D. Müller: Ambivalenzen der Okzidentalisierung

Titel
Ambivalenzen der Okzidentalisierung. Zugänge und Zugriffe


Herausgeber
Müller, Dorothea
Reihe
Ambivalenzen der Okzidentalisierung, 1
Erschienen
Anzahl Seiten
235 S.
Preis
€ 29,65
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Kunschak, Claudia; Murti, Kamakshi P.

Der erste Band einer neuen Serie ist immer ein willkommener Grund, sich mit einem neuen Wissensgebiet vertraut zu machen. In Falle von Ambivalenzen der Okzidentalisierung ist es um so lohnender, da die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Themenkreis, die kritische Selbstreflexion angesichts der Umwälzungen in Ost und West und deren Auswirkungen, bis jetzt in der Germanistik versäumt wurde. Während im anglo-nordamerikanischen- und französischsprachigen Raum im Gefolge von bahnbrechenden Werken wie Aimé Césaires Discourse on Colonialism (1972), Frantz Fanons The Wretched of the Earth (1961) oder Edward Saids Orientalism (1979) ein Dialog mit Texten aus dem postkolonialistischen Raum (wie z.B. dem Werk der Subaltern-Gruppe von Partha Chatterjee et al.) entwickelt wurde, ist in der deutschsprachigen Auseinandersetzung mit dem 'Anderen' die Mehrschichtigkeit dieses Diskurses wenig beachtet und zumeist auf Reiseliteratur oder Minderheiten beschränkt. Auch die Vorsilbe 'Post' in Postkolonialismus ist von den Deutschen eher als ein Abschluß der Kolonialzeit begriffen worden, was im Hinblick auf einen globalen Kapitalismus eine vereinfachende, ja trivialisierende Behauptung sein darf. Diese Tendenz zu einem "Sonderweg" hat die Beteiligung der Deutschen am postkolonialen Diskurs auf ein Minimum reduziert. Dies hängt wohl damit zusammen, daß der Begriff 'Germanistik' auf seine Relevanz hin im Kontext einer postmodernen Welt seit langem nicht mehr überprüft worden ist, wogegen in den USA beispielsweise der Name "German Studies" immer häufiger auftaucht, um die Verlagerung des Gewichts auf 'andere', d.h. bisher marginalisierte Perspektiven und den damit verbundenen Paradigmenwechsel zu kennzeichnen. Ambivalenzen der Okzidentalisierung ist ein Versuch, die Homogenität der Begriffe "Ost" und "West" zu problematisieren und sie kritisch zu beleuchten und differenzierter zu betrachten.

Wie die Herausgeberin des zu rezensierenden Bandes, Dorothea Müller, klar hervorhebt, liegt der Schwerpunkt dieser Sammlung auf interdisziplinärer Forschung, was sich auch an der perspektivischen Vielfalt der Beiträge erkennen läßt. Drei Hauptthemen, die Klärung der Begriffe Ambivalenzen und Okzidentalisierung, die Positionierung des Forschers im Spannungsfeld der zu beschreibenden Entwicklungen, beide methodologischer Natur, sowie die Analyse praktischer Beispiele in Süd/Ost/Mitteleuropa bilden den Rahmen für die Beiträge. Diese Dreiteilung, deren Schwergewicht sehr wohl auf den Fallstudien liegt, ermöglicht es dem Leser, die Vorgehensweise der Forscher nachzuvollziehen und den Diskurs im vollen Bewußtsein der Relativität bzw. Willkürlichkeit bestimmter Begriffe und Paradigmen zu verfolgen. Es wird dadurch auch der nötige theoretische Unterbau für diesen neuen Forschungsansatz geschaffen.

Als Einstieg in die Materie wird im ersten Kapitel von Klaus Bochmann und Pirmin Stekeler-Weithofer das Konstrukt 'der Westen' problematisiert. Ähnlich wie im Konstrukt des Orients steht hier weniger die geographische Bestimmung als die kulturell-politische Bedeutung im Mittelpunkt. Als Beispiele werden Rußland und die Türkei genannt, und nach dem Zweiten Weltkrieg der Einfluß der amerikanischen Kultur. Während die Okzidentalisierung breiter Kulturkreise eindeutig zu belegen ist, sind auch gegenläufige Tendenzen - 'Ressentiments', wie sie von den Autoren genannt werden - zu beobachten. Trends wie Modernisierung, Globalisierung, und Konsumorientiertheit werden gepriesen, übernommen, aber auch als Fremdkultur kritisiert. Andererseits ist im Okzident gegenwärtig eine Trendwende zu beobachten, die mehr in Richtung lokale Prioritäten, vereinfachte Lebensweisen, und kontrollierter Fortschritt zu gehen scheint. In dem einführenden Kapitel werden all diese Strömungen und Gegenströmungen historisch beleuchtet und auf ihren Beitrag zur Okzidentalisierung hin untersucht.

In seinem Beitrag "Zur Konstruktion von Ambivalenzen der Okzidentalisierung" spricht Harald Homann verschiedene Begriffsebenen sowie deren reale Entsprechungen und Abgrenzungen wie auch Kontexte (zeitlich, räumlich, soziokulturell) der Okzidentalisierung an. Er postuliert die Abstraktion der Wahrheit durch die Einführung der Schrift im antiken Griechenland als den wesentlichen Schritt zur Okzidentalisierung. Rainer Totzkes "Ambivalonautik der Okzidentalisierung" versucht, auf die Ambivalenz der Rede von den Ambivalenzen der Okzidentalisierung hinzuweisen. Seine Begriffsbestimmung von "Okzident" ist sehr nützlich für den ganzen Diskurs über die Okzidentalisierung, denn er unterscheidet zwischen dem imperialistisch-kolonialistischen Kontext einerseits, und dem politisch unbelasteten, rein geographisch zu verstehenden Kontext andererseits. Seine auf Heidegger fußende Analyse des Begriffs Ambivalenz deckt den Epistemozentrismus des Westens auf. Als Abschluß der methodischen Überlegungen steht John Eidsons äußerst hilfreicher Überblick über kulturanthropologische Forschungsansätze, angefangen von den traditionellen Berichten Boas und Malinowskis über die Nativismus-Orientierung Lintons bis zu Geertz Epochalismus und Essentialismus. Schließlich werden die gegenwärtigen Diskussionsbeiträge von Benedict Anderson, Edward Said, u.a. in ihrer Bedeutung für den Paradigmenwandel skizziert. Die Ergänzung der griechisch-europäischen Perspektive durch die amerikanische Linse verleiht der angestrebten Multidisziplinarität zusätzliche Glaubwürdigkeit.

Die anschließenden Fallstudien bieten ein breites Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten der zentralen Fragestellung, Ambivalenzen der Okzidentalisierung. Vasile Dumbrava skizziert den Wandel in Sprachbewußtsein und Spracheinstellung in der Republik Moldawien durch die Geschichte. In seinem Beitrag stehen abwechselnd die russische, rumänische, und sowjetische Vorherrschaft für die Modernisierung der Sprachidentität. Moldawische Intellektuelle haben jedoch durch die Jahrzehnte und verstärkt in jüngster Zeit nach der Normalisierung der Beziehungen mit den Nachbarländern die moldawische Varietät des Rumänischen gepflegt.

In ihrem Beitrag bespricht Doris Boden Milan Kunderas Perspektive eines modernen Europas, das dieser auch in Ost/West teilt, allerdings entlang der katholisch/orthodoxen Linie, und dessen kleine Nationen er als typische Elemente eines Mitteleuropas, kulturell im Westen und politisch im Osten sieht. Seine Vorstellungen hinsichtlich des europäischen Romans haben jedoch nicht überall Zustimmung gefunden, nicht zuletzt bei seinem berühmten Dichterkollegen, Vaclav Havel. Milan Kunderas Weltsicht zeigt hier klar die Probleme der Begriffsbestimmung im Fall Okzident und die identitätsstiftende Funktion von Sprache und Nation.

Zwei weitere Beiträge befassen sich mit der Tschechischen Republik in Literatur und Politik. Dorothea Müllers Abhandlung über Karel Capeks Auseinandersetzung mit der amerikanischen Kultur beginnt mit einer historischen Darstellung der deutschen und französischen Einflüsse auf das tschechische Geistesleben. Capeks Interesse für die anglo-amerikanische Kultur, die er von der kontinental-europäischen unterscheidet, ist sowohl im Pragmatismus als auch im Individualismus begründet. Da Capek nie in den USA war, ist seine Okzidentalisierungsfunktion sehr ambivalent und ähnlich der Wirkung mancher Aufklärer.

Im anschließenden Beitrag von Martina Winkler wird ein weiteres Element der Okzidentalisierung, Fortschritt, anhand dreier tschechischer Politiker, Masaryk, Radl, und Mares, kritisch beleuchtet. Alle drei Staatsmänner beanspruchen den Fortschritt als Kernelement der tschechischen Nation für sich, jedoch in historischer Sicht und oft als Gegensatz zur Moderne. Der scheinbare Widerspruch Fortschritt: ja - Moderne: nein kann hier als weiteres Beispiel der ambivalenten Einstellung zur Okzidentalisierung dienen.

Katja Seiler führt eine psychoanalytische Komponente ein in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der Moderne anhand Tschechovs Kirschgarten. Jenseits der Individualismus-Kollektivismus-Dichotomie bringt sie Begriffe wie Doppelbindung und orale Ambivalenz zur Deutung, die den Gegensatz zwischen traditionell-feudal und modern-kapitalistisch interpretieren. Die apokalyptische Kritik an der Moderne gipfelt jedoch in der mißglückten Individualisierung der Charaktere.

Die nächsten drei Beiträge befassen sich mit politischen Aspekten der Okzidentalisierung. Diane Wogawa beschäftigt sich mit den ambivalenten Ansätzen der Sozialstaatskritik seit Beginn der modernen Industriegesellschaft. Im besonderen werden neoliberale Argumente durchleuchtet und als widersprüchlich eingestuft, da die darin enthaltenen Modernitätsvorstellungen mit der Realität der gesellschaftspolitischen Entwicklung nicht im Einklang stehen. Im darauffolgenden Beitrag wird ein Politikum anderer Art verhandelt: das deutsche Beamtentum. Durch die Vereinigung der beiden Verwaltungssysteme wurde ein Akkulturationsprozeß, eine Resozialisation eingeleitet, welche die unterschiedlichen Institutionskulturen aufeinanderprallen ließ.

Im letzten Beitrag beleuchtet Susann Weien die Transformationsprozesse in der Russischen Föderation, in denen traditionell Moskau-orientierte zentralistische Strukturen teilweise durch regionale politische und wirtschaftliche Autonomien ersetzt werden. Als Konfliktbereiche werden die Verhältnisse Zentrum-Region, Stadt-Gebiet, und Regionalpolitik - Wirtschafts- und Finanzstrukturen besprochen. Die Ambivalenzen der Okzidentalisierung sind hier in den Verhandlungen zwischen der ehemaligen Zentralmacht und den erfolgreichen Gebieten zu finden.

Der vorliegende erste Band Zugänge und Zugriffe der neuen Serie Ambivalenzen der Okzidentalisierung bietet sowohl Fachleuten in den Bereichen vergleichende Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft, und Politikwissenschaft eine theoretische Grundlage mit einer breiten Palette unterschiedlichster Anwendungsbereiche als auch am Thema interessierten Vertretern aller Geistes- und Sozialwissenschaften wertvolle Anhaltspunkte und Denkanstösse. Gemäß seiner Entstehungsgeschichte als Tagungsbericht des interdisziplinären Promotionskollegs integriert der Band die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Fremdheitsforschung/ Akkulturationswissenschaft aus der Sicht verschiedenster Disziplinen, wobei die kritische Selbstreflexion und multiperspektivische Bearbeitung im Sinne der theoretischen Kapitel ein Hauptelement darstellt.

Der einzige Vorbehalt einer etwas einseitigen Darstellung des Forschungsstandes wird dadurch ungültig, daß die Herausgeberin verspricht, im nächsten Band dieser Folge mehr über die Rückwirkungen dieser Okzidentalisierungstendenzen auf den Okzident zu bieten und Beiträge aus anderen Regionen zu sammeln. Auf diesen Band darf man sehr gespannt sein. Der erste Band dieser Serie stellt jedenfalls einen wichtigen ersten Schritt in Richtung kritische Selbst- und Fremdreflexion in der Forschung dar.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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