J. Morré: Hinter den Kulissen des Nationalkomitees

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Titel
Hinter den Kulissen des Nationalkomitees. Das Institut 99 in Moskau und die Deutschlandpolitik der UdSSR 1943-1946


Autor(en)
Morré, Jörg
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 82
Erschienen
München 2001: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
236 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Donth, Wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Mitglieds des Deutschen Bundestages

Bislang war das Institut nur Lesern von Erinnerungen der kriegsgefangenen Mitglieder des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) bekannt. Nun rückt Morré es in seiner gut geschriebenen Dissertation in die Öffentlichkeit und zeigt, dass diese Einrichtung für die Steuerung und Kontrolle der Tätigkeit des NKFD sowie die „politische Arbeit“ unter den deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion zuständig war. Die Arbeit stützt sich auf Bestände des Russischen Staatsarchivs für Sozial- und Politikgeschichte, des Staatsarchivs der Russischen Föderation, des Russischen Staatlichen Militärarchivs, des Gedenkmuseums deutscher Antifaschisten in Krasnogorsk, der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, des Bundesarchivs Abteilung Potsdam und des Militärarchivs Freiburg. Vor allem mit der Auswertung der russischen Archivbestände beschreitet Morré wissenschaftliches Neuland.

Mit der bisherigen Forschung weitgehend übereinstimmend betont Morré, dass die sowjetische Führung mit der Gründung des NKFD mehrere Ziele verfolgte.1 So sollten die Kriegsgefangenen mit entsprechenden Propagandaaktionen die Kampfkraft der Wehrmacht schwächen. Außerdem übte die Sowjetunion mit dem NKFD Druck auf die Westmächte aus, weil sie diesen Verhandlungsbereitschaft der deutschen Seite signalisierte. Zum dritten zielte das NKFD darauf ab, der im Moskauer Exil arbeitenden KPD-Führung neue Bündnispartner zu erschließen.

Im Mittelpunkt von Morrés Interesse steht die Steuerung und Kontrolle des NKFD durch den sowjetischen Partei- und Staatsapparat, die dieser zu keinem Zeitpunkt aus der Hand gab. Detailliert wird die Politik des Spitzenfunktionärs der Kommunistischen Internationale (Komintern) Dimitri Manuilski nachgezeichnet, der die Gründung des NKFD vorbereitete. Auf seine Anordnung hin überarbeitete die KPD ihren Programmentwurf für das NKFD, bis er sowjetischen Vorstellungen entsprach. Im Apparat der Allrussischen Kommunistischen Partei der Bolschewiki liefen alle Fäden zusammen, während der Handlungsspielraum der KPD-Führung begrenzt blieb.

Die Anleitung des NKFD erfolgte durch das Institut 99, dessen Mitarbeiter zum großen Teil aus dem Apparat der 1943 formal aufgelösten Komintern stammten. Knapp hundert deutsche Exilkommunisten befassten sich unter sowjetischer Leitung mit der „Arbeit unter den Kriegsgefangenen“. Für die Besetzung der Schlüsselpositionen griff die sowjetische Partei- und Staatsführung auf „bewährte“ KPD-Funktionäre zurück. Walter Ulbricht trug die Gesamtverantwortung, während Rudolf Herrnstadt, Karl Maron und Anton Ackermann die Presseorgane des NKFD betreuten. Sie alle übernahmen nach 1945 Spitzenpositionen im Partei- und Staatsapparat der SBZ/DDR.

Morré belegt umfassend die Mechanismen der sowjetischen Steuerung des Instituts 99, das durch seine Redaktionen sowie die Lager- und Frontbevollmächtigten die Anleitung und Kontrolle des NKFD übernahm. Am übermächtigen Einfluss der Sowjetunion auf die Politik des NKFD besteht nun kein Zweifel mehr. Unter diesen Rahmenbedingungen blieb wenig Raum für Initiativen von deutschen Kommunisten und Kriegsgefangenen. So gingen die Farben des NKFD „Schwarz-Weiß-Rot“ auf eine Anordnung Manuilskis zurück, der auch die NKFD-Mitgliedschaft von sudetendeutschen und österreichischen Kriegsgefangenen durchsetzte und damit zeigte, dass die deutschlandpolitische Perspektive der Sowjetunion 1944 durchaus noch großdeutsche Züge aufwies. Die sowjetische Führung verwarf auch die von General Walther von Seydlitz im Februar 1944 vorgeschlagene Aufstellung einer „deutschen Befreiungsarmee“ und rief keine deutsche Exilregierung ins Leben.

Das NKFD befasste sich jedoch nicht ausschließlich mit der Propaganda gegen das NS-Regime in Deutschland und die Wehrmacht. Detailliert untersucht Morré die Ausbildung von Kriegsgefangenen und Exilkommunisten für einen Einsatz in Deutschland und weist darauf hin, dass die sowjetische Führung sich hier zurückhaltender als die KPD-Führung verhielt. Diese wollte die Antifa-Schüler zu kommunistischen Parteikadern umerziehen und sie nach dem Krieg nach Deutschland zurückschicken. Die Sowjets wollten jedoch in erster Linie Propagandisten gewinnen, die in den Kriegsgefangenenlagern mit Erfolg eingesetzt werden konnten und wiesen deshalb die Vorstellungen der Exilkommunisten zurück. Das Programm der Lehrveranstaltungen sowie die Auswahl der Schüler werden umfassend herausgearbeitet. Dass sich unter diesen auch Offiziere und Mitglieder von NSDAP und SA befanden, dokumentiert die pragmatische sowjetische Interessenlage. Die Antifa-Schüler sollten in die Lage versetzt werden, im „antifaschistischen“ Sinne den Charakter des NS-Regimes zu erkennen und auf der Grundlage eines marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes die NS-Ideologie wiederlegen zu können. Neben den Antifa-Schulungen in den Kriegsgefangenenlagern fanden gesonderte Parteischulungen statt. Vor dem Ende des Krieges verzichtete die Sowjetunion auf einen nennenswerten Einsatz deutscher Kommunisten oder Kriegsgefangener im Reichsgebiet. Eine Zusammenstellung weist die in der Sowjetunion geschulten „Kader“ namentlich aus.

