W. Schmidt: Kalter Krieg, Koexistenz und kleine Schritte

Cover
Titel
Kalter Krieg, Koexistenz und kleine Schritte. Willy Brandt und die Deutschlandpolitik 1948-1963


Autor(en)
Schmidt, Wolfgang
Anzahl Seiten
572 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlef Nakath

Über die Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts als Außenminister in der Großen Koalition und vor allem während seiner Kanzlerschaft ist bereits viel publiziert worden. Seine ersten deutschlandpolitischen Schritte in den fünfziger Jahren und die Herausbildung der ost- und deutschlandpolitischen Vorstellungen sind hingegen weniger bekannt. Der jetzt vorliegende Band schließt dabei eine Lücke in der in den letzten Jahren intensiv vorangetriebenen Willy-Brandt-Forschung.

Als Untersuchungszeitraum wählte Wolfgang Schmidt die Jahre von 1948 bis 1963, also von der Berliner Krise 1948/49 mit Blockade und Luftbrücke bis zum ersten Passierscheinabkommen zwischen der DDR-Regierung und dem Berliner Senat für Weihnachten 1963. Er stellt seiner Untersuchung ein einleitendes Kapitel mit dem Titel „Deutschland und die Friedensordnung in Europa und der Welt – Visionen, Ideen und Werdegang Willy Brandts im Exil 1933-1947“ voraus.

Schmidt konnte sich bei seiner Forschungsarbeit auf eine breite Quellengrundlage stützen. Er hat die für seine Thematik wesentlichen Bestände des Willy-Brandt-Archives, des Archivs der sozialen Demokratie, des Landesarchivs Berlin sowie des Franz-Neumann-Archivs in Berlin gründlich ausgewertet und überdies Zeitzeugeninterviews mit den Weggefährten Brandts - Egon Bahr, Klaus Schütz, Hans Arnold und Winfried Staar - geführt. Außerdem zog er das umfängliche gedruckte Quellenmaterial für seine als Dissertation an der Philipps-Universität Marburg angenommene und von der Friedrich-Ebert-Stiftung unterstützte Studie heran.

Die Untersuchung ist in acht Kapitel strukturiert. Aus dieser Gliederung wird zugleich auch ein Periodisierungsgerüst deutlich. Die Jahre von 1949 bis 1954 bezeichnet Schmidt als „Brandts Außenseiterposition in der Deutschlandpolitik“ und behandelt den Streit um die Eingliederung Berlins in die Bundesrepublik, die Debatte um den deutschen Militärbeitrag nach Ausbruch des Korea-Krieges und die „deutschlandpolitische Desillusionierung“ nach Stalins Tod, dem 17. Juni 1953 und der Bundestagswahl im gleichen Jahr.

Den Zeitraum von 1954 bis 1958 überschreibt der Autor mit „deutschlandpolitischer Realismus und konzeptionelle Entwicklung der Politik der kleinen Schritte“ und untersucht die innerparteilichen Diskussionen in der SPD um die Westverträge der Bundesrepublik und den Adenauer-Besuch im September 1955 in Moskau. Im weiteren legt er die Deutschland- und sicherheitspolitischen Überzeugungen Brandts sowie sein entspannungspolitisches Konzept in den Jahren 1956/57 dar. In diese Etappe fällt auch der Aufstieg Brandts zum Berliner Regierenden Bürgermeister als Nachfolger von Ernst Reuter und Otto Suhr.

Interessant ist hier vor allem die Passage über den „Zusammenprall der gegensätzlichen deutschlandpolitischen Konzepte“ von Willy Brandt und Herbert Wehner 1958: „Während Brandt immer wieder beschwor, zwischen Regierung und Opposition in Fragen der nationalen Existenz nicht ‚das letzte Porzellan‘ zu zerschlagen, und öffentlich dazu aufforderte, sich ‚ohne Scheuklappen‘ zusammenzusetzen und eine ‚politische Bestandsaufnahme‘ zu machen, wollte Wehner von irgendeiner Gemeinsamkeit mit der Bundesregierung in außenpolitischen Fragen nichts wissen. Er hatte deshalb ein Interesse daran, Brandts Aufstieg in der Partei zu bremsen.“ (S. 228) Während Brandt „zur politischen Mitte drängte“, verfolgte Wehner mit seinem Vorschlag zur Bildung einer deutsch-deutschen Konföderation das Ziel „der gesamtdeutschen Neuordnung des Sozialgefüges“. Dabei knüpfte Wehner auch an die DDR-Forderung nach „Übernahme der sozialen Errungenschaften der DDR“ an.

