A. Schmelz: Migration und Politik im geteilten Deutschland

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Titel
Migration und Politik im geteilten Deutschland während des Kalten Krieges. Die West-Ost-Migration in die DDR in den 1950er und 1960er Jahren


Autor(en)
Schmelz, Andrea
Reihe
Forschungen Politik 43
Erschienen
Anzahl Seiten
349 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Stöver, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Migrationen vom Westen zum Osten in die Länder jenseits des Eisernen Vorhangs während des Kalten Krieges wurden schon immer als ungewöhnlich angesehen. Was konnte Menschen aus den ökonomisch stärkeren und politisch freiheitlicheren kapitalistischen Staaten dazu veranlassen, in den "real existierenden Sozialismus" zu gehen? Systematische Untersuchungen über die Gründe dieser ungewöhnlichen Wanderungsbewegung gab es allerdings kaum. Während sich die historische Forschung intensiv sowohl mit der amtlich unter bestimmten Bedingungen genehmigten "Ausreise" bzw. "Übersiedlung" als auch mit der Fluchtbewegung aus der DDR ("Republikflucht") in den Westen beschäftigt hat, war über die Motive derjenigen, die den entgegengesetzten Weg gingen, so gut wie nichts bekannt.

Die Menschen, die von West nach Ost gingen, waren allerdings vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten des Kalten Krieges ein Objekt der Propaganda auf beiden Seiten. In bestimmten Jahren - so etwa vor dem Mauerbau - wurden regelrechte Propagandaschlachten um die Flüchtlinge geschlagen.

Die Zählungen, die der Osten und der Westen während des Kalten Krieges vornahmen, divergierten. Insgesamt waren es, wie bereits das DDR-Handbuch des Innerdeutschen Ministeriums in den achtziger Jahren zeigte, "brutto" mehr als eine halbe Million Menschen, die während der deutschen Doppelstaatlichkeit aus der Bundesrepublik in die DDR übersiedelten. Vergleicht man diese Wanderungen mit der entgegengesetzten Bewegung, in der schon bis 1961 rund zweieinhalb Millionen Menschen der DDR den Rücken kehrten, so konnte man zwar immer erkennen, wohin die überwiegende Mehrzahl der Deutschen wollte und wo deren persönliche Prioritäten lagen. Dennoch sind auf den ersten Blick knapp 500.000 Menschen eine überraschend große Zahl.

Die Politikwissenschaftlerin Andrea Schmelz hat in ihrer 1998 an der Humboldt-Universität in Berlin eingereichten und jetzt erschienenen Dissertation das lange vernachlässigte Thema aufgegriffen und wichtige Fragen in Angriff genommen. Die Arbeit ist, um es vorneweg zu sagen, die erste Untersuchung, die sich wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt und kann daher mit gutem Grund als Pionierstudie bezeichnet werden. Sie bringt neue und überraschende Erkenntnisse in die von der Propaganda des Kalten Krieges weitgehend verstellte Realität der Einwanderung in die DDR.

Es geht in der Untersuchung um Massenmigration, nicht um Einzelfälle oder gar prominente Immigranten. Unverzichtbar ist daher zunächst die Ermittlung der tatsächlichen Zahl der Übersiedler. Der von Schmelz vorgenommene Datenvergleich der Statistiken zeigt, daß schon die Zahlen politische Propaganda waren, was allerdings zum Teil auch daran lag, dass die entsprechenden Dienststellen keine einheitlichen Definitionen bei "Zuziehenden" und "Rückkehrern" verwandten. Zwei Drittel der Migranten waren "Rückkehrer", die dem sozialistischen Staat den Rücken gekehrt hatten. Weil sie im Westen auf irgendeine Weise gescheitert waren, kamen sie zurück. Nur ein Drittel der Zuwanderer waren Bundesbürger, die nie zuvor in der DDR gelebt hatten, sogenannte "Erstzugezogene".

Besonders schwierig ist der Datenvergleich auch wegen der sogenannten "Rückschleusungen" der DDR-Behörden: Kriminelle und "Asoziale" sollten nicht nur vom Zuzug abgehalten werden. Sie sollten darüber hinaus, wenn sie durch die Kontrollen gerutscht waren, möglichst rasch wieder verschwinden. Im Zweifelsfall legten die DDR-Behörden in bestimmten Jahren die Einreisebestimmungen eng aus. Zeitweilig (1958) wurden bis zu vierzig Prozent der Aufnahmeersuchenden wieder zurückgeschickt. Üblich war über die Jahre bis zum Mauerbau eine Ablehnungsquote von 10 bis 25 Prozent. Häufig spielten die verschärften, zum Teil neurotischen Sicherheitsanforderungen der Behörden eine Rolle, insbesondere der "Tag X", der 17. Juni 1953. Ein genauso wichtiges Ergebnis ist aber auch, dass die DDR, gerade nach dem Juni-Aufstand 1953 die Rückkehrer wollte, die aber bei weitem nicht in dem Umfang kamen, wie man hoffte.

