M. Ott u.a. (Hrsg.): Denken des Raums in Zeiten der Globalisierung

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Titel
Denken des Raums in Zeiten der Globalisierung.


Herausgeber
Ott, Michaela; Uhl, Elke
Reihe
Kultur und Technik 1
Erschienen
Münster 2005: LIT Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Micha Braun, Graduiertenkolleg "Bruchzonen der Globalisierung", Universität Leipzig

Der vorliegende Sammelband fasst die gleichnamige Tagung am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung an der Universität Stuttgart aus dem Jahr 2004 zusammen. Er besteht mit großer Geste auf einem interdisziplinären Zugriff auf sein Thema. Das verwundert kaum – steht doch der so genannte 'spatial turn' für einen tatsächlich umwälzenden Paradigmenwechsel in einer Vielzahl an Disziplinen. So finden sich unter den 21 Beiträgen neben Ansätzen aus den Sozial-, Kunst- und Kulturwissenschaften unter anderem auch Texte von Geographen, Ökonomen, Juristen, Physikern, Architekten, Künstlern und Psychologen.

Ein zunächst wenig definiert bleibender Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass der zuvor als homogen angenommene Raumbegriff der Moderne vor allem durch Prozesse der Globalisierung zunehmend in Frage gestellt wird und Alternativen dazu gesucht werden müssen. Was genau aber die Herausgeberinnen unter beiden Begriffen und ihrer Beziehung zueinander verstehen, bleibt beim Lesen unklar.

Der einführende, sich aber nicht als Einleitung verstehende, Beitrag „Dimensionen des modernen Raumbegriffs“ der Ästhetik-Philosophin und Publizistin Michaela Ott unternimmt einen Rundgang durch die Theorien und Denkmodelle des 20. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen naturphilosophischer Raumskepsis und soziologisch grundierten Raumparadigmen moderner Welterfahrung. Ver- und Enträumlichung in Kunstgeschichte, Naturwissenschaft, Soziologie und Medientheorie geben einen Einblick in die hegemonialen Paradigmen und ihre Erschütterungen seit Ende des 19. Jahrhunderts. Otts These, dass es zuvor keinen ausdrücklichen Raumbegriff, sondern nur eine latente Raumerfahrung gegeben habe, die sich in keiner expliziten Theoriebildung manifestiert habe, dominiert geradezu den gesamten Band. Dadurch werden jedoch für die weitere Betrachtung alle vormodernen bzw. die Moderne begründenden Modelle und Prozesse ausgeschlossen, wie zum Beispiel der paradigmatische Wechsel von der Flächen- zur zentralperspektivischen Malerei, die kopernikanische Wende in der Wahrnehmung von Welt und Kosmos oder gar die Entwicklung der Kartographie als Medium der Welterfassung. Das macht den Band zwar nicht weniger lesenswert, doch beraubt es ihn einer ganzen Reihe kulturhistorischer Reflexionsmöglichkeiten. Denn all diese epochalen, immer auch (macht-)politische Implikationen in sich tragenden Entfaltungen von Raumbeziehungen und -bestimmungen hätten als Bezugspunkte womöglich gerade für die gegenwärtigen Diskussionen um die Beziehungen von Raum und sich globalisierender Welt einen großen Gewinn bedeutet. Dafür bedürfte es jedoch einer gemeinsamen Methode der Historisierung von Begriffen und Kategorien. An der Formulierung einer solchen Herangehensweise aber mangelt es dem Band.

Paradigmatisch für die Singularität der Beiträge ist ein Text des brasilianischen Publizisten und Theaterpraktikers Peter Pál Pelbart zu ästhetischen Erfahrungswelten und künstlerischen Strategien in sich derzeit verändernden Raumwahrnehmungen. Unter dem Titel „Agonistische Räume und kollektive Biomacht“ fragt der Autor ausgehend von Sozialverhalten und Körperpolitiken in brasilianischen Favelas nach Alternativen zur kapitalistisch geprägten Subjektproduktion in urbanen Lebenszusammenhängen. Auf der Suche nach anderen Lebens- und Arbeitsformen, nach Techniken der Selbstwertschätzung und Wertschätzung Anderer stößt er auf subalterne Taktiken der von neoliberalen Kapitalismuskonzepten Ausgeschlossenen und anderer prekärer Existenzen. Diesen auf Subsistenz ausgerichteten Formen der gelebten Kontingenz und der unausgesetzten (An-)Verwandlung des Lebensraums Favela mit seinen labyrinthischen Architekturen von Nähe und Distanz schreibt er ein Raumverständnis jenseits von kapitalistischen Territorialisierungen und Besetzungen zu und mithin das Aufgeben überhaupt der Utopie von der Beherrschbarkeit des Raumes. Dieses versucht er in künstlerischen Reaktionsbildungen, die die symbolischen Systeme des Verhaltens in diesen Lebensräumen darstellbar machen und zugleich auf sie zurückwirken, nachzuweisen.1 Die hier festgehaltene Aussetzung des modernen – in Pelbarts Lesart zutiefst kapitalistischen – Raumverständnisses bleibt in ihrer Radikalität allerdings singulär, da sie zwar ein Infragestellen des hegemonialen Raumbegriffs konstatiert, ihr ein grundlegendes Verständnis von der Historizität dieses Begriffs aber fehlt.

