S. Ferhadbegović: Prekäre Integration

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Titel
Prekäre Integration. Serbisches Staatsmodell und regionale Selbstverwaltung in Sarajevo und Zagreb 1918-1929


Autor(en)
Ferhadbegović, Sabina
Reihe
Südosteuropäische Arbeiten 134
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Kessler, Martin-Opitz-Bibliothek Herne

„Die Distriktsselbstverwaltung im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit war kaum jeweils Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung“ (S. 17), begründet die Verfasserin der 2005 an der Universität Freiburg (Breisgau) angenommenen Dissertation ihre Themenwahl. Diese Wahl kann man nur begrüßen, fehlen doch neben der vergleichsweise großen Zahl parteiengeschichtlicher und nationalitätspolitischer Arbeiten detaillierte Untersuchungen auf der unteren Verwaltungsebene, hier in den 33 Distrikten, in die das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen 1922 durch Gesetz eingeteilt wurde (vgl. die Karte auf S. 117; allerdings werden nur die Distrikthauptstädte und nicht die unter der Karte aufgelisteten Distriktnamen in der Karte angezeigt).

Die Leitfragen ihrer Arbeit hat die Autorin im Text versteckt: Zunächst will sie „analysieren, warum durch die jugoslawische verfassungsgebende Versammlung der Einheitsstaat durchgesetzt wurde und von welchen Hoffnungen und Erwartungen sich die verantwortlichen Akteure dabei leiten ließen“ (S. 13) und ob die „Konstruktionsfehler im ersten jugoslawischen Staatsbildungsprozess so schwer [wogen], dass dieses Jugoslawien bereits zum Scheitern verurteilt war? Demgegenüber stellt sich [der Autorin] die Frage, ob sich mit der Implementierung der Distriktsselbstverwaltung [...] die Chance bot, nationale und strukturelle Konflikte zu überwinden“ (S. 13/14, auch S. 167). Mit Zagreb und Sarajevo wählt sie für ihre Untersuchung zwei Distrikte um bisherige Landeshauptstädte aus dem Bereich Österreich-Ungarns mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, die allerdings nicht exemplarisch für die Gesamtsituation sein können, waren doch Ausgangs- und Rahmenbedingungen in den slowenischen Gebieten, dem bisherigen Südungarn (Vojvodina), in Altserbien und in den im zweiten Balkankrieg 1912 eroberten Gebiete (Kosovogebiet, „Südserbien“, d.h. Makedonien) anders.

Einen theoretischen Zugang sucht man vergebens. Ein wenig Hintergrund hat Ferhadbegović offensichtlich nur Reinhard Hendlers „Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip“ entnommen, weshalb Rudolf von Gneist (S. 13) im Text (nicht im Register) auftaucht, obwohl die serbische Staats- und Verfassungstheorie eher auf Frankreich orientiert war. Die Methode ist die der systematisch strukturierten chronologischen Erzählung mit reichlich Quellen- und Diskursreferat bis –zitat.

Der erste Teil, „Die Selbstverwaltung der Distrikte im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ beginnt mit den „Traditionen der Selbstverwaltung“ im Fürstentum bzw. Königreich Serbien, im Königreich Kroatien-Slawonien und in Bosnien-Herzegowina seit der Okkupation im Jahre 1878 mit für das Thema überflüssigen Rückgriffen bis ins Mittelalter. Im Zentrum der Darlegungen stehen die Diskussionen über die zentralistische oder föderale Organisation des Königreich der Kroaten, Serben und Slowenen unter dem Aspekt der „Hoffnungen, Erwartungen und Vorstellungen“ in Bezug auf den „ersten jugoslawischen Staat“. Die Position der Autorin ist eindeutig im Sinne der kroatischen politischen Forderungen nach einer föderalen Staatsorganisation (wie die Argumentationsmuster auf S. 76 belegen), die sie mit weiteren in diese Richtung zielenden Positionen immerhin ausgiebiger aus den Parlamentsprotokollen referiert. Wichtig für das engere Thema sind dagegen die Abschnitte zum Prinzip der Selbstverwaltung in der Verfassung und zum Selbstverwaltungsgesetz vom 26. April 1922, dessen Inhalt ausführlich dargelegt wird. Als „verhinderte Selbstverwaltung“ schildert sie die Zentralisierungsmaßnahmen der Belgrader Regierung und den dagegen gerichteten Widerstand bis zur Verfassung vom 28. Juni 1921, insbesondere Stjepan Radićs „Widerstand gegen den Zentralismus“. Dieser Politiker allerdings, sonst von Ferhadbegović ganz im Sinne seiner Parteigänger mehrfach heroisiert (vgl. S. 86), kann sie aber wegen seiner wechselhaften Politik nicht überzeugen (S. 150). Detaillierter behandelt sie die unterschiedlichen Wege zur „Vereinheitlichungspolitik“ in Kroatien und in Bosnien. Erst die Verständigung zwischen Radić und der Zentralregierung im Jahre 1925 ermöglichte die Inkraftsetzung der Selbstverwaltungsgesetze seit 1927. Mit der Königsdiktatur wurden sie 1929 wieder aufgehoben.