Brandt hatte zu dieser Phase längst begriffen, „daß es keine Chance mehr dafür gab, die Wiedervereinigung zum primären Thema der internationalen Politik zu machen“ (S. 232). Jedoch war die SPD insgesamt, so Schmidt, „noch lange nicht an diesem Punkt angelangt. Eine Abkehr von der Wiedervereinigung als dem Nahziel der deutschen Politik erschien vielen Sozialdemokraten als Verrat“ (S. 232).

Dem Zeitraum der Berlin-Krise von 1958 bis zum Mauerbau im August 1961 widmet der Autor zwei umfangreiche Kapitel. Er untersucht in dieser Phase die „Westwende der SPD-Deutschlandpolitik“ und den Weg Willy Brandts zum Kanzlerkandidaten der SPD. CDU/CSU-Kanzler Konrad Adenauer befürchtete Ende 1959, daß Washington und London Überlegungen anstellen würden, die Rechtsbasis der Anwesenheit ihrer Truppen in West-Berlin neu zu ordnen und unter Umständen auch infrage zu stellen. Brandt hielt als Regierender Bürgermeister auch in dieser Zeit strikt am Viermächtestatus fest, sah aber die Gefahr einer Lockerung der Bindungen der Stadt zur Bundesrepublik. Das führte nach einer Rede Brandts im November 1959 im Bundestag zu dem Vorwurf der Union, der Berliner Regierende Bürgermeister sei von der Rechtsbasis des Viermächtestatus abgerückt. Schmidt beantwortete diese Frage „mit einem klaren Nein“. Jedoch „das Beharren auf dem Viermächtestatus allein genügte eben nicht, um den Status quo zu sichern“, denn „die Bindungen West-Berlins an den Bund, die nicht unter den Viermächtestatus fielen, gehörten zum Status quo zweifellos dazu“ (S. 299).

Ebenfalls in zwei Kapitel behandelt der Autor die Jahre vom Mauerbau bis zum ersten Passierscheinabkommen vom 17. Dezember 1963. Anders als sonst in der Literatur üblich, geht Schmidt nicht davon aus, daß unmittelbar nach dem Mauerbau bei Brandt ein radikales Umdenken in seiner Ost- und Deutschlandpolitik eingesetzt habe. Die Auffassung, der „kalte Krieger“ Brandt habe nach dem 13. August 1961 die Entspannungspolitik entdeckt, bezeichnet der Autor als „holzschnittartiges Bild“, das insbesondere durch Egon Bahr „angetrieben“ worden sei. Zweifellos habe der 13. August einen tiefen Einschnitt in der deutschen Nachkriegsgeschichte bedeutet. Nach Schmidts Auffassung sei der Brief Brandts an Kennedy vom 15. August 1961 und die Anwort des amerikanischen Präsidenten vom 18. August 1961 jedoch keineswegs der „Anstoß für die Brandtsche Ost- und Deutschlandpolitik“ gewesen. Brandt habe, so lautet das bemerkenswerte und anhand der ausgewerteten Quellen einleuchtend begründete Fazit des Autors, im Gegensatz zur bisher in der Literatur vorherrschenden Ansicht seine Ostpolitik ebenso wie die „Politik der kleinen Schritte“ lange vor dem Mauerbau schrittweise konzeptionell entwickelt. Die mit Egon Bahrs These vom „Wandel durch Annäherung“ im Sommer 1963 beschriebene Zielsetzung in der Ost- und Deutschlandpolitik sei zu diesem Zeitpunkt keineswegs neu, sondern im Kern identisch mit den Auffassungen gewesen, die Brandt bereits in den fünfziger Jahren vertreten hat.

Wolfgang Schmidt hat mit seiner gründlichen und lesenswerten Arbeit Grundlagenarbeit betrieben. Er ergänzt mit seinen Forschungsergebnissen die in den letzten Jahre zur Deutschlandpolitik der fünfziger Jahre vorgelegten Publikationen, die jedoch zumeist als Untersuchung der DDR bzw. SED-Politik erarbeitet worden sind. 1

Auch wenn die bisherige Willy-Brandt-Forschung nicht unbedingt mit jeder seiner durchaus streitbaren Auffassungen übereinstimmen wird, so sollten künftige Forschungen über Biographie bzw. Herausbildung konzeptioneller Leitlinien in der Außen- und Deutschlandpolitik des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers am Buch von Wolfgang Schmidt nicht vorbeigehen.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu u.a. Heike Amos: Die Westpolitik der SED 1948/49 –1961. „Arbeit nach Westdeutschland“ durch die nationale Front, das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und das Ministerium für Staatssicherheit, Berlin 1999; Michael Lemke: Einheit oder Sozialismus? Die Deutschlandpolitik der SED 1949-1961, Berlin 2001; Ingrid Muth: Die DDR-Außenpolitik 1949-1972. Inhalte, Strukturen, Mechanismen. Berlin 2000.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension