H.-P. Schmiedebach; K.-H. Spieß (Hg.): Studentisches Aufbegehren in der frühen DDR

Cover
Titel
Studentisches Aufbegehren in der frühen DDR. Der Widerstand gegen die Umwandlung der Greifswalder Medizinischen Fakultät in eine Militärmedizinische Ausbildungsstätte im Jahr 1955


Herausgeber
Schmiedebach, Heinz-Peter; Spieß, Karl-Heinz
Reihe
Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald 2
Erschienen
Stuttgart 2001: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
265 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Schwoch, Rebecca

Im April 1995 fand in der Aula der Greifswalder Universität eine Gedenkveranstaltung statt, die sich mit dem Widerstand gegen die Umwandlung der Greifswalder Medizinischen Fakultät in eine Militärmedizinische Ausbildungsstätte im Jahr 1955 beschäftigte. Dazu waren Wissenschaftler sowie Zeitzeugen als Diskutanten geladen worden. Das Ergebnis dieser Tagung ist – sechs Jahre später – als Sammelband erschienen, herausgegeben von den beiden Veranstaltern Heinz-Peter Schmiedebach und Karl-Heinz Spiess.

Dieses Buch enthält neben historischen Beiträgen (Werner Müller, Mechthild Günther, Klaus-Dieter Müller, Udo Schagen), Zeitzeugenberichten (Horst Erdmann, Klaus Rintelen, Norbert Hartmann, Christoph Melzer, Eberhard Glöckner, Christian Baumann), und Zusammenstellungen von Dokumenten (Peter Wunderlich, Udo Schagen, Dirk Alvermann), eine nachträgliche Erklärung der ehemaligen Privatsekretärin des damaligen Rektors der Universität, Brigitte Schreder, sowie eine Chronologie des Ablaufs des Studentenstreiks und der parallel verlaufenden Ereignisse (Udo Schagen). Es stellt die erste umfangreiche Darstellung der Greifswalder Ereignisse des Jahres 1955 dar.

Was ist damals geschehen? Am 23.3.1955 wurden die Medizinische Fakultät und ihre StudentInnen von einem Ministerratsbeschluss – der bis heute nicht gefunden werden konnte, wenn er denn in einer schriftlichen Form überhaupt existierte – darüber informiert, dass das Medizinstudium ab 1. September desselben Jahres nur noch für Studenten – ob auch Studentinnen gemeint waren, entzieht sich der Kenntnis der Rezensentin – der Kasernierten Volkspolizei (KVP) möglich sein sollte, also ärztliche Berufssoldaten ausgebildet werden sollten. Aus Protest gegen diese Entscheidung boykottierten die MedizinstudentInnen am 30. März teilweise ihre Vorlesungen. Abends fanden in der Aula der Universität eine FDJ-Versammlung sowie in einer anderen Räumlichkeit eine Sitzung der Universitätsspitze und der Professoren der Medizinischen Fakultät mit Staatssekretär Harig statt.

Dort unterrichtete Harig die Hochschule offiziell von dem Beschluss der DDR-Regierung. Wie schon angedeutet, war der Universität eine schriftliche Unterrichtung offensichtlich nie zugegangen. Die Fakultät wurde zu einer zustimmenden Erklärung gezwungen. Zur gleichen Zeit kam es in der Aula zu einer brenzligen Situation, bei der 211 StudentInnen festgenommen und in die Strafvollzugsanstalt gesperrt wurden. Die grosse Mehrzahl der Festgenommenen wurde nach 24 Stunden wieder freigelassen, doch die Staatssicherheit suchte nach Raedelsführern, die „vermeintlich im Auftrag westlicher Geheimdienste tätig waren“. (Schagen, 59) Für sechs Medizinstudenten hatte die Beteiligung am Greifswalder Streik „ungeahnt böse Folgen“ (K-D Mueller, 50): Sie erhielten langjährige Zuchthaus- und Gefängnisstrafen, wurden jedoch nicht primär wegen des Greifswalder StudentInnenstreiks so brutal verurteilt, sondern weil ihnen Spionage bzw. Mitwisserschaft und Begünstigung nachgewiesen worden war. (Schagen, 92)

Wie Schmiedebach und Spiess im Vorwort anmerken, ging es sowohl „um einen Regierungsbeschluss und um die Art und Weise der Umsetzung dieses Beschlusses" als auch "um den Protest und die Protestformen gegen diese Politik der Mächtigen der DDR.“ (XI)
Werner Müller und Mechthild Günther leisten notwendige und interessante Einführungsartikel mit Informationen über die Fünfziger Jahre in der DDR, in denen die Stalinisierung von Partei und Staat, „Säuberungen“, Verfolgungen und ideologische Indoktrinationen, Kirchenkampf, Kampf gegen Einflüsse westlicher Kultur und Antiamerikanismus das Bild der DDR bestimmten. Gleichzeitig wird die wichtige Rolle der Hochschulen als Bildungsstätten fuer eine neue „sozialistische“ Elite herausgearbeitet.

Im November 1949 war in Greifswald die Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) gegründet worden, „die mit ihrem überdurchschnittlichen Anteil an SED-Mitgliedern in den Folgejahren die Rekrutierung motivierter SED-Kader für Leitungsfunktionen auf den Weg brachte“. Das erklärt auch, dass die Greifswalder FDJ – allerdings bereits 1950 – in einem offenen Brief das „schwach empfundene Bekenntnis der Professoren zur gegenwärtigen politischen Hauptfrage der Erhaltung des Weltfriedens und der Friedenspolitik der Sowjetunion“ angemahnt hatte. (Guenther, 28) Tatsächlich scheint vor allem der Rektor der Universität, Prof. Gerhard Katsch, eine besondere Rolle bei dem Bemühen um die Beibehaltung eines zivilen Medizinstudienganges in Greifswald gespielt zu haben. (Schagen, 90-93)

Klaus-Dieter Müller („Opposition und Widerstand an den Hochschulen der SBZ/DDR bis zum Mauerbau – das Beispiel Greifswald“) und Udo Schagen („Widerstand gegen Partei- und Regierungsbeschluss – der Greifswalder Medizinstudentenstreik 1955. Ein Beitrag zur Historiographie des Kalten Krieges“) analysieren den besagten Streik in seinem historischen Kontext. Hier erst werden die Schwierigkeiten, die das Nachvollziehen jener Ereignisse in seiner Ganzheit behindern, deutlich. Während Müller sich in bezug auf den Verlauf, den politischen Hintergrund und die Motive der DDR-Regierung für den Ministerratsbeschluss hauptsächlich auf die Zeitzeugenberichte stützt, eine nachvollziehbare Begründung für die langjährigen Haftstrafen der sechs Studenten jedoch nicht sauber von den eigentlichen Geschehnissen nach dem Regierungsbeschluss trennt, gelingt es Schagen in seiner ausserordentlich gut recherchierten Abhandlung, mit Hilfe von Archivgut, den Hintergrund für die Massnahmen zur Umwandlung der Greifswalder Medizinischen Fakultät in eine rein Militärmedizinische Fakultät plausibel zu machen.

Es wird klar, dass damit der zivile Charakter der Fakultät beseitigt wurde. In einem Protokoll der Fakultätssitzung der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät vom April 1955 heisst es: „ [...] dass die Ursache eigentlich in der Unterzeichnung der Pariser Verträge zu sehen ist. In der Volkskammersitzung wurde die Regierung beauftragt, Maßnahmen zum Schutze der DDR zu ergreifen, und zu diesen Maßnahmen gehört die Ausbildung der Ärzte für die Volkspolizei.“ (Protokoll, 217) Neben dem Beitritt der DDR zum Warschauer Pakt im Mai 1955 sollte nun alles der Sicherheit untergeordnet werden, „um für alle Zeiten die Wiederholung eines erfolgreichen ´Einfalls fremder Mächte´ auszuschließen“. (Schagen, 60)

Die unterschiedlichen Herangehensweisen von K.-D. Müller und Schagen geben den LeserInnen auf der einen Seite die Möglichkeit, die Relevanz unterschiedlicher Quellentypen zu gewichten und selbst zu urteilen. Andererseits lässt Schagen, der Müller detailliert kritisiert (umgekehrt ist es nicht so) – zumindest bei der Rezensentin die Frage entstehen, warum die Tagung von 1995 oder wenigstens die sechs Jahre bis zum Erscheinen dieses Buches nicht dafür genutzt worden sind, offensichtliche Unstimmigkeiten in konstruktiven Gesprächen und Diskussionen beiseite zu räumen.

Diesem Sammelband hätte es besser getan, der interessierten Öffentlichkeit eine abgerundetere Darstellung und Analyse auch dadurch zu bieten, dass die einzelnen Beiträge – vor allem die K.-D. Müllers und Schagens – besser aufeinander abgestimmt worden wären. Nichts destotrotz lässt eine Gesamtsicht auf die Beiträge das Urteil zu, dass ein interessantes und an keiner Stelle langweiliges Buch gelungen ist, das ein Beispiel studentischen Aufbegehrens in der frühen DDR in Erinnerung ruft. Die Greifswalder Ereignisse, die „vor dem Hintergrund des Kalten Krieges [...], der Wiederbewaffnung und Aufrüstung in Ost und West“ (K-D Mueller, 31) betrachtet werden müssen, zeigen aber auch, wie schwach die Herrschaft der SED doch eigentlich war, wenn der DDR-Staat so überreagierte. Musste doch das Volkspolizei-Kreisamt Greifswald sogar die Alarmstufe III auslösen, um „211 herumlungernde Studenten“ (Bericht, 163) in Schach zu halten.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension