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Titel
Herrschaft nach Plan und Macht der Gewohnheit. Sozialgeschichte der Gewerkschaften in der SBZ/ DDR 1945-1953


Autor(en)
Stadtland, Helke
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A, Darstellungen 16
Erschienen
Anzahl Seiten
615 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friederike Sattler, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Fachbereich Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften

Mit ihrer Untersuchung zur Sozialgeschichte der Gewerkschaften geht Helke Stadtland der übergeordneten Frage nach, in welchem Verhältnis Transformation und Tradition beim gesellschaftlichen Wandel in der SBZ/DDR in den ersten Nachkriegsjahren zueinander standen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es vor allem die über die Mentalitäten vermittelten Kontinuitäten waren, die „überhaupt erst die Generierung des neuen Herrschafts- und Gesellschaftssystems der SBZ/DDR“ ermöglichten. (S. 541) Denn diese neue politische und gesellschaftliche Ordnung sei im Grunde genommen gar nicht so neu gewesen und habe von der Bevölkerung eine weit geringere Adaptionsleistung verlangt als die neue politische und gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik. Diese These unterstreicht – völlig zurecht – die Tatsache, dass es sich bei der DDR um eine Diktatur handelte, bei der in vieler Hinsicht an die prägenden Wirkungen von zwölf Jahren Nationalsozialismus angeknüpft werden konnte.

Und doch hat diese These etwas unerhört provozierendes: Sie führt zu der Schlussfolgerung, dass das demokratische Potenzial der Bevölkerung in Ostdeutschland geringer gewesen sein muss als das der Bevölkerung in Westdeutschland. Warum sonst sollten sich die gesellschaftlichen Kontinuitäten so unterschiedlich auf die Generierung eines neuen Herrschafts- und Gesellschaftssystems auswirken? Meine Vermutung: Die unterschiedlichen politischen Weichenstellungen waren wohl doch ausschlaggebender, als Helke Stadtland dies bei der Einordnung ihrer Erkenntnisse, die sie aus einer innovativen und insgesamt sehr fruchtbaren Herangehensweise an den Entwurf einer Sozialgeschichte der ostdeutschen Gewerkschaften gewonnen hat, in den größeren Rahmen konzediert. Ihr Bestreben, die starke „Gesellschaftsblindheit“ der totalitarismustheoretisch inspirierten Forschungskonzepte, denen es bisher nicht gelang, Phänomene des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder auch politischen Wandels innerhalb der kommunistischen Regime angemessen zu erklären, durch einen neuen, zugleich systemimmanenten und sozialgeschichtlichen Ansatz für eine „Verhaltens- und Konfliktgeschichte“ zu überwinden, führt sie zu einer tendenziellen Überbewertung des Beitrags der Gesellschaft zur Ausbildung der neuen politischen und gesellschaftlichen Strukturen.

Im besetzten Deutschland war es tatsächlich nicht die Gesellschaft selbst, mit all ihren immanenten Kontinuitäten, die über die Generierung eines neuen Herrschafts- und Gesellschaftssystems entschied, sondern hierfür waren ganz maßgeblich die von den Alliierten und ihren jeweiligen deutschen „Unterstützern“ politisch gesetzten Zäsuren verantwortlich. Erst in zweiter Instanz und vor allem auf längere Sicht gewann die gesellschaftliche Akzeptanz bzw. Ablehnung in Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung und die innere Stabilität des jeweiligen Herrschafts- und Gesellschaftssystems an Prägekraft. So wurde auch für die in den sechziger und siebziger Jahren unter den Stichworten „verhinderte Neuordnung“ und „unbewältigte Vergangenheit“ zeitweilig heftig geführte Debatte um Kontinuität und Wandel in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die den Weg in die Westintegration nicht ohne partielles Widerstreben gegangen war, von Werner Plumpe schließlich zusammenfassend die treffende These formuliert, „dass die politische Zäsur überhaupt nur gelingen konnte, weil sie sich auf eine eingespielte und routinierte ökonomische und administrative Kontinuität stützen konnte“. 1 In Anlehnung daran könnte als Ergebnis der Befunde von Helke Stadtland vielleicht formuliert werden, dieser Vorschlag sei erlaubt, dass die in der SBZ/DDR politisch gesetzten Zäsuren hier für eine beachtlich lange Zeit ohne noch größere innere Spannungen gehalten werden konnten, weil sie sich – neben anderen Faktoren, vor allem die durch die Sowjetunion beschränkte Souveränität und die Repressionsmittel – ebenfalls auf bestimmte Kontinuitäten, nämlich in diesem Fall die bei der jüngeren Generation ausgeprägten Mentalitäten, zu denen vor allem ideologischer Skeptizismus, politisches Desinteresse und eine starke Orientierung auf das persönliche Fortkommen zählten, stützen konnten. Kurz gesagt: Je nach Herrschafts- und Gesellschaftssystem kamen andere Kontinuitäten zum Tragen.

