P. Haber: Die Anfänge des Zionismus

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Titel
Die Anfänge des Zionismus in Ungarn 1897-1904.


Autor(en)
Haber, Peter
Reihe
Lebenswelten osteuropäischer Juden, 8
Erschienen
Köln 2001: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
196 S.
Preis
€ 25,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heidemarie Petersen, Geisteswissenschaftliches Zentrum, Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas

Die Historiographie der ungarischen Juden, gleich, wo sie geschrieben wurde und wird, krankt seit jeher an einer einseitigen Ausrichtung auf die Paradigmen und Wertvorstellungen des assimilierten, hauptstädtischen Judentums. Aus der übermächtigen Budapester Perspektive geraten die Peripherien nur selten in den Blick: weder gibt es eingehendere Untersuchungen zu den Judenheiten anderer Landesteile (allenfalls mit Ausnahme des bis 1920 zu Ungarn gehörigen Siebenbürgens, wo schon früh eine eigene jüdische Historiographie entstand); noch hat man sich bislang ausführlicher den Binnendifferenzierungen und Dissidenzen zugewandt.

Dies gilt auch für den Zionismus: in Ungarn - immerhin Heimat der zionistischen Vordenker Theodor Herzl und Max Nordau - habe es den, so ein Gemeinplatz der Forschung, eigentlich nicht gegeben. Nur eine der neueren Synthesen ungarisch-jüdischer Geschichte widmet sich dem Thema ausführlicher 1. Der 1996 verstorbene Autor Raphael Patai war freilich selbst Zionist und Sohn des langjährigen Herausgebers der kulturzionistischen Zeitschrift "Múlt és Jövő" ("Vergangenheit und Zukunft"), József Patai. Andere handeln das Thema jeweils auf wenigen Seiten ab 2. Als monographische Studie liegt lediglich eine 1970 veröffentlichte amerikanische Dissertation vor 3.

Diesem Mangel will der an der Universität Basel tätige Historiker Peter Haber mit seiner Studie abhelfen, die im Umfeld der 1997 in Basel gezeigten Ausstellung "Hundert Jahre erster Zionistenkongress" als Lizenziatsarbeit entstanden ist. In drei, erfreulich klar und lesbar geschriebenen, Kapiteln widmet sich Haber zunächst den organisatorischen Anfängen der zionistischen Bewegung, sodann einigen Gegenstimmen und abschließend der Einordnung in den allgemeinen Kontext ungarisch-jüdischer Geschichte um 1900. Der zeitliche Rahmen reicht vom ersten Zionistenkongreß 1897 bis zum Tode Theodor Herzls 1904.

Damit folgt Haber der einschlägigen Periodisierung der internationalen zionistischen Bewegung, wenngleich im ungarischen Kontext auch andere Zäsursetzungen denkbar wären - etwa der Übertritt von Samu Bettelheim, eines der Protagonisten des ungarischen Frühzionismus, zur antizionistischen Agudat Israel zu Beginn des Ersten Weltkrieges.

Im selben Jahr 1897, in dem der erste Zionistenkongreß in der Schweiz stattfand, erschien in der siebenbürgischen Kleinstadt Balázsfalva in deutscher Sprache eine Broschüre des Juristen János Rónai mit dem Titel "Zion und Ungarn". Zur gleichen Zeit formierte sich innerhalb der Studentenschaft der orthodoxen Talmudhochschule von Pozsony (Preßburg) ein "zionistischer Minjan" (so dessen Initiator Samu Bettelheim), der wenige Monate später in die Gründung des Vereins "Ahavat Cion" ("Zionsliebe") mündete. Im August 1898 soll es in ganz Ungarn bereits über dreißig zionistische Ortsvereine gegeben haben, davon die meisten in Siebenbürgen, Oberungarn (der heutigen Slowakei) und der im äußersten Nordosten gelegenen Provinz Máramaros. Zum Zentrum des ungarischen Frühzionismus avancierte Pozsony, wo 1903 die erste Landeskonferenz der ungarischen Zionisten und 1904 gar der erste Weltkongreß des Misrachi, der Organisation des religiösen Zionismus, stattfand. Der Zionismus hatte in Ungarn also einerseits eine starke religiöse Komponente und war andererseits ein Provinzphänomen, während sich in der Hauptstadt Budapest kennzeichnenderweise erst 1902 ein zionistischer Verein konstituierte. Aus Budapest kam zugleich die vehementeste Kritik an der neuen Bewegung. Haber stellt diese anhand ausgewählter Artikel der Zeitung "Egyenlőség" ("Gleichheit"), dem wichtigsten Organ des assimilierten jüdischen Bürgertums, dar. Das Blatt, so Haber, unterstützte nachdrücklich "die Bestrebungen für eine Magyarisierung der ungarischen Juden" (94). Der Hauptvorwurf seiner Autoren richtete sich denn auch gegen eine Nationalisierung des Judentums in Gestalt des politischen Zionismus: "Es gibt nur ein Judentum <...> doch ein jüdisches Volk gibt es nicht", konstatierte etwa Ödön Gerő im Juli 1897 (99). Gleichwohl unterstützten auch die Kritiker des Zionismus die Idee, den verfolgten Juden Osteuropas in Palästina eine Heimstatt zu schaffen - nur war ihnen dies keine Option für das ungarische Judentum, denn "wir haben unsere gesegnete ungarische Heimat, wir suchen keine neue", wie Adolf Silberstein, ein anderer Autor des "Egyenlőség", betonte (96). Dieser ausgeprägte magyarische Patriotismus war indes auch den Zionisten nicht fremd und wurde an vorderster Stelle in den Statuten der Ersten Zionistischen Landeskonferenz von 1903 verankert: “Die ungarischen Zionisten wollen nicht als politische Nationalität gelten und keine Nationalitätenpolitik in Ungarn treiben” (56). Damit wird ein zentraler Punkt ungarisch-jüdischen Selbstverständnisses benannt, der offenbar über die verschiedenen Fraktionen hinweg Gültigkeit besaß und nach dem Ersten Weltkrieg dazu führen sollte, daß die ungarischen Juden nahezu geschlossen eine Unterstützung internationaler jüdischer Organisationen im Kampf gegen den Antisemitismus ablehnten.Haber nimmt diesen Befund zum Ausgangspunkt des letzten Kapitels seiner Darstellung, daß die Überschrift “Assimilationsvertrag und konstruierte Heimat” trägt. Darin rekapituliert er den historischen Hintergrund von Emanzipation und Verbürgerlichung des ungarischen Judentums und unternimmt zugleich den Versuch, unterschiedliche theoretische Modelle von Pierre Bourdieus “kulturellem Kapital” bis zu Maurice Halbwachs‘ “kollektivem Gedächtnis” auf die zuvor gemachten empirischen Aussagen zu applizieren.