Zwar wurden die Obergespane der Distrikte vom König ernannt, doch existierte mit der Distriktversammlung ein parlamentarisches Organ mit Entscheidungs- und Kontrollkompetenzen, während der Distriktausschuss das Exekutivorgan darstellte. Ferhadbegović zeigt aus den Archivquellen, wie effizient die beiden Distrikte mit ihren völlig unterschiedlichen Voraussetzungen und Strukturen gearbeitet haben und wie flexibel sie auf die Bedürfnisse der jeweiligen Region reagieren konnten. Radić und die Kroatische Bauernpartei verstanden es in Zagreb, die Distriktversammlung politisch zu nutzen. Deshalb litt die Distriktverwaltung in Zagreb unter einer wesentlich stärkeren Kontrolle als diejenige in Sarajevo, wo das Wahlergebnis die Parteien zur Zusammenarbeit zwang. Eingedenk dessen, dass die Selbstverwaltungsorgane nur zwei Jahre wirken konnten, waren sie, so das überzeugende Ergebnis der Quellenstudien, ausgesprochen erfolgreich. Sie hätten auch durch größere Partizipationsmöglichkeiten wie durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für volljährige Männer „zu einer integrativen Dynamik der politischen Landschaft des Königreichs SHS“ (S. 232) führen können.

Ferhadbegović geht aus von der sich antiserbisch ausdrückenden traditionell antizentralistischen kroatischen Position, wie sie zeitgenössisch vor allem Radić vertreten hat, ohne diese zu problematisieren. Sie übersieht die politische Dimension der „serbisch-kroatisch-slowenischen“ Nation im Kontext der Pariser Friedensverträge, bemerkt aber immerhin, dass eine Föderalisierung nach den historischen Teilgebieten nicht notwendig Selbstverwaltung auf der unteren Verwaltungsebene bedeutet hätte (S. 84). Strukturgeschichtliche Fragestellungen sind der Autorin fremd, eher bedient sie sich abgenutzter Etikettierungen wie „Pašić, dieser alte Mann und gewiefte Politiker“ (S. 76). Für das engere Thema wäre der Teil zum Konflikt zwischen Föderalisten und Zentralisten nicht unbedingt in dieser Ausführlichkeit notwendig gewesen. Da er zudem vom Ende des „alten“ Jugoslawien 1941 her interpretiert wurde, wirkt dieser Abschnitt einseitig und konventionell.

Überzeugen kann dagegen der aus den Quellen erarbeitete Teil zur Distriktselbstverwaltung, der, gut strukturiert, thematisch Neuland betritt und ein unbekanntes Kapitel der Innenpolitik aufschlägt. Insofern ist der zweite Teil der Arbeit bei aller Konventionalität des Vorgehens innovativ. Der Gedanke, dass die strikte Beendigung dieses auch in der serbischen Politik nicht unumstrittenen, in den ausgewählten Distrikten erfolgreich begonnenen politischen Innovationsprozesses auch eine Folge der Obstruktionspolitik der – hier überwiegend kroatischen – Föderalisten gewesen sein könnte, kommt Ferhadbegović nicht: Sie ist offensichtlich grundsätzlich antijugoslawisch gestimmt und geht von der kroatisch-serbischen Polarisierung und den gängigen Unterdrückungsgeschichten aus. Inwieweit die positive Bilanz der nur zweijährigen Praxis auf die übrigen 31 Distrikte übertragen werden kann, bleibt zu prüfen, doch könnte auch hier Ferhadbegovićs positive Wertung: „Verbitterte Opposition wich mit der Zeit nüchternem Pragmatismus“ (S. 327), gelten. Dass die 1929 proklamierte „Königsdiktatur“ diese Ansätze zu einer, will man das Modewort aufgreifen, in der Umsetzung „prekären“ politischen Integration abgebrochen hat, davon ist man nach der Lektüre dieser Dissertation überzeugt. Die Studie im Ganzen leistet einen zwar nicht rundum gelungenen, aber beachtenswerten Beitrag zu dem bislang vernachlässigten Thema der Innenpolitik des ersten Jugoslawien.

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