Unbenommen von diesem grundsätzlichen Einwand gegen die Einordnung und Bewertung der Ergebnisse kann die Untersuchung jedoch mit sehr viel Gewinn gelesen werden. Sie konzentriert sich – in wohlüberlegter und gelungener Begrenzung des Forschungsfeldes – auf den Zeitraum 1945 bis 1953, die beiden Branchen Kohlenbergbau und Chemieindustrie, die soziale Gruppe der Arbeiter und die betriebliche Ebene als zentralen Ort der Aushandlung von Kompromissen ebenso wie der Austragung von Konflikten.

Gegliedert ist die Untersuchung in drei größere Themenkomplexe. Im Kapitel „Strukturen, Interessengruppen und Kommunikationszusammenhänge in den Gewerkschaften“ werden zunächst die politischen Rahmenbedingungen für die Gründung, den Aufbau und die Transformation der Einheitsgewerkschaft, ihre Organisationsstrukturen, ihr Verhältnis zur Betriebsrätebewegung und zur SED, die Zusammensetzung des Funktionärskorps sowie die in- und externen Kommunikationsstrukturen dargelegt. Die grundsätzlich neue Ausrichtung der Einheitsgewerkschaft im Rahmen der sich etablierenden Planwirtschaft als wichtige wirtschaftspolitische Massenorganisation der SED kommt hier etwas kurz (was auch die späteren Ausführungen unter dem Aspekt der Stellung von Arbeitern, Betriebsräten und Gewerkschaften im Wirtschaftsystem der SBZ/DDR nicht ganz wettmachen können). Die Stärke dieses Kapitels liegt jedoch in einer – in dieser Tiefenschärfe bisher nicht vorliegenden – Darstellung des Verhältnisses von FDGB zu den ihm als unselbständige Abteilungen angegliederten Industriegewerkschaften. Stadtland arbeitet am Beispiel der IG Bergbau und der IG Chemie heraus, dass die Industriegewerkschaften im Zuge ihrer Transformation zu Bestandteilen einer einheitlichen Massenorganisation einen beachtlichen Selbstbehauptungswillen an den Tag legten, letztendlich jedoch nur äußerst wenig von den Traditionen ihrer historischen Vorläufer, des Bergbauindustriearbeiter- sowie des Fabrikarbeiterverbandes, bewahren konnten: In Hinblick auf Organisationsprinzipien, Kaderpolitik und Finanzhoheit mussten sie sich nach langem Tauziehen schließlich doch unterordnen. Wichtiges Ergebnis der Untersuchung zu den Kommunikationsstrukturen ist es, dass trotz Überwindung des Funktionärsmangels, massivem organisatorischen Ausbau auf über- und innerbetrieblicher Ebene, neuen Arbeitsmethoden sowie beständig intensivierter „Kontrolle der Durchführung der Beschlüsse“ eine wirksame Transmission zwischen den Vorgaben der Avantgarde-Partei und den Belegschaften nicht erreicht werden konnte.