Zur Beschreibung der Verbürgerlichungsprozesse greift er im wesentlichen auf die Erkenntnisse des ungarisch-französischen Soziologen Victor Karády zurück, der zu diesem Thema zahlreiche Studien vorgelegt hat und von dem der Begriff des “Assimilationsvertrages” stammt 4. Diesen an sich sehr informativen Abschnitt hätte man sich jedoch eher als Einleitungskapitel gewünscht. Warum Haber ihn zusätzlich mit der Bourdieu’schen Kapitaltheorie ummäntelt, ist nicht recht einsichtig; gegenüber den sehr präzisen sozio-historischen Beobachtungen Karádys bringt diese Operation - abgesehen von der modischen Begrifflichkeit - keinen Erkenntniszuwachs. Ähnliches gilt für den von Maurice Halbwachs geprägten Begriff des “kollektiven Gedächtnisses”, den Haber zur Erklärung der sozio-psychologischen Disposition des ungarischen Judentums zu Beginn des 20. Jahrhunderts heranzieht. Er liefert wenig mehr als eine abstrakte Formel dessen, was Karády (und an ihn anknüpfend Haber) mittels Empirie zu zeigen vermögen 5: daß es unter den Juden in Ungarn jenseits von Fraktionsbildungen ein ausgeprägtes Bewußtsein der Zugehörigkeit zur ungarischen Nation gab, so daß dort, wie es Theodor Herzl einmal ausdrückte, selbst der Zionismus ein “durchaus rot-weiß-grüner” war (53).

Nicht zu erhellen vermag Haber indes die entscheidende Frage, warum es in Ungarn dennoch einen Zionismus gab? Da er darauf leider nicht eingeht, verschenkt er letztlich die Möglichkeiten, die er sich mit der Rekonstruktion der zionistischen Anfänge eröffnet hat. Es hätte beispielsweise aufschlußreich sein können, den Blick von Budapest weg in die Provinz, in das unmittelbare Umfeld der Frühzionisten zu lenken. Daß das jüdische Bürgertum der Hauptstadt wenig Gefallen an der neuen Bewegung fand, kann kaum überraschen. Interessanter wäre es gewesen, ihre Aufnahme in Balázsfalva, Kassa oder Máramarossziget zu untersuchen. Auch dem Umstand, daß der religiöse Zionismus in Ungarn besonderen Anklang fand und die ersten zionistischen Ortsvereine häufig unmittelbar aus den Religionsgemeinden hervorgingen (54), hätte man mehr nachforschende Aufmerksamkeit gewünscht.

Es scheint, als sei Haber schließlich doch wieder den traditionellen Fixierungen der ungarisch-jüdischen Historiographie erlegen, von denen er sich zu Beginn seiner Studie abzusetzen angekündigt hatte. Sein Verdienst bleibt es, die Anfänge des Zionismus in Ungarn überhaupt zum Thema einer wissenschaftlichen Untersuchung gemacht zu haben. Zwar wirft das Buch am Ende mehr Fragen auf, als es beantwortet; aber das ist nicht das Schlechteste, was man von einer wissenschaftlichen Arbeit sagen kann. In jedem Falle liefert Haber einen wichtigen Impuls zur Neuperspektivierung der ungarisch-jüdischen Geschichte.

Anmerkungen:
1 Raphael Patai: The Jews of Hungary. History, Culture, Psychology. Detroit 1996.
2 László Gonda: A zsidóság Magyarországon 1526 – 1945 [Das Judentum in Ungarn 1526-1945]; François Fejtő: Hongrois et Juifs. Histoire millénaire d'un couple singulier Paris 1997.
3 Livia Bitton: A Decade of Zionism in Hungary. The Formative Years – the Post World War I Period: 1918 – 1928. Ann Arbor 1970.
4 Stellvertretend (wenn auch über Ungarn hinausreichend) sei hier seine vor wenigen Jahren in deutscher Sprache erschienene Darstellung: Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne. Frankfurt / Main 1999 genannt.
5 Auf die unzureichende historische Operationalisierbarkeit von Halbwachs‘ Modell des kollektiven Gedächtnisses hat u.a. Lutz Niethammer hingewiesen: Gedächtnislücke. Maurice Halbwachs und die Konstruktion des Traditionsgefühls. In: Ders.: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek b. Hamburg 2000, S. 314-366.

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