D. Führe: Die französische Besatzungspolitik

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Titel
Die französische Besatzungspolitik in Berlin von 1945-1949. Déprussianisation und Décentralisation


Autor(en)
Führe, Dorothea
Erschienen
Anzahl Seiten
421 S.
Preis
€ 24,54
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Edgar Wolfrum, TU Darmstadt, Institut für Geschichte

Seit der „revisionistischen Wende“ in der Forschung zur französischen Deutschland- und Besatzungspolitik, die Mitte der 1980er Jahre mit der Öffnung der französischen Archive einsetzte und bald an Fahrt gewann, sind fast alle älteren Urteile mit begründeten Fragezeichen versehen worden. Thesen, wonach die französische Besatzungszone eine „Ausbeutungskolonie“ der Franzosen gewesen sei – so seinerzeit Theodor Eschenburg – in der eine nahezu unbarmherzige Revanchepolitik betrieben worden wäre, gekennzeichnet von Demontagewut, polizeistaatlicher Überwachung und Schikanen sind revidiert worden. Heute wird der „verspäteten Siegermacht“ Frankreich sogar bescheinigt, in ihrer Zone eine Reform- und Demokratisierungspolitik eingeschlagen zu haben, die in vielen Bereichen weiter reichte als in der amerikanischen oder in der britischen Zone. „Vom ‚Erbfeind‘ zum Erneuerer“, so lässt sich die neue Forschungstendenz auf den Begriff bringen, die freilich nicht selten die Besatzungszeit zu einer Art freundlichen Ouvertüre des späteren rapprochements franco-allemand ausschmückt, was sie jedoch mit Sicherheit auch nicht war.

In diese „revisionistische“ Forschungsrichtung reiht sich Dorothea Führes Dissertation ein, die an der TU Berlin entstanden ist. Sie schließt insofern eine Lücke als wir über Frankreichs Politik in Berlin bisher nur wenig wussten – abgesehen von Untersuchungen, die sich mit dem Alliierten Kontrollrat befassten. Aber welches waren unterhalb dieser Ebene die Leitmotive der Franzosen in ihrem Sektor, der aus den Bezirken Wedding und Reinickendorf bestand? Wie agierte die Besatzungsmacht in Berlin, am Brennpunkt des beginnenden Kalten Krieges? Versuchte sie auch hier, ähnlich wie in der südwestdeutschen Besatzungszone und im Saarland, eine eigenständige, von Amerikanern und Briten unabhängige Politik zu verfolgen? Schließlich: Wie nahmen die Berliner die vierte Siegermacht wahr, der man nachsagte, sie verfolge den Plan einer Zerstückelung Deutschlands?

Dorothea Führe hat die im französischen Besatzungsarchiv in Colmar lagernden Quellen sowie Berliner Bestände zu Rate gezogen, um Antworten auf einige dieser Schlüsselfragen zu geben. Sie argumentiert auf dem Hintergrund der neuesten Forschungsliteratur, was bereits im Untertitel des Buches zum Vorschein kommt: Entpreußung – was in französischer Sicht nichts anderes bedeutete als Entnazifizierung und antimilitaristische Umerziehung – und Dezentralisierung erkennt sie auch für die Berliner Besatzungspolitik als die entscheidenden Schlüsselthemen. Alle Themen, die in der französischen Besatzungszone von Belang waren, waren es auch in Berlin: die Haltung der Franzosen gegenüber den deutschen politischen Parteien, die Frage der deutschen Selbstverwaltung, Entnazifizierung, Versorgungsengpässe und vor allem die französische Kulturmission. Aber während die Franzosen ihre Zone von den anderen Besatzungszonen isolieren konnten, um sie vor unliebsamen, besonders den gefürchteten „zentralistischen“ Einflüssen abzuschotten, war dies in Berlin nicht möglich. Hier musste man sich immer mit den anderen Alliierten auseinandersetzen und Stellung beziehen zu Ereignissen, die in der Besatzungszone sehr weit weg waren. Als etwa die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED vollzogen wurde, sahen sich die Franzosen „genötigt“ die SPD zu unterstützen. Die in ihren Augen „nationalbolschewistische“ SED hasste die Besatzungsmacht wie die Pest, aber mit der ebenfalls „zentralistischen“ SPD, die gleichermaßen für Deutschlands politische Einheit stritt – ein französischer Alptraum – , wollten die Franzosen ursprünglich auch nichts zu tun haben.

