H. Fenske: Der moderne Verfassungsstaat

Titel
Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert


Autor(en)
Fenske, Hans
Erschienen
Paderborn 2001: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 46,40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Martin Kirsch

Die vergleichende Verfassungsgeschichte scheint in der letzten Zeit in Deutschland eine kleine Konjunktur zu erleben: Nachdem vor zwei Jahren Wolfgang Reinhard seine „Geschichte der Staatsgewalt“ vorgelegt hat1, zieht nun sein Freiburger Historikerkollege mit einer Darstellung der Entwicklung des modernen Verfassungsstaates bis zum Beginn des 20. Jhs. nach.
Hans Fenske legt seinen Schwerpunkt in den Bereich, der bei der Reinhardschen Analyse am schwächsten ausgearbeitet war, indem er den Verfassungsstaat vornehmlich im 19. Jh. in den Mittelpunkt rückt, denn etwa 450 der knapp 600 Seiten des Opus konzentrieren sich auf diesen Zeitraum. Sein Interesse gilt dabei einem Gegenstand, der seit dem großen Werk von Carl Joachim Friedrich aus den 1950er Jahren2 in dieser Breite nur noch wenig Beachtung fand, denn ähnlich wie bei Reinhard bleibt auch etwa in den neueren Darstellungen von Michael Mann3 oder Martin van Creveld4 das Verhältnis von Verfassungsrecht und Herrschaft in Machtgefüge des Staates deutlich unterbelichtet.

Ein wichtiger Verdienst kann und soll dem Werk Fenskes sicherlich nicht abgesprochen werden: der Mut zur Einbeziehung aller Länder der Welt, die im Verlaufe des 19. Jhs. eine Konstitution erließen. Sein Blick reicht dabei von den mittelalterlichen Wurzeln des modernen Verfassungsstaates in Europa über die Entwicklungen in England und Nordamerika bis zum Ausgang des 18. Jhs. (Kapitel II-IV), um mit Beginn der französischen Revolution dann alle europäischen Länder systematisch für das 19. Jh. durchzugehen (Kapt. VI-XIII), das Interesse gilt daraufhin der Entwicklung der USA von 1790 bis 1918, führt über die britischen Dominions auf dem ganzen Globus zu der Situation in Lateinamerika und gelangt schließlich zu den Anfängen des Verfassungsstaates in Asien (Kapt. XIV-XVII). Hierbei legt Fenske einen weiten Verfassungsbegriff zugrunde, der erfreulicherweise eine Kombination von politischen und rechtlichen Aspekten der Geschichte des Verfassungsstaates ermöglicht, wobei er zwar verschiedene Definitionen des Verfassungsstaates vorstellt, auf eine eigene genauere Definition jedoch verzichtet (S.1-4), was sich – wie unten noch zu zeigen sein wird – als deutlicher Nachteil erweist. Positiv zu vermerken ist hingegen, dass er zumindest bei der knappen Betrachtung der frühneuzeitlichen Entwicklung das Verfassungsdenken in die Darstellung miteinbezieht (Kap. V). Seine Bilanz (Kapt. XVIII) mit einer Einteilung der Welt in 10 verfassungspolitische Zonen mündet unter anderem in der Aussage, dass von einem verfassungsgeschichtlichen Sonderweg Deutschlands im 19. Jh. „keine Rede sein kann“ (S. 527).

Nun kündigt der Untertitel des Werkes eine „vergleichende Geschichte“ des modernen Verfassungsstaats an – diesem innovativen Anspruch, so muss leider festgehalten werden, wird das Buch, von wenigen Seiten in der Schlussbilanz abgesehen, in keine Weise gerecht. Fenskes methodischer wissenschaftlicher Ehrgeiz erschöpft sich damit weitgehend darin, die „Vielfalt [der einzelnen Staaten] vor Augen“ zu führen, „denn die Verhältnisse waren viel zu unterschiedlich, als dass man die Ausbildung des Verfassungsstaates leicht auf einen Nenner bringen könnte“ (S. XIII). Er reiht dementsprechend ganz konventionell die Geschichte eines Nationalstaates hinter diejenige des nächsten und verzichtet von vornherein auf Typisierungen. In der Beurteilung der jeweiligen nationalgeschichtlichen Entwicklung hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Geschichte des Verfassungsstaates schimmert dann aber doch hin und wieder ein impliziter Vergleich durch, nur dass er darauf verzichtet, seinen Vergleichsmaßstab offen zu legen – hier rächt sich der Verzicht auf eine eigene Definition des Verfassungsstaates. Die Diskussionen um den Begriff des Konstitutionalismus, sei es in der deutschen verfassungsgeschichtlichen, sei es in der internationalen Forschung, werden dementsprechend von Fenske getrost ignoriert (abgesehen von zwei Eintragungen im Sachregister). Diese fehlende begriffliche Schärfe, die er an anderer Stelle einem französischen Autor gerade zum Vorwurf macht (S. 225f.), bestimmt leider auch seinen Umgang mit zentralen Analysekategorien wie „Demokratie“ und „parlamentarisches System“. Nun könnte man ja die Geschichte des Verfassungsstaates weniger als eine vergleichende, sondern vornehmlich als eine Geschichte des Transfers schreiben. Doch auch diesen Zugang macht er sich kaum zunutze, denn den spannenden Fragen der Vermittlung und Verwandlung von Rechtsnormen unter anderen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen wird trotz des Verweises auf entsprechende Verfassungsvorbilder nicht näher nachgegangen. Seine Sympathie gehört letztlich einer liberalen Verfassung mit einfachen und übersichtlichen Regeln, wie er sie in den nordamerikanischen Urkunden oder in der spanischen Verfassung von 1812 zu erkennen meint (vgl. S. 177, 185, 207).

Dass Fenske mit dieser Grundhaltung der französischen Verfassungsgeschichte mit Ausnahme der Verfassung von 1791 eher skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, kann dann nicht mehr verwundern: „Seit 1792 gingen von Frankreich keine fruchtbaren Impulse mehr aus. Jetzt lösten [bis 1814] Diktaturen einander ab...“ (S. 185). Mit dieser Fehleinschätzung der Direktorialherrschaft als Diktatur steht Fenske indes in der Literatur allein – ob das vielleicht daran liegt, dass er etwa die neueren französischen Forschungen5 zur Verfassung von 1795 nicht weiter beachtet hat?, beschränken sich doch seine bibliographischen Angaben, die uns als einziger Beleg dienen könnten, da die Fußnoten im Gesamtwerk allein für den Nachweis der angeführten Zitate verwendet werden, auf weitgehend deutschsprachige Literatur bis 1989 (S. 545). Fenskes undifferenzierte Anwendung des Diktaturbegriffs des 20. Jhs. wird zudem auch nicht der Verfassungswirklichkeit der Herrschaft Napoleon Bonapartes bis 1804/10 gerecht, war doch der Erste Konsul und später Kaiser bei der Gesetzgebung auf die Mitwirkung des Parlamentes angewiesen, die ihm auch bei einigen Gesetzesprojekten verweigert wurde6.

In seiner Bilanz des Werkes macht Fenske für die Welt zehn verfassungspolitische Zonen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs aus: 1. Großbritannien, 2. Frankreich, 3. Nord- und Mitteleuropa, 4. die Donaumonarchie und Italien, 5. die iberische und die Balkanhalbinsel, 6. das Zarenreich, 7. die USA, 8. die britischen Dominions, 9. Lateinamerika und schließlich 10. Asien. Wie plausibel ist nun der Einteilungsversuch? War etwa Frankreich tatsächlich ein „sehr eigenständige[r]“ Raum (S. 517) der Verfassungsentwicklung? Blicken wir etwa auf ein zentrales Element des Verfassungsstaates im 19. Jh., nämlich das dualistische Wechselspiel von Monarch und Parlament, so unterlag Frankreich nicht einer Sonderentwicklung, sondern wurde im Gegenteil aufgrund seiner unterschiedlichen Verfassungsexperimente das Modell für einen in beinahe allen Ländern Europas verbreiteten Verfassungstyp des monarchischen Konstitutionalismus mit seinen drei unterschiedlichen Erscheinungsformen (1. mit Dominanz des Monarchen bzw. 2. des Parlaments oder aber 3. mit bonapartistischer Prägung). Für Fenske bilden die Länder Mittel- und Nordeuropas eine „Zone kontinuierlicher Verfassungspolitik und des regelmäßigen Wachstums liberaler Strukturen“ (S. 517). Fenske übersieht hierbei etwa die deutlichen Unterschiede der Verfassungsentwicklung in Skandinavien (starke ständische Prägung in Schweden zwischen 1809 und 1866, frühes starkes Parlament in Norwegen ab 1814 und späte Durchsetzung des Verfassungsstaates in Dänemark ab 1849 mit starkem Monarchen bis 1901), ganz zu schweigen von der gänzlich anderen schweizerischen Tradition einer föderalen, direktdemokratischen Republik innerhalb einer Zone, die ansonsten nur Monarchien kannte. In Fenskes vierten Gruppe (Donaumonarchie und Italien), die sich durch ein anfangs lange Stagnation und ein später „beschleunigtes Fortschreiten“ (S. 517) auszeichnete, gehörten nach den eben genannten Kriterien dann auch Preußen und Dänemark mit ihrem erst 1848 vollzogenen Übergang zum Konstitutionalismus. Äußerst fraglich bleibt es auch, wie sinnvoll es ist, zwei Länder wie Spanien und Bulgarien in einer Zone vereinigen zu wollen, wo das erstere seit 1812 immer wieder längere Phasen der Verfassungsstaatlichkeit erlebte, während das zweitgenannte erst 1879 seine erste Konstitution erhielt. Schließlich ist auch die Kategorie „Asien“ wenig überzeugend, denn während Japan und das Osmanische Reich zum Ausgang des 19. Jhs. begannen, mit Hilfe einer Konstitution sich zu modernisieren, kam es im Iran und in China, die Fenske auch dieser Zone zuordnet, gerade nicht zu dieser Entwicklung.