Die Untersuchung beschränkt sich auf die fünfziger und die sechziger Jahre, in der tatsächlich die Masse der statistisch erfaßten Übersiedlungen stattfanden. Wo genau die Grenzen des Untersuchungszeitraumes liegen, ist nicht ganz klar. Der Titel suggeriert, daß hier die Ära Ulbricht als Rahmen genommen wurde. Dem widersprechen einige von der Autorin ansonsten vorgenommene Datierungen. Sie selbst sieht den Untersuchungszeitraum "von der Konstituierung der DDR als Staat im Jahr 1949 bis in die Zeit nach dem Mauerbau" (S. 15). Einige Angaben reichen tatsächlich bis 1968. Für die gesamte Arbeit ist allerdings eher vom Zeitraum 1953/54 bis 1964/65 auszugehen bei eindeutigem Schwerpunkt auf den fünfziger Jahren. Dies entspricht auch der Quellenlage. Die DDR gab ab Mitte der sechziger Jahre keine offizielle Zahlen mehr heraus.

Die Autorin gibt fünf "leitende Fragestellungen" (S. 24) vor: (a) Welche Gründe hatten Migranten in die DDR zu gehen? (b) Welche Migrationspolitik betrieb die DDR? (c) Wie sah die DDR-Politik die Wanderungsbewegung und inwiefern nahm sie darauf Einfluss? (d) Welches Aufnahmesystem mit welchen Funktionen wurde eingerichtet? (e) Auf welche Weise arbeitete die Bürokratie für die Eingliederung der Ankömmlinge? An diesen Fragen orientieren sich die Untersuchungsabschnitte: (a) Soziographie der Ost-West-Migration und deren Motive, (b) Werbepolitik (c) Unerwünschte (d) Abschottung und Überwachung (e) Aufnahmeheime (f) Zwischen Eingliederung und erneuter Abwanderung. Ergänzt wird die Untersuchung durch eine Reihe von Tabellen.

Die Frage der Motivationen war neben der Ermittlung der Zahl der Übersiedler wohl das wichtigste Vorhaben einer solchen Studie. Schmelz bezieht sich im wesentlichen auf die Befragungen in den Übergangsstellen und Lagern, speziell auch in den Notaufnahmelagern der Bundesrepublik. Bestimmte Zeitabschnitte, in der die Überlieferung besonders gut ist, rücken dabei notwendigerweise in den Mittelpunkt. 1954 bis 1957 sind besonders dicht überlieferte Jahre. Für 1954 etwa gibt es folgende Ergebnisse: Fast 53 Prozent der Rückwanderer kamen aus familiären Gründen zurück in die DDR, rund 21 Prozent wegen mangelnder Perspektiven in der Bundesrepublik. Bei den erstzugezogenen Bundesbürgern waren es immerhin noch 35 Prozent, die aus familären Motiven nach Osten gingen, aber auch 56 Prozent, die wegen wirtschaftlicher Motive den Weg in die DDR suchten. Das "Recht auf Arbeit" in der DDR ließ sie auf bessere Chancen hoffen. Häufig waren es zudem Probleme auf dem bundesdeutschen Wohnungsmarkt, die den Ausschlag gaben.

Der inhaltliche Schwerpunkt der Untersuchung liegt aber eindeutig auf der offiziellen Einwanderungspolitik der DDR. Sehr detailliert schildert die Autorin die Werbepolitik der SED für Zuzug und Rückkehr in den fünfziger Jahren, die Entstehung und Arbeit der Institutionen, so der zentralen Abteilung Bevölkerungspolitik im Innenministerium sowie die Hoffnungen und Befürchtungen der Bürokraten. Seit 1952/53 gab es verstärkte Werbungen um Zuzug, doch scheiterten die großen Ambitionen schließlich vor allem an den strukturellen Problemen der Diktatur. Längst nicht so viele Bundesbürger wie erhofft kamen und immer häufiger waren es die Falschen. In der DDR blieben viele der Zugezogenen und Rückgewanderten Fremdkörper, die über Jahre das Stigma "Westdeutscher" trugen. Das gleiche Phänomen hat die Migrationsforschung für die Bundesrepublik ermittelt. Ehemalige DDR-Bürger fühlten sich hier lange fremd.

Notwendigerweise läßt diese Untersuchung eine Reihe von Fragen offen, deren Beantwortung anderen Studien vorbehalten sein wird. So ist zum Beispiel eine Untersuchung von Berufsgruppen unterblieben. Zudem hätten einige Fallstudien das Bild sicherlich plastischer und facettenreicher gemacht. Auch wäre es wünschenswert gewesen, dass der Frage der politischen Motivation stärker nachgegangen worden wäre. Dies soll den Wert der ersten systematischen Studie über die West-Ost-Migration in die DDR aber nicht schmälern.

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