Große Handlungsspielräume für eine eigenständige Besatzungspolitik gab es in Berlin für die Franzosen nicht. Und dort, wo man versuchte, vehement eigene Interessen durchzusetzen, scheiterte dies letztlich. Getreu dem Axiom von der Dezentralisierung war beispielsweise der französische Sektor Berlins nicht an das zentrale Versorgungsamt der Stadt angeschlossen – ein völlig unsinniges Unterfangen. Die alleinige Folge war eine prekäre Versorgungslage im französischen Sektor. Die Absicht der französischen Besatzungsmacht wiederum, im Sinne der Dekartellisierung die Firma Borsig zu demontieren, stieß auf den erbitterten Widerstand der Berliner Bevölkerung und belebte das Bild einer Siegermacht, die offenbar von Demontagewut besessen war.

Wie in der Besatzungszone war die französische Besatzungsmacht auch in Berlin lange Zeit nicht sonderlich beliebt. Sie war, im Vergleich zu allen anderen Mächten, miserabel ausgestattet, die Besatzungsbediensteten galten als arm und arrogant. Hier vermischte sich die Realität freilich mit langlebigen Feindbildstereotypen. Wie in der Zone versuchten die Franzosen mit dem Pfund zu wuchern, das sie besaßen: Kultur. General Noiret notierte in seinen Akten: „Es ist von nationalem Interesse, die Umstände, die uns in Berlin zusammenbringen, zu nutzen, indem wir unseren Alliierten und auch den Deutschen die französische Kultur zur Kenntnis bringen“ (S. 190). Kultur als Mittel der Umerziehung (aber darüber hinaus als Mittel, Frankreichs Prestige zu heben) wurde auch in Berlin, im Zentrum des verhassten „deutschen Zentralismus und Militarismus“, eingesetzt – zur Freude der Berliner, die so in den Genuss französischer Filme und Theateraufführungen kamen. Mit der Berlin-Blockade wurden auch die Franzosen zur Schutzmacht des Westteils der Stadt, obwohl sie einen nur bescheidenen Beitrag zur Luftbrücke leisten konnten. Allerdings gelang es ihnen niemals auch nur im entferntesten, das Prestige der beiden anderen Westmächte zu erringen.

Anhand der wichtigsten Politikfelder beschreibt Dorothea Führe das französische Wirken in Berlin. Allerdings wird die Frage der Wirkungen, nicht zuletzt der längerfristigen, vernachlässigt. Einerseits: Was blieb? Wie erinnerten sich die Berliner an die Franzosen? Und andererseits: Was bedeutete eigentlich Berlin für die Franzosen, wie also verliefen die Debatten in den Pariser Ministerien oder in der französischen Öffentlichkeit? Wären solche Fragen einbezogen worden, wäre das über Strecken gut geschriebene Buch weit über die Lokalgeschichte hinaus der Aufmerksamkeit sicher gewesen.

So verdienstvoll die Arbeit ist, so führt sie letztlich indessen deutlich vor Augen, dass wesentlich Neues zur französischen Besatzungspolitik auf der derzeit verfügbaren Quellenbasis nicht mehr zu erwarten ist – vom Lokalkolorid des jeweiligen Untersuchungsrahmes abgesehen. Für die unterschiedlichen zeitlichen Phasen der Besatzungszeit hat die neuere Forschung nahezu alle Felder beleuchtet: die Entnazifizierung, Parteien und Verfassung, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, Kirche und Religion, Schul-, Bildungs- und Universitätspolitik, Sozialpolitik, Presse- und Rundfunkpolitik und die innerfranzösischen Probleme, die auf die Besatzungs- und Deutschlandpolitik zurück wirkten. Nicht zu übersehen ist freilich: Die weitaus meisten Arbeiten widmen sich der französischen Kulturpolitik im besetzten Deutschland. Die Forschung hat alle von den Franzosen besetzten Gebiete in Deutschland und Österreich unter die Lupe genommen, und dank Dorothea Führes Arbeit sind wir nun erfreulicherweise auch darüber unterrichtet, wie die französische Besatzungsmacht in Berlin agierte, welche spezifischen Probleme hier auftauchten, welche Zwangslagen sich ergaben und wie sich die Interaktionen zwischen Franzosen und Berlinern gestalteten. So scheint es mir an der Zeit zu sein, endlich eine Gesamtdarstellung zur französischen Besatzungspolitik nach 1945 zu wagen. Dies ist sicherlich schwierig, weil die Besatzungspolitik – anders als bei den Briten und Amerikanern – von Land zu Land teils erheblich differierte. Aber es ist an der Zeit, den Wurf einer Gesamtdarstellung zu wagen und so die zahlreichen sektoralen und regionalen Untersuchungen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen.

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