B. Beyer: Vom Tiegelstahl zum Kruppstahl

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Titel
Vom Tiegelstahl zum Kruppstahl. Technik- und Unternehmensgeschichte der Gussstahlfabrik von Friedrich Krupp in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Beyer, Burkhard
Erschienen
Anzahl Seiten
623 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralf Banken, Wirtschaftsgeschichte, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Krupp stellt nicht nur das am besten untersuchte deutsche Unternehmen dar, sondern auch eines, um das sich die meisten Legenden ranken; Legenden, die die Krupps bereits frühzeitig zu pflegen begannen. Dies gilt insbesondere für die Frühzeit des Unternehmens, weshalb es sehr zu begrüßen ist, dass sich Burkhard Beyer in seiner Bochumer Dissertation ausführlich mit der Gründungsphase und der Weiterentwicklung des Essener Fabrikbetriebes unter Alfred Krupp bis 1860 beschäftigt.

Aufbauend auf einer Darstellung der Technik des Tiegelstahls sowie der Eigentumsverhältnisse, der Unternehmensfinanzierung, den Betriebsergebnissen und der Belegschaftsentwicklung konzentriert sich Beyer in beiden Hauptkapiteln auf die technische Entwicklung des Tiegelgusses in Essen sowie die dortige Entwicklung zahlreicher Anwendungsbereiche, das heißt die Aufnahme immer neuer Fertigprodukte von Gerbereiwerkzeugen über Hartwalzen hin zu Radreifen und Kanonen. Zudem beschreibt der Verfasser auch die Entwicklung der Arbeiterschaft, ihre Qualifikation und Binnendifferenzierung sowie die Entstehung der Leitungsebenen.

Auf Basis breiter Archivrecherchen korrigiert Beyer dabei überzeugend das bisher in der Literatur vorhandene Bild von Friedrich Krupp als technisch Besessenem und unternehmerisch Gescheitertem. Vielmehr handelte der Gründer der Gussstahlfabrik durchaus kaufmännisch und brachte das Tiegelstahlverfahren 1823 zur Marktreife. Weniger seine Fehleinschätzung des Kapitalbedarfs für die Gussstahlproduktion als vielmehr der Ausbruch seiner schweren Krankheit ließen das junge Stahlunternehmen nach Beyer ins Schlingern geraten.

Bei seinem Tod 1826 hinterließ er seinem Sohn zwar ein daniederliegendes Unternehmen, aber ein funktionierendes Verfahren, das bis in die 1840er-Jahre nur noch standardisiert wurde. Zudem verfolgte auch Alfred Krupp die bereits von seinem Vater eingeschlagene Strategie, sich nicht nur auf die reine Gussstahlproduktion zu konzentrieren, sondern soweit wie möglich die Herstellung von Fertigfabrikaten auszudehnen, um die gegenüber der englischen Konkurrenz höheren Preise durchsetzen zu können, die aus Kostengründen notwendig waren. Aus diesem Grund bildete die Suche nach geeigneten Anwendungsbereichen sowie neuen Produkten für den Essener Tiegelstahl einen Schwerpunkt der Unternehmenspolitik und deshalb kümmerte sich Alfred Krupp auch mehr um den Absatz und die Weiterverarbeitung, denn um das Kruppsche Schmelzverfahren. Die Erweiterung und Diversifizierung der Produktion sowie Fabrikwerkstätten diente dabei – wie bereits vor 1826 – vor allem der Senkung der Produktionskosten für den Tiegelstahl durch „Economies of Scale“, doch erst mit der Serienfertigung von Eisenbahngütern (Federn, Achsen, Radreifen etc.) erreichte Krupp eine ausreichende Auslastung der Stahlerzeugung. Die umfangreichen Investitionen in immer ausgedehntere Produktionsanlagen führten jedoch bis in die 1850er-Jahre mehrfach zu Liquiditätsengpässen in Zeiten schlechter Auftragslage, da Alfred Krupp sämtliche Erträge sofort wieder in die Firma steckte. Er erwirtschaftete trotz zum Teil enormer Investitionen aber mindestens ab 1834 Gewinne, wobei Beyers Bilanzdaten, die die Investitionen nicht eigens ausweisen, diese erheblichen Erlöse noch untertreiben. Auf jeden Fall erklären die erheblichen Spannen das stets unbeirrte Festhalten von Alfred Krupp am Wachstumskurs und machen auch deutlich, dass das ähnliche Investitionsverhalten seines Vaters keine irrationale Erfinderbesessenheit darstellte.

Anhand der äußerst detaillierten Darstellung der Entwicklung des Kruppschen Tiegelstahlverfahrens und der Produktion der Fertigwaren – auf zahlreiche der bemerkenswerten Einzelergebnisse kann hier nicht weiter eingegangen werden – verdeutlicht Beyer überzeugend den schrittweisen Suchprozess, der zum technischen Fortschritt im Betrieb führte. Weniger Erfindergenialität als mühsame Empirie von Trial-and-Error – eine theoretische Durchdringung der Prozesse blieb bis 1860 aus – ließ Krupp das Verfahren standardisieren, wobei es mehr auf die Kombination zahlreicher Einflussfaktoren (Vorprodukte, Tiegel etc.) als auf die richtige Rezeptur für den Tiegelstahl an kam. Als Lösung für die immer wieder auftretenden Fehler zeigte sich Krupp gegenüber seinen Kunden kulant und nahm fehlerhafte Ware zurück, versuchte aber andererseits schon frühzeitig erfolgreich, den eigenen Kruppstahl als unverwechselbare Marke zu etablieren, auch um den hohen Preis der Kanonen zu rechtfertigen. Allerdings waren dessen Eigenschaften nicht grundsätzlich den Konkurrenzprodukten überlegen: So war der Essener Stahl gar nicht härter als andere Sorten, sondern bot nur bei denjenigen Anwendungen Vorteile, bei denen es auf die Tiefenhärtung des gesamten Werkstücks ankam. Dies war etwa bei Walzen der Fall, mit denen dem Unternehmen in den 1830er-Jahren der entscheidende Durchbruch gelang.

Neben der technischen Weiterweiterentwicklung und ihren ökonomischen Implikationen widmet sich Beyer detailliert der konkreten Betriebsorganisation. Er kann hierbei zeigen, dass auch die Entstehung der industriellen Fabrikarbeit – in Abhängigkeit von der eingesetzten Technik und der Größe des Unternehmens – das Ergebnis eines langwierigen empirischen Suchprozesses war, bei dem die unternehmerischen Entscheidungen über die Rekrutierung oder den Einsatz der Arbeiter, ihre interne Qualifikation oder deren Entlohnung aufgrund fehlender Vorbilder zunächst auf traditionelle Muster wie z.B. das Meistersystem zurückgriffen, die dann aber erst nach und nach variiert und überwunden wurden.

Beyers Entscheidung, in der technischen Entwicklung der Kruppschen Stahlfabrik und nicht in den Unternehmerpersönlichkeiten die zentralen Erklärungsparameter für die Firmenentwicklung zu sehen, überzeugt. Verwunderlich ist allerdings seine, in der Einleitung verkündete Ablehnung einer Analyse der ökonomischen Rahmenbedingungen. Genau dies leistet Beyer nämlich, arbeitet er doch die wesentlichen Faktoren für die Unternehmensentwicklung detailliert heraus und lässt andere – wie etwa das soziale Umfeld der Krupps – weitgehend unberücksichtigt, das heißt er konzentriert sich auf die betriebswirtschaftlich wichtigen Parameter, den ökonomischen Kern.

Der Wert der Beyer'schen Arbeit liegt nicht nur in der Darstellung der technischen Unternehmensentwicklung und in der Widerlegung der zahlreichen Legenden um Familie und Unternehmen. Vielmehr zeigt der Autor in äußerst dichter Beschreibung die langsam fortschreitende „Unternehmenswerdung“. Deutlich wird, dass die Ausbildung der unternehmensinternen Strukturen sowie die interne Ausdifferenzierung verschiedenster Funktionen und Routinen im Kruppschen Unternehmen nicht nur eine reine Folge des Unternehmenswachstums waren, sondern aufgrund der industriellen Produktionsweise und des hohen Kapitalbedarfes frühzeitig einsetzten. Auch wenn Beyer den Prozess der betriebswirtschaftlichen Institutionalisierung des Kruppschen Unternehmens in seiner Frühzeit nicht explizit in seinem Fazit herausarbeitet, sind es exakt diese Ausführungen, die den unternehmenshistorischen Wert der Untersuchung ausmachen. Da es aufgrund des exzellenten Krupparchivs nur für wenige deutsche Unternehmen eine ähnlich gute Quellenlage für die Zeit vor 1850 gibt, die eine so dichte Rekonstruktion der langsamen Institutionalisierung frühindustrieller Unternehmen zulässt, kommt dem von Beyer detailliert beschriebenen Kruppschen Fallbeispiel eine große Bedeutung für die deutsche Unternehmensgeschichte zu.

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