Im Kapitel „Der FDGB und ‚seine‘ Arbeiter“ werden die soziale Zusammensetzung der Belegschaften nach den wichtigsten Sozialisationserfahrungen wie Krieg, Flucht, Vertreibung, Entnazifizierung, sozialer Wiederaufstieg oder Geschlecht, die soziale Lage und die Gerechtigkeitsvorstellungen der Arbeiter, des weiteren die innerbetrieblichen Machtbeziehungen unter den Bedingungen der neuen Wirtschaftsordnung samt den daraus resultierenden Handlungsspielräumen sowie die Erwartungshaltungen und Verhaltensweisen der Arbeiter gegenüber ihren Gewerkschaften und die Selbstbilder der Gewerkschaftsfunktionäre skizziert. Da bislang noch keine empirisch abgesicherten Kollektivbiographien von Betriebsbelegschaften in der SBZ/DDR erstellt wurden, bleiben die auf Grundlage der Sekundärliteratur erarbeiteten Ausführungen zu den Sozialisationserfahrungen zwar noch in mancher Hinsicht auf Plausibilitätsannahmen angewiesen, weisen jedoch ohne Zweifel einen viel versprechenden Weg für weitere Forschungen. Bei der Suche nach den wichtigsten mentalen Prägungen und habituellen Neigungen betont Stadtland die Bedeutung der Generationenfrage. Die zahlreichen tief greifenden Krisen und Umbrüche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinterließen bei der Sozialisation der jeweils jüngeren Generation ihre deutlichen Spuren. Und gerade wegen des schnellen Aufeinanderfolgens dieser Krisen und Umbrüche hatte der natürliche oder politisch forcierte Generationenwechsel auch besonders starke Auswirkungen. Für die SBZ/DDR kam Stadtland zufolge dem „Zweckbündnis“ zwischen den nach Deutschland zurückkehrenden Moskauer KPD-Exilanten, die freilich nur eine kleine Gruppe ihrer eigenen Generation darstellten, und der Hitlerjugendgeneration besondere Bedeutung zu. Weltanschaulich hatten beide Gruppen zwar kaum etwas gemein, sie verfügten aber trotzdem über ähnliche mentale Dispositionen, wie etwa die Verinnerlichung der Unterscheidung zwischen äußerem Mitmachen und innerer Beteiligung, den weitgehenden Verzicht auf die eigene politische Meinung, die Bereitwilligkeit zum politischen Wohlverhalten als Preis für berufliches Fortkommen, die Bereitschaft zur Übernahme von Funktionen ohne eigene Mitspracherechte, den Hang zum Aktionismus und das Bejahen eines starken Staates (vgl. S. 262). Das Problematische an diesem Zweckbündnis lag für die Gewerkschaften in dem gleichzeitig ablaufenden Generationenkonflikt zwischen den älteren, oft egalitär eingestellten sozialdemokratischen und kommunistischen Basisfunktionären auf der einen und den auf schnellen persönlichen Aufstieg bedachten Angehörigen der HJ-Generation auf der anderen Seite.

