich geförderten suburbanen city-developments Prinzipien wie Gestaltung des öffentlichen Siedlungsraums, Gemeinschaftseinrichtungen, soziale Mischung, Nutzungsvielfalt etc. wieder ihr Recht.

Das Resümee betont, für Deutschland wenig überraschend, zunächst die durch harte Brüche bestimmte Diskontinuität der Suburbanisierungsdynamik, ablesbar nicht zuletzt am mehrfachen Umschlag in den Leitbildern (und Adressaten) suburbanen Wohnens und Bauens: Von der Individualisierung und Privatisierung (Kaiserreich) zur – unterschiedlich imaginierten – Gemeinschaft (Weimarer Republik, Nationalsozialismus, DDR), und von dort wieder stark zurück zur Privatheit (Bundesrepublik bis in den 1980er Jahre). Ebenso vertraut, aber in dieser Studie in ihren Antriebskräften erhellt: Die langfristig sich durchsetzende Demokratisierung des Zugangs zum naturnahen randstädtischen Wohnen im eigenen Haus, gestützt durch ein zunehmend differenzierteres Netzwerk von Finanzierungsmodellen, Massenverkehrsangeboten und Strategien öffentlicher Subvention. Grundlegend und überzeugend schließlich die These, dass in Deutschland der suburbane Wohnungsbau dominant vom Markt gesteuert wurde und nur schwer Bindung an städtebauliche Rahmenvorgaben gewonnen hat. Die Beiträge dieses Bandes konzentrieren sich zwar auf die Herausarbeitung einer positiven, städtebaulich qualitätvollen Tradition des Eigenheimbaus; sie unterschlagen aber keineswegs die Qualitätsverluste, ja die Anarchie, die sich aus dieser Orientierung am Einzelhaus ergab. Mehrfach wird betont, dass das isolierte Eigenhaus ohne städtebauliche Qualitäten zu allen Zeiten des Untersuchungszeitraums dominant blieb. Der Fokus der Studien ist aber, mit dem Ziel der Aufklärung und Beratung, entschieden auf diejenigen Fälle gerichtet, in denen die Anarchie, die dem Markt und der Eigenhausorientierung inhärent waren, durch Bauherren, Architekten, Stadt- und Raumplaner, später dann auch durch die seit den 1920er Jahren entstehenden Bausparkassen gebändigt wurden.

Suburbanisierung, so die wichtigste Entdeckung dieses lesenswerten Buches, hat eine eigene europäische Tradition. Sie war ein fester Bestandteil der europäischen Stadtentwicklung, hat die europäische Stadt geprägt, obwohl sie in bestimmten Zeitphasen immer wieder einmal als Ferment der Anarchie und der Auflösung allen stadtgestalterischen Bemühens wirkte. Aber die Akteure europäischen Städtebaus, und das Spektrum reicht hier von den weitsichtigen Terrainunternehmern des Kaiserreichs über die kommunalen wie staatlichen Praktiken gemeinnützigen Wohnungsbaus bis jüngst auch zu den Bausparkassen – haben immer wieder die Kraft gefunden, die ins Offene strebenden Kräfte in planerische und gestalterische Zusammenhänge rückzubinden. Diese Botschaft beeindruckt durch ihren Optimismus; doch sie ist andererseits mit 25 Fallstudien außerordentlich dicht belegt. Weiteres Bemühen um Gewichtung, weitere Präzisierungen, insbesondere durch den internationalen Vergleich, müssen folgen. Auch der angebliche Traum der Mehrheit der Deutschen vom eigenen Haus am grünen Stadtrand verlangt nach weiterer, z.B. nach einer modernen kulturgeschichtlichen Analyse. Es waren und sind nicht nur architektonische und stadtgestalterische Qualitäten, sondern auch gesellschaftlich vermittelte Werte, die den anhaltenden Zug zum Stadtrand steuern. Man wüsste gern mehr über die Unterschiede an Attraktivität, die dieses Wohnmodell in den verschiedenen europäischen Ländern hatte, aber auch mehr über hier nicht untersuchte Handlungsfelder dieses Prozesses, insbesondere über die Finanzierungsstrategien und die Akteurskonstellationen im Wandel. Aber all diese weiterführenden Fragen entstehen erst aus der Lektüre dieses Buches. Es macht neugierig, regt zu weiterer Forschung an und erweitert unseren Blick auf die Stadt durch die Erhellung eines Prozesses „langer Dauer“. Alle, die sich mit Geschichte und Gegenwart der Stadt beschäftigen, sollten dieses Buch lesen, oder besser noch, es sich für ihre Handbibliothek anschaffen: Forscher und Studenten der urban studies, aber auch die Praktiker des Städtebaus, von den Städteplanern über die privaten city developer bis zu den Bausparkassen.

Suburbia und kompakte Stadt, Peripherie und Zentrum, Wohnungsbau am Stadtrand und in der Innenstadt seien, so ein letzter resümierender Gedanke der Herausgeber, in engem Zusammenhang zu sehen, als zwei Felder eines qualitätvollen europäischen Städtebaus. Wohl denn, hoffen wir auf eine Fortsetzung dieses Unternehmens mit einem Band gleichen Formats über die positive europäische Tradition und die in jüngster Vergangenheit erarbeiteten hohen Standards des genuin innenstädtischen Eigenhaus- und Eigenwohnungsbaus, in Deutschland und in anderen europäischen Ländern.

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