Die breite Auswahl an Autoren eröffnet trotz der fragwürdigen und unbegründeten Klammer ‚Globalisierung’ ein spannendes Feld an aktuellen Auseinandersetzungen mit dem eingangs konstatierten Raumbegriff der Moderne. Der Medienwissenschaftler Stephan Günzel verfolgt beispielsweise seine Idee einer „Archäologie des Raumes“, die er wesentlich im Spannungsfeld zwischen phänomenologischer und strukturalistischer Modelllehre betreibt. Deren (hier zu verkürzendes) grundverschiedenes Verständnis von Raum als einmal Subjekt und Leib fokussierende Örtlichkeit (Raum, Platz) und andererseits als objektbezogene Topologie und Relation (spatium) führt Günzel auf ihre jeweiligen Ursprungsphantasmen zurück und weist damit deren Grenzen auf. Während die Phänomenologie ihren „Ursprung [den Boden nämlich] schon als invariant setzt, bevor sie ihn gefunden hat“ (S. 30), stößt die strukturalistische, fortgesetzte Raumproduktion auf eine vermeintlich unverrückbare Kontingenz. Günzels abschließendes Plädoyer für eine umfassendere Archäologie des Raums als Lebenswelt prägenden Begriff lehnt sich dabei an die Forderung Michel Foucaults an, Raumverhältnisse nach ihren historischen Schichten zu untersuchen.2 Somit setzt sich der Autor zumindest für eine Historisierung des modernen Raumbegriffs ein.

Der Philosoph und Politikwissenschaftler Jens Badura lotet die Aporien des Phantasmas eines territorial besetzbaren Raumes aus. Ausgehend von „Unbesetzbare[n] Räume[n]“, neutralen Orten der Begegnung und kulturellen Aushandlung von Identität, tritt er für einen Modus der ‚kulturellen Alienität’ ein: des Zulassens einer Konfrontation mit dem Anderen ohne vorherige Determination dieser Begegnung durch fertige Eigen- und Fremdbilder. Damit eröffnet er Ausblicke auf Räume, die sich sowohl einer Territorialität als auch einer vorgegebenen ethischen Verbindlichkeit entziehen. Vielmehr sollte dieses vorgängige und störende Dritte einem „Modus des aufeinander Verwiesenseins“ (S. 55) von nomadischen Existenzformen weichen, welche die stetige Bereitschaft zur Transformation aufbringen. Ungeachtet der Frage nach der Realisierbarkeit solcher utopischen „Bereitschaft zur wechselseitigen Einladung“ der Akteure markiert Badura damit die gleichsam fundamentalistische Strukturierung jeglichen Konzepts von kulturell besetztem Raum. Denn der Bezug auf ein Vorgängiges, die Begegnung der Akteure Vorausbestimmendes – wie kollektive Identitäten, ethische Normierungen, universalistische Sprachregelungen – bedeutet immer auch eine Referenz auf etwas Übergeordnetes, Ursprüngliches, letzthin Fiktives und bedarf der metaphysischen Begründung.

Der Sozialgeograph Benno Werlen fügt diesen Theoriemodellen mit seinem Beitrag „Andere Zeiten – Andere Räume?“ einen spannungsreichen Überblick über alltägliche Prozesse des ‚Geographie-Machens’ hinzu. Mit dem Konstatieren der zunehmenden Auflösung territorialer Bindungen und räumlicher Kämmerungen ist es für ihn nicht getan. Er widmet sich den Potentialitäten, Risiken und Reaktionsbildungen solcher oft auch diskursiv hervorgebrachten Prozesse. Mit der Konzentration auf handlungsbezogene Raumkonzeptionen sowie den dazugehörigen Praktiken der Produktion, Normierung und Kommunikation von Raum gerät für Werlen die Frage nach den Folgen für Welt-Bindung und Weltbild-Konzeption in den Mittelpunkt. Im Fazit plädiert er für eine Überwindung des noch immer vorherrschenden Container-Modells von Raum im Bereich des Konfliktmanagements. Ein solches Konzept eines fachspezifischen In-Beziehung-Setzens von zeitgenössischen reflexiven Prozessen mit resultierenden Raumvorstellungen wäre dem Band öfter zu wünschen gewesen, damit tatsächlich ein interdisziplinärer Dialog in Gang hätte kommen können.