Das NKFD verfügte nur über geringen Einfluss auf die Wehrmacht. Die Erwartungen der Sowjets, mittels der Propaganda der deutschen Kriegsgefangenen ließe sich das deutsche Ostheer zum Aufgeben bewegen, erfüllten sich nicht. Nach den Absprachen mit den westlichen Alliierten in der European Advisory Commission 1944 verlor das NKFD schnell an Bedeutung. Stalin hatte bereits 1943 dem britischen Außenminister Eden erklärt, dass die Kriegsgefangenen auf die sowjetische Deutschlandpolitik nur geringen Einfluss besäßen: „Natürlich, in dem deutschen Komitee sind Leute, die davon träumen, dass sie das Schicksal Deutschlands entscheiden werden. Aber man muss daran erinnern, dass ein ernstzunehmender Staat nicht gemeinsame Sache mit Kriegsgefangenen machen wird.“ (S. 76) Seit Ende 1944 fungierte dann die Exilführung der KPD immer stärker als Instrument sowjetischer Deutschlandpolitik.

Es ist das Verdienst von Morrés Arbeit, dass die bereits bekannten Planungen der KPD-Spitze für Nachkriegsdeutschland in den Kontext der Politik der oft gegeneinander agierenden sowjetischen Apparate einordnet.2 In enger Abstimmung mit Dimitroff entwickelten die deutschen Kommunisten auf der Grundlage des Volksfrontkonzeptes das „Programm des Blocks der kämpferischen Demokratie“, das im Kern für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung mehrere Etappen vorsah. Doch galt es dabei, die Interessen der sowjetischen Außenpolitik zu berücksichtigen, die die Kooperation mit den Westmächten so lange wie möglich fortsetzen wollte. Deshalb hatten eine direkte Umsetzung und offene Propagierung dieser sozialistischen Deutschland-Vorstellungen zu unterbleiben. Die KPD wurde auf ein indirektes Vorgehen verpflichtet, das darauf abzielte, die politische Hegemonie in Deutschland zu erringen, das Bürgertum durch eine geschickte Bündnispolitik zu spalten und die deutsche mit der sowjetischen Wirtschaft zu verflechten. Morré gelangt auf der Grundlage der von ihm eingesehenen Quellen zu dem Schluss, dass sich eine klare Haltung der sowjetischen Führung zu dieser Konzeption nicht erkennen lasse. Diese Planungen bildeten jedoch die Grundlage für die Transformation der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) zum sozialistischen deutschen Teilstaat zwischen 1945 und 1949. Da sich die KPD-Führung eng mit Dimitroff – und dieser wiederum mit Stalin – abstimmte, ist vielmehr davon auszugehen, dass es sich hier um zentrale Bestandteile sowjetischer Deutschlandpolitik für die Nachkriegszeit handelte.3

Ausführlich untersucht Morré die Vorgeschichte des Einsatzes der sogenannten „Initiativgruppen des ZK der KPD“, die durch die Erinnerungen Wolfgang Leonhards auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind.4 Die Arbeit über das Institut 99 liefert dabei wertvolle Beiträge über den Einsatz der Parteischüler in Deutschland 1945/46 sowie zu den Hintergründen der Auflösung des NKFD. Morré unterschätzt jedoch die Bedeutung der im Mai 1945 nach Deutschland entsandten „Initiativgruppen des ZK der KPD“, wenn er deren Einsatz den politischen Bezug nimmt. Diese legten einen Grundstein für den Aufbau der kommunistischen Diktatur, in dem sie durch ihre Personalpolitik die Schlüsselpositionen in den Verwaltungen besetzten und damit begannen, die kommunistischen Parteistrukturen wieder aufzubauen. Dabei agierten die Initiativgruppen nicht an der sowjetischen Besatzungsmacht vorbei oder gar gegen deren Willen, sondern handelten in ihrem Auftrag.

Mit dieser überzeugenden Arbeit leistet Morré einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Geschichte des Nationalkomitees Freies Deutschland und der Tätigkeit der KPD-Führung im Moskauer Exil, sondern darüber hinaus zur sowjetischen Deutschlandpolitik während des Kriegs und den Planungen der UdSSR für die Nachkriegszeit.

Anmerkungen:
1 Vgl. Fischer, Alexander: Sowjetische Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg 1941-1945, Stuttgart 1975. Ueberschär, Gerd R. (Hg.): Das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ und der Bund Deutscher Offiziere, Frankfurt/Main 1995.
2 Vgl. Erler, Peter/Laude, Horst/Wilke, Manfred (Hgg.): „Nach Hitler kommen wir“. Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1944.
3 Mark, Eduard: Revolution by Degrees: Stalins National Front Strategy for Europe 1941-1947 (Cold War International History Projekt, Working Paper Nr. 31), Washington 2001.
4 Vgl. Leonhard, Wolfgang: Die Revolution entlässt ihre Kinder, 2 Bde., Leipzig 1990. Keiderling, Gerhard (Hg.): „Gruppe Ulbricht“ in Berlin April-Juni 1945. Von den Vorbereitungen im Sommer 1944 bis zur Wiedergründung der KPD im Juni 1945. Eine Dokumentenedition, Berlin 1993.

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