Nach Fenskes Auffassung gab es nur zwei Ausprägungen des Verfassungsstaates: die ältere der „konstitutionelle[n] Monarchie“ und die jüngere „der Demokratie“(S. 525), wobei er Demokratie hier als Vorhandensein des allgemeinen [Männer]Wahlrechts und der Regierungsbildung nach der Mehrheit im Parlament „definiert“. Damit geschieht zweierlei: erstens wären damit die USA kein Verfassungsstaat, da sie als Präsidialsystem eine andere Art der Regierungsbildung vorsieht (was Fenske nicht davon abhält sie aber trotzdem der zweiten Stufe zuzuordnen) und zweitens vermischt er die Definitionen von Demokratie und parlamentarischen System, was der Analyse dieser beiden in vielen Ländern Europas getrennt verlaufenden Prozesse nicht gerade dienlich ist, denn erklärungsbedürftig bleibt gerade, warum etwa die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts deutlich vor der Parlamentarisierung (so in Frankreich, Deutschland, Dänemark und Griechenland) zu unterschiedlichen Verfassungssituationen zu Beginn des 20. Jhs. führten. Ein sicherlich richtiger Hinweis Fenskes ist, dass in den Staaten ohne überkommene historische Strukturen (USA, britische Dominions) die Durchsetzung von verfassungsstaatlichen Strukturen einfacher war als in den europäischen Staaten, wo insbesondere bedeutende Adelsgruppen in vielen Ländern oder in der Schweiz auch die alten Patrizier eine hemmende Rolle übernahmen (womit die relativ harmonische norwegische Entwicklung seit 1814 ohne Adel erklärlich erscheint). Ob die wirtschaftlichen Strukturen im Unterschied zum Bildungsgrad einer breiteren politischen Elite wirklich eine geringe Rolle spielten, wie Fenske vermutet, bedürfte genauerer Forschungen. Ohnehin scheint es zum jetzigen Zeitpunkt des wissenschaftlichen Kenntnisstandes sinnvoller, statt eine vorschnelle Einteilung der Welt in Verfassungszonen zu betreiben, ausführliche Vergleiche zu spezifischen Aspekten des Verfassungsstaates (wie z.B. Wahlrecht, Grundrechte, Überformung der Verfassungsnormen durch Klientelismus, Parteienbildung) durchzuführen und erst in einem zweiten Schritt dann Gruppen von ähnlichen oder sich unterscheidenden Staaten zu bilden.

Nicht unproblematisch ist schließlich Fenskes chronologische Entscheidung den ersten Weltkrieg als abschließende Zäsur zu wählen. Befand sich Frankreich verfassungsgeschichtlich betrachtet nicht bereits seit 1877/79 im 20. Jh.? Was veränderte sich im Verfassungssystem Belgiens grundlegend durch die Zeit von 1914-18 (außer das Albert I. durch sein militärisches und politisches Engagement an die Tradition eines starken Königs aus der Zeit Leopold I. ab 1831 anknüpfte)? Ging Großbritannien erst mit der Parlamentsreform von 1911 ins 20. Jh. über? Und endete die 1848 einsetzende Epoche des konstitutionellen Königtums in Piemont-Italien nicht erst 1922? Die von Fenske für den chronologischen Schnitt zugrundegelegten Kategorien bleiben damit weitgehend undurchsichtig.

Fenskes Werk ist nur denjenigen zu empfehlen, die eine erste Orientierung zur jeweiligen verfassungshistorischen Entwicklung der konstitutionalisierten Nationalstaaten im 19. Jh. suchen (hierbei müssen die Leser zudem leider häufig auf die neuere Literatur der 1990er Jahre zu dem Land verzichten) – das Potenzial des Themas (wie es von den von Fenske in Kapt. 1 vorgestellten Vordenkern einer vergleichenden Verfassungsgeschichte von Jellinek über Hintze bis zu Max Weber aufgezeigt wurde) schöpft er in keiner Weise aus. Eine vergleichende Geschichte des modernen Verfassungsstaates bleibt damit nach wie vor ein Desiderat der Forschung.

Anmkerungen:
1 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999.
2 Carl Joachim Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin usw. 1953 (amerik. Ausg. Boston 1941: Constitutional Government and Democracy)
3 Michael Mann, Geschichte der Macht, Bd. 3,1: Die Entstehung der Klassen und Nationalstaaten, Frankfurt/New York 1998 (englischen Originalausgabe Cambridge 1993).
4 Martin van Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates, München 1999 (engl. Orig. Cambridge 1999).
5Vgl. etwa: Roger Dupuy/Marcel Morabito (Hg.), 1795. Pour une République sans Révolution, Rennes 1996.
6 Irene Collins, Napoleon and his Parliaments, 1800-1815, London 1979, S. 30ff., 36ff., 59ff., 65f.

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