Im Kapitel „Konfliktfelder, Konfliktlinien und Konflikttypen“ geht es schließlich schwerpunktmäßig um die im Bereich der Lohnpolitik festzustellenden formellen und informellen Aushandlungsformen, die von den verschiedenen Beschäftigtengruppen im sich verschiebenden Machtgefüge zwischen Betriebsräten, Gewerkschaften, Staat und Partei in den Jahren 1945 bis 1953 praktiziert wurden. Helke Stadtland arbeitet hier, in vielem die Ergebnisse der Studien Peter Hübners bestätigend 2, heraus, wie schnell die nach Kriegsende zunächst wiederbelebten formellen Verhandlungsformen – zu denken ist vor allem an die zwischen Gewerkschaften und Großbetrieben bzw. staatlicher Wirtschaftsverwaltung im Rahmen der eingeplanten Lohnsumme „ausgehandelten“ Tarifverträge von 1947/48 – ihre Bedeutung wieder verloren, dafür aber neue, meist informelle Verhandlungsmuster zur Beilegung von Arbeits- und Lohnkonflikte gefunden wurden. Nicht unähnlich der Situation in den Jahren des NS-Regimes wurde der Lohnkampf bald erneut vornehmlich mit Mitteln der Arbeitszurückhaltung, des unerlaubten Arbeitsplatzwechsels oder auch der kurzfristigen Arbeitsniederlegung in kleinen Gruppen geführt. Eine bisher noch nicht angemessen gewürdigte Konfliktlinie in der Lohnpolitik bestand dabei, wie Stadtland zur Untermauerung ihrer These von der Bedeutung der Generationenfrage überzeugend darlegt, zwischen den egalitären Vorstellungen der meist älteren, durch die Weimarer Arbeiterbewegung geprägten Arbeitern und Basisfunktionären einerseits und den stärker leistungsorientierten Vorstellungen eines beträchtlichen Teils der jüngeren Arbeitergeneration sowie der übergeordneten Gewerkschaftsleitungen auf der andererseits. In anderen Worten: Gerade jüngere Arbeiter und Neuarbeiter fühlten sich durch ihren Betriebsrat oder gewerkschaftlichen Vertrauensmann, der aus Prinzip für den Erhalt der Tarifautonomie eintrat oder sich in patriarchalisch-fürsorglicher und zugleich egalitärer Manier für die Interessen „seiner“ Belegschaft einzusetzen versuchte, nicht unbedingt tatsächlich gut vertreten. Nicht wenige von ihnen, zumal im Kohlenbergbau, weniger in der Chemieindustrie, nutzen vielmehr bald ohne größere Bedenken die von SED, Wirtschaftsplanbehörden und FDGB-Spitze immer massiver propagierte Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung, um individuelle Lohnaufbesserungen zu erzielen. Sie trugen damit zum kontinuierlichen Ansteigen der durchschnittlichen Normerfüllungsgrade und zum ebenso regelmäßigen Überschreiten der geplanten Lohnsummen bei. Die SED sah sich angesichts der wider Erwarten zurückbleibenden Produktivität bald gezwungen, dieser Entwicklung durch eine Kampagne zur freiwilligen Normerhöhung entgegenzuwirken. Doch damit hatte sie bekanntermaßen nur wenig Erfolg, denn Aktivisten und Wettbewerbsteilnehmer verfügten inzwischen über ein ganzes Repertoire an effektiven indirekten und informellen Mitteln, um potentielle Lohnminderungen abzuwehren. Und sie wurden in diesem Bestreben von Betriebsgewerkschaftsleitungen, Betriebsparteiorganisationen und Betriebsleitungen unterstützt. Gemeinsames Interesse dieses in der modernen deutschen Industriegesellschaft bis dahin undenkbaren Bündnisses war das Abwehren von Erschwernissen für die betriebliche Planerfüllung; es kann deshalb treffend als „Planerfüllungspakt“ bezeichnet werden. Bisher noch immer unbeantwortet – und auch von Stadtland leider nicht aufgegriffen – ist die Frage, in welchem Verhältnis die Entwicklungen der nominellen Löhne und des tatsächlichen Lebensstandards in den einzelnen Branchen zueinander standen. Für die in der Planungslogik verhaftete SED blieb jedenfalls bald nur noch ein Ausweg: das Anheben der Normen per Verordnung – eine außerordentlich unsensible lohnpolitische Maßnahme, die im Zusammenwirken mit anderen Faktoren der sich abzeichnenden „Entstalinisierungskrise“ nach dem Tod Stalins direkt zum Volksaufstand des 17. Juni 1953 führte.

Helke Stadtlands innovative und anregende Studie zu den Gewerkschaften in der SBZ/DDR kann sicherlich noch nicht als „die“ Sozialgeschichte des FDGB in den Jahren 1945 bis 1953 betrachtet werden, dazu fehlen noch eine ganze Reihe weiterer Untersuchungen zu den hier nicht behandelten sozialen Gruppen, etwa den Angestellten, zur mittleren und oberen gewerkschaftlichen Hierarchieebene und zu den anderen Industrie- und sonstigen Gewerkschaften, ein gewichtiger Meilenstein auf dem Weg dorthin ist sie jedoch zweifellos – gerade weil sie in wichtigen Wertungsfragen auch Widerspruch provoziert.

Anmerkungen:
1 Zur Debatte: Jürgen Kocka, 1945: Neubeginn oder Restauration?, in: Carola Stern/Heinrich A. Winkler (Hrsg.), Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1945, Frankfurt/M. 1979. Für das Zitat: Werner Plumpe, Politische Zäsur und funktionale Kontinuität: Industrielle Nachkriegsplanungen und der Übergang zur Friedenswirtschaft 1944-1946, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhundert, 4 (1992), S. 11-3, hier S. 12.
2 Zusammenfassend: Peter Hübner, Konsens, Konflikt und Kompromiß. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945-1970, Berlin 1995.

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