Spätestens mit diesem Beitrag verliert der Band dann auch deutlich an Konsistenz und gibt sich den konstatierten Raum-Vielheiten hin. In der gewünschten Verbindung von Überblicksartikeln und Einzelfallanalysen verliert der Leser leicht die Orientierung, ohne dass ihm eine Leitfrage oder zumindest eine erkennbare Strukturierung der Beiträge an die Hand gegeben werden.

Es folgen in der Mehrzahl sehr spannende Solitäre aus den unterschiedlichsten Disziplinen, die ihre Auffassung eines (spät-)modernen Raumbegriffs zu fassen suchen und dabei die geisteswissenschaftliche Debatte um viele Einzelfragen erweitern. So widmet sich der Jurist Alexander Proelß den Grenzen des auf Kategorien territorialer Souveränität angewiesenen Völkerrechts, die in der Herausforderung durch nicht-territorial situierte Phänomene aufscheinen. Der Wirtschaftswissenschaftler Volker Wiedemer fragt nach dem ökonomischen Interesse am Raum als Nutz- und Entfernungsraum sowie seine wohlfahrtsstaatliche Relevanz im Zuge von Veränderungsprozessen auf regionaler und städtischer Ebene. Die Physiker Günter Wunner und Georg Schiemann geben Einblick in physikalische und physikhistorische Raumvorstellungen und deren oftmaliger Differenz zur ‚lebensweltlichen’ Raumerfahrung.

Allerdings werden die sicherlich intendierten Synergieeffekte interdisziplinärer Forschung zwischen solchen und weiteren Beiträgen nicht ausgeschöpft, da es schlicht keinen gemeinsamen Ansatz außer einer vagen Formulierung von Pluralität gibt.

Immerhin einen Blick zurück in die vormoderne Strukturierung von Raumwahrnehmung wagt der Philosoph und Medienwissenschaftler Alberto Carillo Canán mit seinem Text „Kulturraum und mediale Konstruktion“. Ausgehend von Marshall McLuhans medienanthropologischer Unterscheidung oraler von schriftgeprägten Kulturen vollzieht Canán grundlegende Bedingungen des Raumverständnisses anhand seiner medialen Konstruktion nach. Sei die Raumerfahrung oraler, schriftloser Kulturen wesentlich akustisch geprägt und weise eine rhythmische Strukturierung sowie eine „atomistische Auffassung der Bedeutung“ (S. 144) in der Kommunikation auf, so erführe sie mit dem Aufkommen alphabetisch-sequentieller Sinnübermittlung in Schriftkulturen eine grundlegend andere Strukturierung: Visualität, Sequentialität und Einbettung des Sinns in ein Sprachganzes bedingten einen linearen Raum, der überhaupt erst rein kommunikativ erfassbar wird, aber in der Konsequenz auch eine Verunendlichung erfährt. Diese fundamentale anthropologische Differenzierung ersetzt zwar keine Historisierung des Raumbegriffs, weist jedoch die Bedingtheit jeden Modells von Raumvorstellung und Raumerleben auf und stellt die Absolutsetzungen eines modernen Verständnisses vom homogenen Raum noch einmal grundsätzlicher in Frage, als es viele zeitgenössische Raumvielheitentheorien vermögen.

Es muss leider der Schluss gezogen werden, dass die sicher hoch zu schätzenden Leistungen der einzelnen Autoren in ihrer Relevanz für die Frage nach Raumbezügen und Raumvorstellungen in einer globalisierten Welt – wie lässt sich diese denn fassen, nachdem der Container seine Erklärungshoheit verloren hat? – kaum zur Geltung kommen.

Zumindest der Abdruck von im Rahmen der Tagung stattgehabten Diskussionen hätte hier zum Aufzeigen von Relevanzbezügen verwandt werden können. So stehen die Beiträge in ihrer Einzelheit einigermaßen verloren da und geben einen Eindruck von der Kontingenz des Themas.

Anmerkungen:
1 Allerdings bleibt zu fragen nach der Trennung von künstlerisch-medialen und sozialen Räumen, auf die Differenz von Kunst und ‚Wirklichkeit’. Unabhängig davon, ob die von Pelbart ausgerufenen heterotopen Orte und Räume schon Realität oder noch Utopien sind: Allein die Zielstellung lässt stutzen. Sehr schnell taucht hier nämlich die Frage nach der jede Gemeinschaft herausfordernden aber eben auch erst konstituierenden Gewalt auf. In diesem Punkt bleibt Pelbart merkwürdig unbestimmt und setzt sich darüber hinaus dem Vorwurf des Kulturalismus aus.
2 Fortgesetzt und mit einer Fülle an Material ausgestattet hat Stephan Günzel das Vorhaben seiner Raumarchäologie zum Beispiel im kürzlich zusammen mit Jörg Dünne herausgegebenen Band: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hrsg. v. Jörg Dünne u. Stephan Günzel in Zusammenarbeit mit Hermann Doetsch u. Roger Lüdeke, Frankfurt am Main 2006.

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