A. Hilger u.a. (Hgg.): Sowjetische Militärtribunale

Cover
Titel
Sowjetische Militärtribunale. Band 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941-1953


Herausgeber
Hilger, Andreas; Schmidt, Ute; Wagenlehner, Günther
Reihe
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 17
Erschienen
Köln u.a. 2001: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
441 S.
Preis
€ 41,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Chiari, Militärgeschichtliches Forschungsamt

Obwohl das Leid der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion stets im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik präsent war, ist weithin unbekannt, daß die sowjetische Führung zwischen 1941 und 1955 mehr als 31000 Kriegsgefangene wegen tatsächlich begangener oder behaupteter Kriegsverbrechen und anderer Delikte verurteilen ließ. Mitte der neunziger Jahre wurde im Rahmen eines Forschungsprojekts des Instituts für Archivauswertung (IfA) und des Hannah-Arendt-Instituts mit der Erschließung und elektronischen Erfassung sowjetischer Archivbestände zu diesem Themenkomplex begonnen. Auf diesen Dokumenten aufbauend, vereint der Band acht Beiträge ausgewiesener Spezialisten, die außer den Gerichtsverfahren selbst auch deren rechtliche Grundlagen, die sowjetische Rechtspraxis sowie die Wahrnehmung der Prozesse in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten behandeln.

Im Mittelpunkt steht außerdem die Frage, welche Bedeutung die sowjetische Führung unter Stalin den Prozessen beimaß, und welches außenpolitisches und sicherheitspolitisches Kalkül den Urteilen zugrunde lag. Die Herausgeber verweisen neben tagespolitischen Bezügen der Repatriierungs- und Entschädigungsdiskussion auch auf „gesellschafts- und erfahrungsgeschichtliche Dimensionen“ (S. 8) der Weltkriegsgeschichte, denen der Sammelband Rechnung tragen soll.

In seinem Forschungsüberblick charakterisiert Manfred Zeidler die Dokumentation und historische Aufarbeitung der Prozesse in Deutschland. Nahmen sich unmittelbar nach Kriegsende in den westlichen Besatzungszonen provisorische Einrichtungen bzw. Verbände der Prozesse an, so nahm diese Aufgabe seit März 1950 die „Zentrale Rechtsschutzstelle“ im Bundesjustizministerium wahr. Unter dem Druck der bundesdeutschen Öffentlichkeit wurden die Kriegsgefangenen zum Fall für die Vereinten Nationen. Zusätzliche Dynamik erhielt die Diskussion durch massenhaft durchgeführte Befragungen von Kriegsheimkehrern, die von sowjetischer Willkür und der Rechtlosigkeit in den Lagern berichteten. Nach der Rückkehr des letzten Kriegsgefangenen richtete die Bundesregierung 1957 die „Wissenschaftliche Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte“ ein, deren Ergebnisse lange Jahre die Basis für die bundesdeutsche Forschung bildeten. Sie hatten weitgehend Bestand bis zur Öffnung der Archive nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Friedrich-Christian Schroeder umreißt die Grundzüge des sowjetischen Gerichtssystems, das ganz den Bedürfnissen eines totalitären Staates diente, und behandelt strittige Fragen wie die Bindung der UdSSR an die Haager Landkriegsordnung und das Kriegsvölkerrecht. Neben juristischen Begriffsklärungen („Kriegsverbrechen“) und einschlägigen Bestimmungen des sowjetischen Strafgesetzbuches beschreibt Schroeder spezielle Verfahren wie die seit 1934 geübte Praxis, unliebsame oder verdächtige Personen durch die Verwaltungsentscheidung einer „Besonderen Konferenz“ (OSSO, osoboe soveshchanie), im Volksmund „Fernurteil Moskau“ genannt) bis zu fünf Jahre lang in Lager einzuweisen. Die gegenüber ausländischen Kriegsgefangenen geübte Praxis unterschied sich diesbezüglich in nichts von der Willkür, der auch Millionen von Sowjetbürgern während des Stalinismus ausgesetzt waren.

Das System des sowjetischen GULag beschreibt Andreas Hilger und macht auch auf eindringliche Weise die harten Bedingungen deutlich, unter denen Kriegsgefangene in unterschiedlichen Lagertypen und bei wechselnder Zuständigkeit teils als gefährliche Staatsverbrecher gehalten wurden. Ausblicke auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen ergänzen Schilderungen der Verwaltungsgeschichte der Lager sowie statistisches Material zur Versorgung. Lageralltag und Strafjustiz stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Cordula Wohlmuther. Sie kann auf umfangreiche Personendaten des Hannah-Arendt Instituts zurückgreifen, die Aussagen zu Häufigkeit und Ahndung von Delikten wie Diebstählen oder Gewaltverbrechen ermöglichen.

Wohlmuther zeigt anhand eindrucksvoller Einzelbeispiele den Alltag in einem Mikrokosmos, in dem für die Kriegsgefangenen häufig außer Hunger und mangelnder Versorgung auch der Kampf gegen gewalttätige sowjetische Mithäftlinge zu bestehen war. Daneben wird deutlich, daß die sowjetische Behörden Vergehen und Straftaten deutscher Kriegsgefangener nicht nur willkürlich, sondern häufig auch als „militärische“ oder „Staatsverbrechen“ auslegten. Die Behörden versuchten, die Arbeitsleistung der Häftlinge durch rigorose Strafen zu steigern. Auf Krankheit, Selbstverstümmelung, Sabotage oder Flucht wurde das sowjetische Strafrecht in voller Härte angewendet. Die Befunde von Cordula Wohlmuther stützen die Erkenntnis der Stalinismus-Forschung, daß sprunghafte Entscheidungen vor Ort und die Heterogenität des sowjetischen Herrschaftsapparates mit der Willkür von Führungsentscheidungen in Wechselwirkung traten.

Mit einem Aufsatz über Entstehung und Wirkung eines Dekrets des Obersten Sowjets vom April 1943 (der sog. „Ukaz 43“) werfen Andreas Hilger, Nikita Petrov und Günther Wagenlehner ein weiteres Schlaglicht auf die sowjetische Rechtsprechung während des Krieges. Der bis heute im Westen wenig bekannte „Ukaz 43“ enthielt eine allgemeine Strafregelung für Verbrechen der Feinde der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg und rechtfertigte die Verhängung von Urteilen, die von der Schwere der Straftat entkoppelt waren. Etwa zwei Drittel der Urteile gegen deutsche Kriegsgefangene kamen unter Berufung auf das Dekret zustande.

Unter dem Thema „Faustpfand im Kalten Krieg“ analysiert Andreas Hilger die Wechselwirkung zwischen sowjetischer Außenpolitik und der Repatriierung deutscher Kriegsgefangener. Hilger zeigt zum einen, daß neben den Willen der sowjetischen Führung, Kriegs- und Gewaltverbrechen zu ahnden, bei der Frage der Rückführung militärischen Fachpersonals zunehmend Ängste vor einer „Unterstützung“ der westdeutschen Wiederbewaffnung traten. Der sowjetische Umgang mit der Repatriierungsfrage wies zum anderen zahlreiche irrationale Elemente auf. Die Problematik ermöglichte es der Führung der UdSSR, nach altbekanntem Muster gegen Spione und äußere „Feinde“, in Wahrheit aber gegen Gegner im Innern der Sowjetunion, vorzugehen. Ute Schmidt untersucht die Gruppe von 746 Kriegsgefangenen, die 1955 der Bundesrepublik und der DDR zur weiteren Strafverfolgung übergeben wurden, ohne zuvor wie die übrigen Repatriierten amnestiert worden zu sein. Schmidt kann für einen Großteil der Heimkehrer die sowjetischen Anklagepunkte (vor allem Beteiligung an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) nachweisen. Die bundesrepublikanischen Behörden entließen die „Nichtamnestierten“ fast ausnahmslos nach Hause, erst in den sechziger Jahren wurden einige Fälle neu aufgerollt. Auch die DDR-Behörden sahen sich aufgrund fehlender Prozeßunterlagen außerstande, die „Nichtamnestierten“ vor Gericht zu bringen – und schoben sie größtenteils nach Westdeutschland ab.

Den Abschluß des Bandes bildet ein Essay von Leonid Kopalin über die juristischen Voraussetzungen und den Verlauf der Rehabilitierung deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion und der Russischen Föderation.

„Sowjetische Militärtribunale“ leistet historische Grundlagenarbeit. Die Beiträge beeindrucken durch ihre Quellendichte. Die Herausgeber werden durch Perspektivenreichtum und unterschiedliche Zugangsweisen dem komplexen Thema gerecht und binden strukturelle Voraussetzungen des sowjetischen Systems und seiner politischen Justiz ebenso in die Betrachtung ein wie die Führung und Gesellschaft der Bundesrepublik und der DDR. Den Herausgebern gelingt es auf schlüssige Weise zu zeigen, wie die Behandlung der Kriegsgefangenen eingebunden war in das spätstalinistische Herrschaftssystem. Zwangsläufig bleiben einige Aspekte ausgeklammert: So geht in der detaillierten, stets um wissenschaftliche Sachlichkeit bemühten Spezialstudie mitunter der Blick auf den brutalen Vernichtungskrieg verloren, den die Wehrmacht in der UdSSR führte. Das unmenschliche Schicksal Hundertausender sowjetischer Kriegsgefangener während des ersten Kriegswinters und die verheerenden Zerstörungen der Kriegszeit relativieren nicht die Härte des Lebens in sowjetischen Lagern, sollten aber als Ausgangspunkt bei der Erklärung sowjetischer Reaktionen der Kriegszeit stärker mit berücksichtigt werden.

Die von den Herausgebern eingeforderte Darstellung des „Krieges des kleinen Mannes“, der nach 1945 in den Lagern seine Fortsetzung fand, steht im vorliegenden Sammelband eher am Rande. Diesen wichtigen Aspekt wird hoffentlich der Band 2 des Werkes („Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945-1955/57“, erscheint 2002) weiter verdichten. Eine ausführliche Bibliographie, ein Register sowie professionelles Lektorat lassen bezüglich der Benutzbarkeit keine Wünsche offen, allerdings hat sich dem Rezensenten die Logik der Anordnung der Beiträge im Band nicht immer erschlossen. Insgesamt ist den Herausgebern zu einem schlüssigen, wesentlichen Beitrag zur Dokumentation deutscher Zeitgeschichte zu gratulieren.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension